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# taz.de -- Sehnsucht nach einer besseren Welt: Einfach mal machen
> Die Zeit ist reif für ein mutiges grün-rotes Comeback. Utopisch? Nein,
> man kann etwas verändern, wenn man erst einmal anfängt, zumindest im
> Kleinen.
Bild: In den zwei bis vier Zugmonaten legen Störche im Durchschnitt 150 bis 30…
Die Schwalben sind in diesem Jahr eher abgeflogen, und zum ersten Mal seit
Menschengedenken haben Störche auf dem Weg nach Süden hier übernachtet.
Sechs große Vögel umkreisten den Kirchturm, saßen auf den Schornsteinen,
den Strommasten, und das halbe Dorf war auf den Beinen, um das Spektakel zu
sehen. Die 200-Seelen-Gemeinde liegt an einem Nebenfluss der Saône, die
wiederum ein Nebenfluss der Rhône ist. Neuerdings stellen wir von Jahr zu
Jahr kleine Veränderungen fest: Das Waschhaus aus dem 18. Jahrhundert
strahlt weiß und ist überdacht, abends sitzen dort manchmal ein paar
Halbwüchsige und zeigen sich Instagram-Clips.
Die Jüngeren machen das auf der neuen Schaukel an der Dorfwiese. Es gibt
keine Bar, nur einen Bioladen. „Das ist samstags ein Treffpunkt, aber vor
allem für finanziell Bessergestellte“, sagt der Bürgermeister: „Die meist…
fahren 20 Kilometer zum Hypermarché, zu Aldi, zu Lidl.“ In diesem Sommer
hat er zwei Konzerte in der Kirche veranstaltet. Vivaldi auf dem Xylophon –
warum nicht. „Da kommen manchmal sogar Leute, die man jahrelang nicht
gesehen hat“, sagt er.
[1][Der Wandel] ist nicht spektakulär, aber spürbarer als in den beiden
Nachbardörfern. Und das hat mit den Zugezogenen zu tun. In den siebziger
Jahren sind einige Studenten, vor allem aus Straßburg, in die Gegend
gezogen. Der Bürgermeister war einer von ihnen, nach 1968 gab es diesen Zug
aufs Land. Keine gute Arbeit in der Stadt, Zivilisationsmüdigkeit und
politische Resignation. „Vor allem waren es auch die billigen Wohnungen“,
sagt der Bürgermeister – und tritt ein paar Hornissen tot, die sich über
die Pflaumen am Boden hermachen. Im Nebenberuf ist er Imker.
Bis zu seiner Pensionierung war er 35 Kilometer zur Berufsschule im
Nachbarkanton gependelt. Seit sieben Jahren sitzt er die halbe Woche in der
Mairie, einem stattlichen klassizistischen Bau – wie viele der Rathäuser in
der französischen Provinz, stolzes Erbgut der Revolution. In diesem
angeblich so zentralisierten Land gibt es dreimal so viele Gemeinden wie in
Deutschland, für nur zwei Drittel der Bürger: Orte der Beharrung, des
bornierten Lokalgeistes, Schlafdörfer. Oder eben: Räume für etwas Neues.
Autorität hilft, immer noch, sagt der Bürgermeister. In vielem habe er
freie Hand. Aber viele interessieren sich nicht für das, was um sie herum
passiert. Nicht einmal, wenn das Dorf ihnen entgegenkommt. Neben dem
Wertstoffhof hat der Gemeinderat eine kleine Plantage angelegt. Jedes Mal,
wenn ein neues Kind geboren wird, pflanzen sie dort einen Obstbaum, der mit
dem Kind wächst. Auf kleinen Messingschildern stehen die Namen der neuen
Gemeindemitglieder: ein Pflaumenbaum für Ayden, ein Apfelbaum für Louise.
So entsteht ein Wäldchen der nächsten Generation. „Aber es gibt eben auch
diejenigen, die nicht einmal kommen, wenn wir einen Kirschbaum für ihre
Tochter pflanzen, auch nicht mit einer persönlichen Einladung.“
Sind das dieselben, die den Plastikfuhrpark der Kinder mit grauen Mauern
aus Porenbetonstein umgeben? Der Bürgermeister zuckt mit den Achseln: Wenn
er eins gelernt habe, als Lehrer und erst recht als Bürgermeister, dann
dass es besser sei, diejenigen zu fördern, die etwas wollen, als ständig
die Indifferenten anzutreiben und die Geschmacklosen zu kritisieren.
Arbeit und Wohnen, das ist das größte Problem. Hier wie überall, jetzt wie
schon in den Siebzigern. Immerhin besitzt das Dorf sieben kleine Wohnungen.
„Am liebsten vermiete ich an junge Frauen mit einem Kind, die keine Arbeit
haben, oder sich in der Stadt keine Wohnung leisten können“, sagt er. Zwei
Amtsperioden hat der Bürgermeister hinter sich. Jetzt will er sich gern um
junge Familien kümmern, ihnen hier eine Heimat schaffen, ohne dass sie
dreißig, vierzig Kilometer zur Arbeit fahren müssen. Das Pendeln kostet
doch Diesel und Zeit, Zeit, in der man einen Gemüsegarten anlegen könnte
oder das Dorfleben „vitalisieren“.
## Die Routen der Störche und Friedrich Engels
„Ich möchte ein Grundstück im Dorf kaufen, dort eine Leichtbauhalle
hinstellen und im Internet inserieren: Wer hier etwas aufbauen will, ist
herzlich willkommen, für ein paar Jahre kostenfrei“, erzählt er. Also doch
noch eine weitere Amtszeit? Da hüllt er sich in vielsagendes Schweigen – so
viel Politiker ist er also geworden. Inzwischen ist Fab, der eher
anarchistische Maler, Schrauber und Musiker, dazugekommen. „Warum
eigentlich vitalisieren?“ fragt er etwas spitz: „Brauchen wir das?“
An diesem friedvollen Sommerabend vertiefen wir das nicht. Stattdessen
reden wir über die neuen Routen der Störche. Der Klimawandel, der damit zu
tun hat, stellt uns vor die Aufgabe, das [2][Verhältnis von Stadt und Land]
neu zu organisieren. [3][Friedrich Engels] hat darüber ein paar gute Seiten
geschrieben: über die „Aufhebung des Gegensatzes von Stadt und Land“, die
am Ende des Kapitalismus nicht nur möglich sei, sondern „eine direkte
Notwendigkeit der industriellen Produktion selbst“.
Das war vor 150 Jahren, der Industrialismus stand am Anfang, die Städte
stanken, auf dem Lande herrschten die Besitzenden, und die CO2-Kurve war
noch am Anfang. Heute könnten viele ihre Arbeit von hier aus erledigen –
wegen der steigenden Produktivität in weniger Zeit, so dass mehr Stunden
für Gärten, Musik, Kinder oder was auch immer bleibt.
Die Zeit ist reif für einen richtig großen Umbau, ein mutiges grünes und
rotes Comeback, gar für eine Renaissance des anarchistischen „Small is
beautiful“ des britischen Ökonomen Ernst F. Schumacher. Eigentlich. Im
kleinen Alltag dieses Dorfes zeigt sich, wie sich die Dinge bewegen lassen,
wenn es ein paar Leute gibt, die nicht nur wollen, sondern machen. Das kam
uns plausibel vor – trotz allem, was wir wussten über Kapitalismus,
Medienmogule, [4][die Bullshitjobs]. Es kam uns plausibel vor – an diesem
letzten Abend der Sommerfrische, während die Schwalbengeschwader über der
Kuhwiese den Aufbruch probten.
4 Sep 2025
## LINKS
[1] /Das-Leben-im-Dorf/!5658773
[2] /Soziologe-ueber-Stadt-Land-Gegensatz/!6043527
[3] /200-Geburtstag-von-Friedrich-Engels/!5729535
[4] /Bullshit-Jobs/!5709437
## AUTOREN
Mathias Greffrath
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