# taz.de -- 300 Jahre New Orleans: Abends in der Frenchman Street | |
> Trotz des zerstörerischen Hurrikans „Katrina“ im Jahr 2005 und | |
> ausufernder Touristenmassen: New Orleans hat seinen Sound nicht | |
> verloren. | |
Bild: Gov Nicholls, Darry Adams, Robert Harris, die Tornado-Brass-Band mit Gast… | |
Wir treffen uns am Musikerdenkmal am Eingang des Louis-Armstrong-Parks. | |
Der Park liegt am Rande des French Quarter, des historischen Zentrums der | |
Stadt. Hier am sogenannten Congo Place trafen sich die schwarzen Sklaven zu | |
spanischen und französischen Kolonialzeiten, um dort an sonntäglichen | |
Ruhetagen Musik zu spielen, zu tanzen. John McCusker mit weißem Strohhut | |
erwartet uns bereits. Er führt historische Jazztouren durch New Orleans und | |
fährt mit uns zur Liberty Ecke Perdido Street. Im klimatisierten Wagen | |
läuft selbstverständlich Jazz: Louis Armstrong mit der Mississippi River | |
Band. | |
Das Viertel Liberty Ecke Perdido Street besteht heute fast ausschließlich | |
aus neuen Hochhäusern. „Hier in einer Hütte wohnte damals Louis Amstrong, | |
der in New Orleans geboren ist“, erzählt McCusker. „Seine Mutter arbeitete | |
teilweise als Prostituierte. Mit sechs Jahren ging Louis auf die Fisk | |
School for Boys, die einzige Bildungsinstitution, die er je besuchte. Dort | |
lernte er schreiben und lesen und kam wohl erstmals mit Musik näher in | |
Kontakt, die ein wesentlicher Bestandteil der Schule war.“ Mit der | |
Privatisierung der Schulen heute sei neben der zunehmenden Trennung von Arm | |
und Reich, Schwarz und Weiß leider auch der Musikunterricht in der | |
Musikstadt New Orleans zum Luxus geworden. | |
Zwischen den neuen Gebäuden steht die ehemalige Karnofsky-Schneiderei, | |
gleich daneben das Iroquois Theatre, 427 South Rampart Street. „Bei der | |
jüdischen Familie Karnofsky arbeitet der junge Louis Armstrong. Im Funky | |
Butt, einer schmuddeligen Dancehall, die nahe bei Louis’ Wohnung lag, hörte | |
er erstmals die Musik, die später als Jazz bekannt wurde. „Die spasm bands, | |
die durch die Straßen von New Orleans zogen und ihre Späße trieben, | |
beeinflussten Armstrong, dessen spätere Bühnenshows von deren Possen | |
geprägt waren“, sagt McCusker. | |
## Die Großen des Jazz | |
Im Stadtteil Treme steht das Haus von Buddy Bolden. Charles „Buddy“ Bolden | |
(1877–1931) war der erste Jazzmusiker New Orleans’ und er war der erste | |
schwarze Trompeter, der die Chance bekam, Schallplatten aufzunehmen. „Er | |
lehnte ab, aus Angst, jeder könnte sein Musik nachspielen“, sagt | |
McCusker. „Den Ruhm, die erste Jazzschallplatte gemacht zu haben, | |
heimste die Original Dixieland Jazz Band ein – eine weiße Gruppe aus New | |
Orleans.“ | |
Das weiß gestrichene Holzhaus steht leer, die Fenster sind vernagelt. | |
McCusker kämpft für den Erhalt der historischen Orte in seiner Stadt, der | |
Wiege des Jazz. Er war Fotojournalist bei Lokalzeitungen. Er kennt die | |
Fakten und die Musikgeschichte New Orleans. Er hat mehrere Bücher darüber | |
verfasst. Für die Serie „Treme“, die den Alltag in New Orleans nach | |
„Katrina“ beschreibt, war er stadtkundiger Berater. | |
McCusker ist ein großer Fan der Serie: „Genau so war es. Meine Familie und | |
ich wir finden uns darin wieder. Wir haben gelacht und geweint.“.Mit | |
Wendell Pierce, der den Musiker Jean Baptist in der Serie darstellt, ist | |
McCusker zur Schule gegangen. Unser kompetenter Musikführer liebt Jazz und | |
seine Stadt, für die er sich einsetzt. Zum Beispiel im Preservation | |
Resource Center (PRC) für den Erhalt, die Wiederherstellung und | |
Wiederbelebung der historischen Architektur und Stadtviertel. | |
## Eine neue Mittelschicht | |
Mehr als 1.800 Tote forderte der Hurrikan „Katrina“ vor 13 Jahren. New | |
Orleans liegt zum großen Teil unter dem Meeresspiegel, eingequetscht | |
zwischen Mississippi und Lake Pontchartrain. „Als die Dämme brachen, | |
wurden vier Fünftel der Stadt überflutet. Die Regierung unter Präsident | |
Bush hätte die Stadt damals am liebsten absaufen lassen“, sagt McCusker. | |
Inzwischen sind neue Wohnviertel entstanden. 15 Milliarden Dollar sind in | |
den Hochwasserschutz investiert worden, 70 Milliarden Dollar in die | |
Infrastruktur. Vor Katrina hatte New Orleans 455.000 Einwohner, heute sind | |
es wieder 380.000. Viele Menschen sind hierher gezogen. „Viele der alten | |
Bewohner, vor allem Schwarze, die damals entwurzelt wurden, sind nicht | |
wieder zurückgekommen“, sagt McCusker. Eine neue Mittelschicht habe in | |
alten Backsteinlagerhäusern Galerien, Ateliers, Designstudios und | |
Spezialitätengeschäfte eröffnet und eine neue Dynamik ausgelöst. | |
„Wir vom PRC sind der Meinung, dass der Erhalt der Architektur die Seele | |
der Stadt rettet. New Orleans wäre nicht die Stadt, die wir heute lieben, | |
ohne die Erfolge der PRC. Es ist sehr schwierig, diesen Kampf, einen Kampf | |
gegen Bürokratie und finanzstarke Investoren, nicht zu verlieren“, sagt | |
McCusker. Besonders nach „Katrina“ sei es wichtig gewesen, die Stadt mit | |
Vorsicht aufzubauen. „Sonst riskieren wir, ihren Charakter zu zerstören.“ | |
## Overtourism ist hier längst Realität | |
Noch swingt die Hafenstadt, wo der Mississippi breit und braun dahinfließt. | |
Dieses Jahr feiert sie ohne Ende ihr 300-jähriges Jubiläum. Der | |
Festkalender ist lang. Ihre Musik, der Jazz, hat sich durch | |
unterschiedlichste kulturelle Einflüsse entwickelt. New Orleans war | |
spanische und französische Kolonie, katholisch, Tor zur Karibik, | |
Sklavenhaltergesellschaft. Vor allem die afroamerikanischen Rhythmen haben | |
die Musik geprägt, sie mischten sich mit Marschmusik, europäischen | |
Melodien, irischen und schottischen Volksliedern, italienischen Opern. | |
Jedes Jahr zum Karneval, dem Mardi Gras, triumphiert diese Mischung aus | |
schwarzer Musik, Voodoo und katholischem Ausnahmezustand. | |
„Wenn ihr Musik hören wollt, geht in die Frenchman Street. Die Bourbon | |
Street ist versaut von dicken, weißen, konsumsüchtigen Amerikanern.“ | |
McCusker, selbst aus der weißen Mittelschicht mit spanischen Vorfahren, | |
macht keinen Hehl aus seiner „tiefen Abneigung gegen Trump und dessen | |
angepasstes, dumpfes, weißes Amerika.“ | |
Das touristische Herz von New Orleans schlägt im French Quarter. Exakt in | |
der Bourbon Street. Overtourism ist hier längst Realität. Die dicken, | |
weißen, konsumierenden Amerikaner, vor denen McCusker uns warnte, sind | |
aufgekratzt, beschwipst, kontaktfreudig. Fast jeder hat etwas zu trinken, | |
oft Hochprozentiges in der Hand. New Orleans ist die einzige Stadt in den | |
USA, in der Alkohol öffentlich konsumiert werden darf. Vor einer Brass-Band | |
an der Ecke Bourbon und Saint Louis Street tanzt ein Paar, andere wiegen | |
sich im Rhythmus. Überall spielt Musik. Hier die Bras Band, dort das | |
fiedelnde Paar im Hippie-Look, ein einsamer Trommler, Folksänger, eine | |
schwarze Klarinettenspielerin. Das reinste Musik-Babel. | |
## Die Bühne für klassischen Jazz | |
Selbst die Obdachlosen haben neben ihren Hunden zerkratzte Musikinstrumente | |
liegen. Viele Besucher tragen Bauch und kurze Hosen, die schwarze Schöne im | |
kurzen knallgelben Glockenrock und den hochhackigen silbernen Pumps wirkt | |
darunter wie eine Prinzessin. Überhaupt, warum tragen schwarze Männer | |
selten Shorts? | |
Snackbars, Restaurants, Striptease-Bars, Erotik-Shops, Schwulenclubs, | |
Bierkaschemmen, Jazzlokale. Schaufenster, wo noch jetzt der | |
Plastik-Weihnachtsmann neben dem Plastik-Alligator steht. Einladungen zum | |
„Eat Oysters“, „Great Cajun Cuisine“, „love longer“. Kommerzialisie… | |
vulgär, schrill. | |
Trotz Nepp, Kommerz und Massentourismus kann man auch in der Bourbon Street | |
guten Jazz hören, beispielsweise im Fat Catz. Auf jeden Fall aber in der | |
nahe gelegenen Preservation Hall, 726 St. Peter Street. Hier wartet Abend | |
für Abend eine Menschenschlange auf Einlass. Das Gebäude dient seit 1961 | |
als Bühne für klassischen Jazz. Die Musiker spielen auf einer flachen | |
Bretterbühne in schummrigem Licht. Es gibt eine Stammbesetzung von | |
Jazzmusikern, die Preservation Hall Jazz Band. Auch andere bekannte | |
Jazzmusiker treten hier auf. | |
New Orleans swingt. Trotz alledem. Es ist anders als andere amerikanische | |
Städte. Es hat eine Altstadt im europäischen Stil geprägt von Spaniern und | |
Franzosen. Dieses Viertel, das French Quarter, blieb von „Katrina“ | |
weitgehend verschont. Schmiedeeisernen Balkone, filigrane Eisenstreben, | |
Säulen mit dorischen Kapitellen, bodentiefen Sprossenfenstern, hölzerne | |
Fassadenfronten, blumenverzierte Balkone. Das Viertel sieht aus wie intakte | |
Zentren europäischer Altstädte mit kleinen Geschäften, Boutiquen und | |
Restaurants. Hier findet man Karnevalszubehör, die knalligen, langen | |
Ketten, aber auch handgemachte Masken in der Mask Gallery, 841 Royal | |
Street. | |
Es gibt das Voodoo House, der Fachhandel für Schamanen. Sein Bestseller, | |
die Voodoo-Puppe mit Trump-Porträt, ist leider ausverkauft. Die | |
zweihundert Jahre alte Apotheke in der Royal Street ist heute ein Museum. | |
Im Napoleon-Haus, einem Restaurant, gibt es die entsprechenden | |
Devotionalien. Die berühmte „Carousel Bar“ im Monteleone-Hotel – angebli… | |
dem ältesten in Amerika – dreht sich ächzend um die eigene Achse und ist | |
der Treffpunkt zur Happy Hour. | |
## Neue Kooperativen | |
Drei Straßen weiter, auf dem Jackson Square vor der Kathedrale Sankt Louis, | |
spielt eine Band Soul. Ihr quirliger Animateur holt Frauen aus dem | |
Publikum, wirbelt die nicht immer leichte Beute über den Platz. Etwas | |
weiter steppt ein kleiner Junge. Ein anderer sammelt die Münzen ein. | |
Zwischenstopp im 1862 eröffneten Café du Monde beim French Market. Hier | |
isst man in Fett gebackene Küchlein, Beignets, und trinkt Café au Lait | |
dazu. Das Café hat 24 Stunden geöffnet. Flinke Kellner, multiethnisch, | |
halten den Betrieb am Laufen. Ein touristischer Hotspot. | |
Gut gewählt von den Musikern Gov Nicholls, Darry Adams und Robert Harris, | |
die davor auf dem Trottoir spielen. Gov, der Posaunist, erinnert an Fats | |
Domino, den Star des Rhythm & Blues, der in New Orleans seine Karriere | |
begann. Mit Hits wie „My only sunshine“ und „Hello Dolly“ ist den drei | |
Musikern die Aufmerksamkeit, Zuwendung und Symphatie der vielen Passanten | |
gewiss. Die drei spielen seit dreißig Jahren in ihrer Tornado-Brass-Band | |
zusammen. Gov lädt uns für den Abend ins Palm Court ein. Dort gibt es | |
traditionellen Live-Jazz bei traditioneller Küche. Es ist meistens bis auf | |
den letzten Platz ausgebucht durch organisierte Busreisen. | |
Gleich daneben am French Market in der North Peters Street finden wir im | |
Dutch Alley ungewöhnliches, schönes Kunsthandwerk, hergestellt von | |
Künstlern aus New Orleans. Schmuck, Hüte, Malerei. Mittlerweile arbeiten 25 | |
Künstler in dieser Kooperative mit. Sabine Chadborn kommt aus Deutschland, | |
lebt schon seit 20 Jahren in New Orleans. Sie macht originellen | |
Silberschmuck. | |
## Gentest für Alle | |
Tracy Thomson kommt aus New York und macht auffallend schöne, praktische | |
Sonnenhüte. Beide haben heute Dienst. Die Künstler der Kooperative wechseln | |
sich im Verkauf ab. „Was gefällt Ihnen an New Orleans? Warum leben Sie | |
hier?“ „The big easy“, antworten beide lachend. Mehr fällt ihnen gerade | |
nicht ein oder sie haben keine Lust auf weitere Fragen. Ach doch, ein Tipp | |
noch: „Wenn ihr Musik hören wollt, geht unbedingt in die Frenchmen Street.“ | |
In den zahlreichen Bars der Frenchmen Street – etwas außerhalb des | |
historischen Zentrums – wird täglich ab 17 Uhr Musik gemacht. Jedes | |
Etablissement besitzt eine Bühne. Auch wenn sie noch so klein ist: | |
Kontrabass, Gitarre und Drums finden Platz. Checkpoint Charlie, Music | |
Club, Bamubulu, Maison 30/90, BMC – irgendwo findet man die Band, die einem | |
gerade gefällt. Lockere Kneipenatmosphäre, Alte und Junge, Singles und | |
Paare, Männer und Frauen, Schwarze und Weiße kommen hierher, um innovative | |
Musik oder interessante Remakes zu hören. Auf der Straße spielt eine | |
Brass-Band, umringt von begeisterten Zuhörern, „Let it roll“. | |
Beim Gumbo, dem lokalen Eintopf im Spottet Cat, setzen sich Nancy und Jane | |
zu uns. Sie kommen aus Lafayette, der Studentenstadt nicht weit von New | |
Orleans. „Wir kommen regelmäßig hierher“, erzählen sie und fragen uns | |
freundlich aus. Wir fragen zurück. Nancy schwärmt von New Orleans, der | |
Musik ihrer Vorfahren. Seit dem 17. Jahrhundert kann sie ihre familiären | |
Wurzeln hier zurückverfolgen. Und sie hat wie viele hier einen Gentest | |
machen lassen: „10 Prozent Native American, 70 Prozent irisch, 10 Prozent | |
afrikanisch und deutsch. Eine schöne bunte Mischung“, sagt sie stolz. Die | |
sommersprossige blonde Nancy seht auf und tanzt. Musik ist hier das | |
Wichtigste, die Party nimmt man gerne mit. | |
18 Aug 2018 | |
## AUTOREN | |
Edith Kresta | |
## TAGS | |
New Orleans | |
Jazz | |
USA | |
Schwerpunkt Rassismus | |
New Orleans | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Konzert im Berliner Club Gretchen: Queere Königin des „Bounce“ | |
Die Rapperin Big Freedia aus New Orleans trägt einen HipHop-Stil in die | |
Welt, dessen Markenzeichen das hyperrapide Arschwackeln ist. | |
Kommentar Umweltrassismus in den USA: Hurrikane gegen die Armen | |
Während die Reichen sich gegen Überflutungen schützen können, sind arme | |
Schwarze in den USA viel stärker von Naturkatastrophen betroffen. | |
Soul- und Funkalben aus New Orleans: Lieblingssongs und Voodoozauber | |
Von dieser Stadt aus wurde die Musikwelt verändert: Neues und Vergriffenes | |
von Allen Toussaint, Betty Harris und dem Funk aus New Orleans. |