# taz.de -- 20 Jahre Hurrikan Katrina: New Orleans allein gelassen | |
> Im Spätsommer 2005 verwüstete der Hurrikan „Katrina“ die Metropole im | |
> Süden der USA. Die Politik versagte, 1.800 Menschen ertranken oder | |
> verdursteten. | |
Bild: Der 17-jährige Kenny Adams weint vor dem Football-Stadion Superdome übe… | |
New York taz | Am 29. August 2005 saß ich wie viele Millionen Amerikaner | |
vor dem Fernseher und schaute wie in Trance CNN, während ein | |
Jahrhundertsturm auf die amerikanische Golfküste und die Stadt New Orleans | |
zuraste. Es waren atemlose Stunden, doch am Morgen des 30. schien das | |
Schlimmste ausgestanden. Hurrikan „Katrina“ hatte zwar Küstenorte wie | |
Biloxi, Gulfport und Bay St. Louis zerstört, doch als der Sturm die | |
Metropole New Orleans erreichte, in der noch immer mehrere Hunderttausend | |
Menschen festsaßen, war er so schwach, dass er keine massiven Zerstörungen | |
mehr anrichtete. | |
Doch im weiteren Verlauf der Woche schlug die Erleichterung zuerst in | |
Horror, dann in Fassungslosigkeit und Zorn und schließlich in Verzweiflung | |
um. Jeder, der damals die Ereignisse bewusst verfolgte, erinnert sich | |
daran, wie in der Stadt an drei Stellen die Dämme brachen und das Wasser | |
vom Lake Pontchartrain her in die Stadt lief. Zuerst überfluteten die | |
Stadtviertel Lower Ninth Ward, das später zum Symbol der Katastrophe wurde, | |
St. Bernhard Parish und New Orleans East, alles vorwiegend arme und | |
Schwarze Wohnbezirke. | |
Hilflose Menschen standen auf den Dächern ihrer Häuser, auf die sie „HILFE�… | |
gemalt hatten, und winkten verzweifelt mit Handtüchern und Bettlaken nach | |
Hubschraubern, die nicht kamen. [1][Im Superdome, dem Footballstadion der | |
Stadt], in dem alle, die es nicht aus der Stadt geschafft hatten, Zuflucht | |
gefunden hatten, wurden die Zustände von Stunde zu Stunde grauenhafter. | |
Medizinische Versorgung blieb aus, die hygienischen Zustände | |
verschlimmerten sich rapide, am Ende gab es weder Lebensmittel noch | |
Trinkwasser. | |
## Nachrichtenthema Nummer eins | |
Spätestens am zweiten Tag, nachdem der Sturm durch die Stadt gefegt war, | |
wurde New Orleans zum weltweiten Nachrichtenthema Nummer eins. Nicht, weil | |
wie praktisch in jedem Jahr, ein tropischer Wirbelsturm am Golf von Mexiko | |
Verwüstungen angerichtet hatte. Sondern wegen des Leides der Menschen, die | |
völlig sich selbst überlassen schienen. Es kamen keine Hilfstruppen der | |
Katastrophenbehörde Fema und kein Militär. Die Menschen ertranken, | |
verdursteten oder starben in Krankenhäusern und Altersheimen, in denen es | |
weder Strom noch Wasser gab und das medizinische Personal Entscheidungen | |
treffen musste, die man keinem Menschen wünschen möchte. | |
An jenem zweiten Tag erhielt ich Anrufe von mehreren deutschen Zeitungen, | |
darunter der taz, ich solle sofort nach New Orleans aufbrechen. Ich schmiss | |
das Nötigste in eine Tasche, packte meinen Laptop und sprang in ein Taxi | |
zum Flughafen. Unterwegs rief ich das Foreign Press Center an, einen | |
Informationsdienst des US-Außenministeriums für Auslandskorrespondenten, in | |
der Hoffnung, man könne mir sagen, welche Flughäfen in der Region überhaupt | |
noch in Betrieb seien und wo es noch Strom und Benzin gebe. | |
Die Antwort verriet vieles darüber, was man in den folgenden Wochen und | |
Monaten über diese vollkommen vermeidbare Katastrophe erfahren würde. | |
„Keine Ahnung“, hieß es. „Wir vertrauen darauf, dass ihr uns das von dort | |
berichtet.“ | |
## 1.800 Menschen ums Leben gekommen | |
Das Telefonat nahm ein Interview vorweg, das am Morgen des 2. September die | |
CNN-Reporterin Soledad O’Brien mit dem Fema-Direktor, Michael Brown, | |
führte. Darin gab Brown zu, er habe gerade erst davon gehört, dass im | |
Messezentrum von New Orleans 50.000 Menschen ohne Versorgung festsäßen. CNN | |
und andere Medien hatten schon seit zwei Tagen von der Lage im Messezentrum | |
berichtet, wo alte und gebrechliche Menschen, in ihren Rollstühlen sitzend, | |
jämmerlich gestorben waren und nun, notdürftig mit Zeitungspapier bedeckt, | |
in der Hitze standen. „Wie kann es sein“, fragte O’Brien, „dass meine | |
23-jährige Assistentin bessere Informationen hat als Sie“? | |
Die Gleichgültigkeit der Bundesbehörden im Angesicht der humanitären | |
Katastrophe auf den Straßen von New Orleans, die in diesem Interview zum | |
Ausdruck kam, endete erst, als dem Bürgermeister der Stadt, Ray Nagin, in | |
einem Radiointerview der Kragen platzte. „Ich möchte keine | |
Pressekonferenzen von Politikern mehr sehen. Ich möchte nichts mehr von | |
40.000 Mann hören, die angeblich unterwegs sind. Hier ist niemand. Die | |
Leute verrecken auf der Straße. Ich brauche Evakuierungshubschrauber und | |
500 Fahrzeuge und zwar sofort.“ | |
Am nächsten Tag kamen die Truppen in New Orleans an. Der Superdome und das | |
Messezentrum wurden evakuiert und die Menschen wurden versorgt. Nachdem es | |
tagelang nur Rettungen durch Nachbarn gegeben hatte, begann endlich eine | |
systematische Such- und Bergungsaktion in den überfluteten, zerstörten | |
Straßen. Doch für 1.800 Ertrunkene oder Verdurstete kam jede Hilfe zu spät. | |
## Situation, die an Kriegszustand erinnerte | |
Ich werde nie die Stimmung in der Stadt vergessen, die noch immer zu drei | |
Viertel unter Wasser stand. Die unerträglich schwüle Hitze, der Gestank des | |
Brackwassers, in dem noch immer Leichen schwammen, das Brummen der | |
Hubschrauber, das den Eindruck einer Stadt im Kriegszustand verstärkte und | |
vor allem die tiefe Verzweiflung der Menschen, die alles verloren hatten | |
und oft keinen Grund mehr zum Weiterleben sahen. | |
Das Bild des untergegangenen New Orleans, eine der historisch und kulturell | |
bedeutsamsten Städte des Landes, erinnerte an Tableaus von Goya oder Bosch. | |
Es bleibt in der kollektiven Erinnerung der USA als Symbol für ein | |
Staatsversagen, wie es das Land, das sich brüstet, alles schaffen zu | |
können, was es anpackt, noch nie erlebt hatte. | |
## Eine Katastrophe, die vermeidbar gewesen wäre | |
Doch das Versagen hatte schon Jahre vor „Katrina“ begonnen. Es war unter | |
Ingenieuren bekannt, dass das System an Dämmen und Deichen, dass die Stadt | |
im Mississippi-Delta, die deutlich unter dem Meeresspiegel liegt, | |
unzureichend sei. Die Computersimulation eines schwächeren Sturmes als | |
„Katrina“ hatte eine Flutkatastrophe vorhergesagt. Politiker auf allen | |
Ebenen wussten davon. Mehr noch – die Katastrophenschutzbehörde Fema und | |
Präsident George Bush wurden in den Tagen vor „Katrina“ informiert, dass | |
die Dämme vermutlich überspült werden würden. | |
Doch selbst als das Wasser schon in den Straßen stand, wurde „Katrina“ | |
nicht ernst genommen. „Niemand in der Regierung begriff, was es bedeutet, | |
wenn eine Stadt zu 80 Prozent unter Wasser steht“, sagte später der | |
Historiker Doug Brinkley. George Bush hielt in Kalifornien ein Rede, in der | |
er seine Erfolge in Irak bewarb. Sein Vizepräsident Dick Cheney war in | |
Wyoming zum Angeln. Außenministerin Condoleeza Rice wurde dabei gesehen, | |
wie sie in New York shoppen ging und abends ein Musical besuchte. Und bei | |
Fema-Direktor Michael Brown kam seine ganze Inkompetenz zum Vorschein. | |
Brown war vor seiner Benennung ein Lobbyist der Ölindustrie und wurde von | |
Präsident Bush aus Gefälligkeit auf einen Posten gehoben, den dieser für | |
unwichtig hielt. | |
Michael Chertoff, Direktor der Heimatschutzbehörde, brauchte derweil vier | |
Tage, um Hurrikan „Katrina“ zu einem Notfall von nationaler Tragweite zu | |
ernennen und somit die entsprechenden Ressourcen zu mobilisieren. In | |
Louisiana stritten sich derweil der Bürgermeister und die Gouverneurin | |
darüber, wer Befehlsgewalt über die Nationalgarde habe. | |
## „Arroganz der Macht“ | |
Die Gründe für die Gleichgültigkeit, die Apathie und die Empathielosigkeit | |
der Politik auszumachen, war nicht schwer. Der große Bürgerrechtler Harry | |
Belafonte sprach von „der Arroganz der Macht“, die damit zu tun habe, dass | |
die betroffenen Menschen „ökonomisch und rassisch“ irrelevant waren. New | |
Orleans wurde vor „Katrina“ zu 67 Prozent von Afroamerikanern bewohnt. | |
Gleichzeitig war es die sechstärmste Stadt der USA. | |
Der Zynismus der Mächtigen fand seinen prägnantesten Ausdruck in den Worten | |
von George Bushs Mutter Barbara, als sie in einer Notunterkunft in Texas | |
die durch den Sturm heimatlos gewordenen Menschen besuchte. Für sie, so | |
Bush, sei „Katrina“ doch ein Glücksfall gewesen, gehe es ihnen doch jetzt | |
schon besser als in der Stadt, in der sie seit Generationen verwurzelt | |
gewesen waren. So sah auch die Evakuierungspolitik aus: Die Menschen wurden | |
wahllos über das Land verteilt, Familien wurden auseinandergerissen. Der | |
Autor Michael Henry Dyson sah schmerzliche Parallelen zur Sklaverei. | |
## Vorschau auf die USA unter Donald Trump | |
Im Rückblick kann man nun nicht umhin, „Katrina“ als Vorschau auf das zu | |
betrachten, was sich heute in den USA abspielt. Präsident Donald Trump | |
möchte die Katastrophenschutzbehörde Fema ganz abschaffen und [2][den Bund | |
aus der direkten Verantwortung für die Bürger herausnehmen] – gerade so, | |
wie er es mit dem Abbau oder der Aushöhlung beinahe aller Bundesbehörden | |
versucht. Der Zynismus und die Gleichgültigkeit gegenüber den Bürgern, | |
insbesondere den Ärmsten und Schwächsten, kommt darin ebenso zum Ausdruck | |
wie in seinem Umverteilungsprogramm von unten nach oben. Noch unverhohlener | |
und schamloser als je zuvor werden die Schwächsten des Landes einfach | |
zurückgelassen. | |
Trotzdem konnte ich aus jenen finsteren Wochen vor 20 Jahren etwas aus New | |
Orleans mitnehmen, das Hoffnung macht. Etwas mehr als eine Woche nach dem | |
Sturm spielte in einem Club in Baton Rouge, rund 80 Kilometer von New | |
Orleans entfernt die Dirty Dozen Brass Band – eine energische Bläsertruppe | |
aus New Orleans, die traditionellen Dixie mit Funk verband. | |
Das Publikum bestand mehrheitlich aus Menschen, die New Orleans hatten | |
verlassen müssen, die nicht wussten, ob sie noch ein Heim haben oder ob | |
ihre Stadt jemals wieder auferstehen würde. Und doch feierten sie an diesem | |
Abend ausgelassen: dass sie überlebt hatten, ihre Tradition und ihre | |
Kultur, die weiterleben würde und das Leben selbst. Es war eine | |
Demonstration jener Resilienz, die Afroamerikaner im Angesicht von | |
unerträglichen Härten über Jahrhunderte eingeübt haben. [3][Manche nennen | |
es den Blues], nicht nur als Musikgattung, sondern als Lebenseinstellung. | |
Es ist eine Einstellung, die heute nützlicher scheint denn je. | |
29 Aug 2025 | |
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## AUTOREN | |
Sebastian Moll | |
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