| # taz.de -- Grafik des 16. Jahrhunderts in Bremen: Das Kopfkino der Neuzeit | |
| > Die Bremer Kunsthalle zeigt eine Ausstellung mit hochkarätiger, wenig | |
| > erforschter italienischer Renaissance-Grafik. | |
| Bild: Der "Schreihals" vom Anonymen Bologneser oder Römischen Kupferstecher. | |
| BREMEN taz | Es ist „das Herzstück“ ihrer Sammlung. Und doch haben sie | |
| gerade hier im Kupferstichkabinett der Bremer Kunsthalle bislang „kein | |
| rechte Übersicht“ über die gehorteten Schätze, wie selbst Dorothee Hansen, | |
| die stellvertretende Direktorin des Hauses, zugeben muss. Gut 220.000 Werke | |
| aus sieben Jahrhunderten werden es wohl sein, die da seit der Gründung des | |
| Kunstvereins zusammenkamen, also seit 1823. | |
| Manche dieser Holz- und Kupferstiche, Radierungen und Zeichnungen liegen, | |
| fein säuberlich gestapelt und mit beschrifteten Passepartouts versehen, | |
| zumindest in großen Kästen. Andere wiederum, noch ohne Papierrahmen, weiter | |
| hinten im Depot, in der „Zweiten Garnitur“, wie Hansen das nennt. Viele | |
| dieser Werke sind schon seit dem 19. Jahrhundert hier. Und trotzdem immer | |
| noch mangelhaft erschlossen. Ganz zu schweigen davon, dass es schon eine | |
| Art Katalog gäbe. | |
| Das soll sich jetzt ändern. Denn gerade startet in der Kunsthalle Bremen | |
| ein neues, großes Digitalisierungsprojekt. Ihr Bestand an Gemälden und | |
| Skulpturen ist schon heute im Netz zu sehen. Nun sollen die Archive des | |
| Kupferstichkabinetts folgen. In Hamburg sind sie da schon etwas weiter: Die | |
| Digitalisierung des dortigen Kupferstichkabinetts – wir reden hier von über | |
| 120.000 gesammelten Werken – begann schon 2012. Es ist ein Projekt, das „in | |
| seinem Umfang in Deutschland bislang einzigartig ist“, heißt es bei der | |
| Hamburger Kunsthalle. Am Ende soll der gesamte Bestand an Zeichnungen und | |
| Druckgrafik online und barrierefrei zugänglich sein. Und so der | |
| wissenschaftlichen Recherche, der interessierten Öffentlichkeit völlig neue | |
| Optionen eröffnen. | |
| Bis es soweit sein wird, werden allerdings noch einige Jahre vergehen. | |
| Solange wird also auch in Bremen immer nur ein kleiner Teil der Sammlung | |
| irgendwie zu sehen sein. So wie jetzt gerade. „Den Teufel im Leib“ ist der | |
| Titel einer Ausstellung, die bislang kaum erforschte italienische | |
| Renaissancegrafik zeigt. | |
| Über 1.000 Werke hat Kai Hohenfeld, der Kurator der Schau, dafür in den | |
| Beständen der Bremer Kunsthalle gesichtet, in der ersten wie in der zweiten | |
| Garnitur. Etwa 300 davon standen am Ende auf seiner Longlist, 49 sind nun | |
| zu sehen, 29 Künstler aus Hochrenaissance, Manierismus und einsetzendem | |
| Barock. Und das auch nur für kurze Zeit. Zu lichtempfindlich sind die | |
| wertvollen Grafiken, selbst im Kupferstichkabinett, wo der Besucher, fernab | |
| des Tageslichts, an dunkler Holzvertäfelung entlang wandelt, unterhalb | |
| einer Holzveranda, hinter der sich rundherum eine alte Bibliothek öffnet, | |
| voll mit lauter ledergebundenen, meist etwas abgegriffenen Büchern. | |
| „Affekt und Bewegung in der italienischen Grafik des 16. Jahrhunderts“ ist | |
| der Untertitel der Ausstellung, und er klingt eher nach einer Dissertation. | |
| Aber Hohenfeld hat ja auch erst kürzlich über die Madonnen des gotischen | |
| Bildhauers Giovanni Pisano promoviert, der so um 1300 herum lebte. Lässt | |
| man sich erst mal auf die Kunst hier ein, wird sie ungemein sinnlich, | |
| manchmal geradezu plastisch. Man kann ihn fast schreien hören, den | |
| „Schreihals“. | |
| Und genau darum geht es in der Ausstellung, denn gerade in der Renaissance | |
| steht die Grafik im Wettstreit mit anderen Kunstgattungen: Sie will als | |
| echte Kunst und nicht mehr nur als Handwerk ernst genommen werden. Und wo | |
| vorher die Bewegung, die Emotion stets wie eingefroren wirkte, jedenfalls | |
| aber gezügelt, weil alles andere als hässlich und würdelos galt, wurden nun | |
| Gefühle bis zu Raserei und Aggression erst richtig kunst- und salonfähig. | |
| Eine Figur sei „doppelt tot“, wenn sie „weder Bewegung der Seele noch des | |
| Körpers zeigt“, sagte Leonardo da Vinci (1452–1519). Und je komplizierter | |
| die Bewegung, desto besser, war doch gerade das ein Beweis von | |
| Kunstfertigkeit. Wie Schlangen oder Flammen sollten sie sein, die Figuren, | |
| sich drehen und wenden, wie Spiralen, und möglichst allansichtig und | |
| dreidimensional. „Die Bewegung wurde zum neuen Schönheitsideal“, sagt | |
| Hohenfeld. Sie sei ein „Magnet für die Augen“, wie es ein zeitgenössischer | |
| Dichter ausdrückte. | |
| Zweierlei wollten die Künstler erreichen: Ihre eigene Virtuosität zur Schau | |
| stellen, natürlich. Und das Dargestellte für den Betrachter ein bisschen | |
| erlebbar, zumindest aber nachvollziehbar machen. Dieses Kopfkino der frühen | |
| Neuzeit, so dachte man damals noch, würde zugleich karthartisches Jammern | |
| und Schauern auslösen. Na ja, es ging ja meist auch noch um Religion, in | |
| diesen Bildern. | |
| Um den Effekt auf die Spitze zu treiben, nutzten die Künstler handwerkliche | |
| Tricks, wie ein Blick beispielsweise auf „Die Versuchung des heiligen | |
| Antonius“ von Agostino Carracci (1557–1602) zeigt. Die neben dem Bild | |
| bereitliegende Lupe offenbart: Die feinen Linien des Kupferstichs von 1582 | |
| schwellen an und verjüngen sich wieder, was den Eindruck erweckt, als ob | |
| Antonius aus dem Bild falle. Über ihm schwebt Christus ins Bild, ein | |
| bisschen wie Superman, um ihn zu retten, spätestens im Jenseits. | |
| Damals, sagt Hohenfeld, war das noch eine „Entgrenzung des Darstellbaren“. | |
| Denn woher sollten die Künstler im 16. Jahrhundert auch wissen, wie das | |
| genau geht mit dem Fliegen? | |
| ## „Den Teufel im Leib. Affekt und Bewegung in der italienischen Grafik des | |
| 16. Jahrhunderts“: bis zum 23. November, Kunsthalle Bremen | |
| 29 Aug 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Jan Zier | |
| ## TAGS | |
| zeitgenössische Kunst | |
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