| # taz.de -- 10 Jahre Flüchtlingssommer: Die Fehler dürfen sich nicht wiederho… | |
| > An dem Satz „2015 darf sich nicht wiederholen“ ist nicht alles falsch. So | |
| > wie die Pandemie braucht auch 2015 eine ehrliche Aufarbeitung von links. | |
| Bild: Freiwillige helfen bei der Versorgung von Geflüchteten nach ihrer Ankunf… | |
| Als der „[1][Damm]“ brach, war ich gerade zwölf Jahre alt. Ich lebte mit | |
| meiner Familie in einer mittelgroßen deutschen Stadt. Damals, 2015, hörte | |
| ich von der „[2][Welle]“, die auf uns zusteuere: im Fernsehen, im Radio, in | |
| der Schule und nicht zuletzt in meiner eigenen Familie. Erst viel später | |
| verstand ich, dass die „Welle“ Menschen waren und der „Damm“ die deutsc… | |
| Grenze. | |
| Als die aus Syrien, Afghanistan und dem Irak flüchtenden Menschen die | |
| Städte und Kommunen erreichten, hatte ich den Eindruck, dass der Spruch | |
| [3][„Wir schaffen das!“] ziemlich schnell in den Slogan „2015 darf sich | |
| nicht wiederholen“ mündete. Kurzzeitig herrschte Willkommenskultur, ehe | |
| recht schnell überlegt wurde, wie man die Leute wieder loswerden könne. | |
| Das Bild von der „Welle“ prägte die Gespräche. Unaufhaltsame | |
| Menschenmassen, in denen die deutsche Bevölkerung ertrinken könnte. Rechte | |
| Diskurse machten die Runde, Geflüchtete wollten gar nicht arbeiten und | |
| würden den Deutschen gleichzeitig die Jobs wegnehmen. | |
| Diese diffuse Furcht drang bis zu meiner, selbst migrantischen Familie | |
| durch, stets getreu dem Motto: Wir haben uns die Existenz in Deutschland | |
| verdient, die anderen sind bloß Eindringlinge – 2015 darf sich nicht | |
| wiederholen. | |
| ## Was war richtig, und was falsch? | |
| In den folgenden Jahren fand ich mich unter Linken wieder, die ihre | |
| Solidarität mit den Geflüchteten und das Gebot der Menschlichkeit | |
| hochhielten. Ich bemerkte aber ein Unbehagen. Es lag die Angst in der Luft, | |
| den rassistischen Diskurs zu bestätigen, und deshalb traute man sich nicht, | |
| politische Entscheidungen im Zusammenhang mit der Aufnahme der Menschen zu | |
| kritisieren. Dabei wäre es doch so wichtig, zu diskutieren, was an dem Satz | |
| „2015 darf sich nicht wiederholen“ falsch und was daran aber auch richtig | |
| ist. | |
| Das überwältigende ehrenamtliche Engagement beispielsweise war sehr | |
| richtig. In meiner Schule entstanden neue Klassen für Geflüchtete, und in | |
| meiner Heimatstadt wurden zahlreiche Hilfsvereine von Freiwilligen | |
| gegründet, die nach einem langen Arbeitstag Veranstaltungen und | |
| Begegnungsräume für Geflüchtete und Einwohner*innen organisierten. Noch | |
| bevor Geflüchtete Platz in offiziell bereitgestellten Sprachkursen fanden, | |
| unterstützten Ehrenamtliche in den Kommunen sie bereits beim Deutschlernen, | |
| [4][wie Pro Asyl] berichtete. | |
| Der Eindruck, dass überforderte Helfer*innen sich um Einwander*innen | |
| kümmerten, weil es sonst keiner tat, breitete sich auch in meiner Familie | |
| aus. Wie konnte es sein, fragten sie sich, dass ein so fortschrittliches | |
| Land an der Unterbringung und Versorgung dieser Menschen scheitert? Sie | |
| folgerten daraus, die Welle sei einfach zu groß gewesen. Trotz ihrer | |
| eigenen Herkunft gelang es ihnen nicht, Empathie für Migrant*innen | |
| aufzubringen. Zu sehr hatten sie sich von der Flut, die vor allem in ihren | |
| Köpfen lebte, mitreißen lassen. | |
| Statt ihre Enttäuschung in eine politische Kritik an den | |
| Entscheidungsträger*innen zu kanalisieren, lehnten sie die Aufnahme | |
| von Geflüchteten bald kategorisch ab. Hinter ihrem gescheiterten Versuch, | |
| Verantwortliche auszumachen, wird eine wichtige Kritik am Staat deutlich, | |
| die es, auch von links, auszuformulieren gilt: Im gesamten Bundesgebiet | |
| spielten Einzelne aus der Zivilgesellschaft die Rolle des Staates. Sie | |
| sprangen ein, wo Politik versagte, wo Strukturen und hauptamtliches | |
| Personal fehlten oder überlastet waren. Auf Hilfe vom Staat warteten sie in | |
| den Kommunen oft vergeblich. | |
| Dass die Migration 2015 [5][auf den Schultern von Freiwilligen lastete,] | |
| darf sich auf keinen Fall wiederholen. Die Wut meiner Familie richtet sich | |
| heute weiterhin gegen Geflüchtete, meine eigene gegen das Versagen der | |
| Politik. Eine Perspektive, die sich für die Rettung von Geflüchteten | |
| einsetzt, darf sich einer Kritik am chaotischen Zustand von 2015 nicht | |
| entledigen. | |
| Die Aufarbeitung von 2015 hat ein ähnliches Problem wie die Aufarbeitung | |
| der Coronapandemie. In persönlichen Gesprächen erlebte ich damals Linke, | |
| die am Sinn einzelner Coronamaßnahmen zweifelten. Aber das offen | |
| auszusprechen, traute man sich nicht, aus Angst, als Coronaleugner*in | |
| zu gelten. | |
| Die Zurückhaltung bei der Kritik staatlicher Maßnahmen oder staatlichen | |
| Versagens lähmt den Diskurs. Eine lautere linke Kritik hätte vielleicht | |
| nicht verhindert, dass Verschwörungstheorien Einzug in die bürgerliche | |
| Mitte erhalten oder der rassistische Diskurs gegen die Geflüchteten so laut | |
| werden kann. Aber nur, wenn politische Fehler eingeräumt und sichtbar | |
| gemacht werden, kommt die Debatte voran und kann ein Gegenentwurf zur | |
| kompletten Abschottung der Grenzen entstehen. | |
| Wer vor Krieg und humanitären Katastrophen flieht, muss in Deutschland | |
| weiterhin Zuflucht finden, hier aber auch auf dafür ausgebaute Strukturen | |
| treffen können. Die Fehler von 2015 dürfen sich nicht wiederholen, aber | |
| schaffen müssen wir es trotzdem. | |
| 19 Aug 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Neues-Heim-in-Berlin-Marzahn/!5215745 | |
| [2] /Landtagswahlen-im-Osten/!6029856 | |
| [3] /Fuenf-Jahre-Wir-schaffen-das/!5704766 | |
| [4] https://www.proasyl.de/news/wie-asylgesetze-und-behoerdenpraxis-ehrenamtlic… | |
| [5] /Fluechtlingshelfer-an-der-Belastungsgrenze/!5237165 | |
| ## AUTOREN | |
| Wlada Froschgeiser | |
| ## TAGS | |
| Migration | |
| Willkommenskultur | |
| Geflüchtete | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| talkshow | |
| 2015 | |
| GNS | |
| Reden wir darüber | |
| Social-Auswahl | |
| GNS | |
| Refugee-Karawane | |
| Flüchtlingssommer | |
| Migration | |
| Podcast „Bundestalk“ | |
| Polizei | |
| Podcast „Bundestalk“ | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Refugee-Karawane Tagebuch (1): Willkommenskultur fängt mit Solidarität an | |
| Ab Samstag sind Geflüchtete mit einer Protest-Karawane von Thüringen nach | |
| Berlin unterwegs. Die Somalierin Muna Abdi berichtet davon in einem | |
| Tagebuch. | |
| Ankommen in Deutschland als Geflüchtete: Liebe auf den dritten Blick | |
| Geflüchtet sind sie vor rund zehn Jahren, aus Syrien, aus Afghanistan, aus | |
| dem Nordirak. Gelandet sind sie in Deutschland. Wie geht es ihnen heute? | |
| CDU-Mann Altmaier zum Flüchtlingssommer: „Wir standen vor einer sehr, sehr s… | |
| Peter Altmaier war Kanzleramtschef, als Angela Merkel entschied, die | |
| Grenzen offen zu lassen. Die CDU findet das heute falsch, die AfD | |
| triumphiert. Ist das der Preis für 2015, Herr Altmaier? | |
| 10 Jahre nach dem „Summer of Migration“: Haben wir es geschafft? | |
| Die Fluchtbewegung 2015 löste eine Solidaritätswelle in Deutschland aus. | |
| Angela Merkel sagte, wir schaffen das. Die Stimmung heute ist weit davon | |
| entfernt. Was ist passiert? | |
| Grenzkontrollen in Deutschland: 80 Millionen Euro für 9 Monate | |
| Trotz der hohen Kosten möchte Innenminister Alexander Dobrindt die | |
| Kontrollen weiterführen. | |
| Abschiebungen nach Afghanistan: Migrationswende gegen Menschenrechte | |
| Die Bundesregierung schiebt 81 afghanische Männer ab und erlaubt den | |
| Taliban, 2 Konsularbeamte herzuschicken. Was bedeutet das für Deutschland? |