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# taz.de -- Abschied von Russland: Mütterchen, es ist Zeit zu gehen
> Mehr als ihr halbes Leben verbrachte unsere Korrespondentin in dem Land,
> das seinen Nachbarn überfallen hat und die eigenen Leute nicht frei reden
> lässt.
Bild: Inna Hartwich im Jahr 2019 auf der Insel Sachalin. Wegen ihrer Recherche …
Moskau taz | Minus 46 Grad. Ich war ein Eisklotz voller Schichten aus
Mikrofasern, Fleece und Fell. Die Augen gingen kaum noch auf, der Raureif
auf den Wimpern wog schwer. Ich sank im Schlitten aus Hartplastik zusammen.
Mich beschlich immer mehr die Sorge, einzuschlafen und zu erfrieren, hier
im Norden der Insel Sachalin, „am Rande der Welt“, wie das indigene Volk
der Niwchen sie nennt. Knapp neun Flugstunden von Moskau weg, eine
Nachtfahrt im Zug, vier Stunden in einem Bus, fast eine in einem anderen.
Ich atmete sehr langsam, das Schneemobil ratterte durch den fest gewordenen
Schnee in der Pomr-Bucht des Ochotskischen Meeres, weit im Osten Russlands.
Die Niwchen lebten hier bereits vom Fischfang und der Robbenjagd, als
russische Zaren noch nicht mit japanischen Kaisern um die Vorherrschaft auf
der Insel stritten. Sie lebten auf Sachalin, als zuerst das russische
Zarenreich und später das sowjetische Terrorregime seine Gefangenen hier
ausschüttete und in den Tod trieb. Es ist ihr „Land der Ahnen“. Mehr
schlecht als recht trotzen sie heute den wirtschaftlichen
Herausforderungen, der Fisch geht ihnen aus, weil die Bohrtürme von
Rosneft, einem der größten Ölproduzenten weltweit, die Laichplätze der
Lachse bedrohen. Die Niwchen verlieren viele ihrer Verwandten an den
Alkohol, sehen ihre Kinder wegziehen, weil das Festland mehr zu bieten hat
als das Robbenfett in einem Holzverschlag und die Legenden, die die Alten
nach und nach vergessen.
Sind es die Gräber der Vorfahren, die sie in dieser nicht enden wollenden
Schönheit aus Schnee und Eis halten? Ein Gefühl, das sich Heimat nennt?
Schmerzvoll, es aufgeben zu müssen und woanders nicht mehr das
wiederzufinden, das einem so nah und vertraut ist? Ist es die Weite, die
seltsame Stille, die gar nicht still ist, weil das Meer immer tost? Der
knirschende Schnee, das Gefühl der Unendlichkeit?
Der Fischer, der mich hinter sich herzog, eine Viertelstunde bereits,
stellte sich solche Fragen nicht. Er, der bis vor wenigen Minuten noch mit
bloßen Händen aus einem präzise ausgemessenen Eisloch Stinte, Dorsche,
Grundeln in einen anderen Schlitten beförderte, pfiff gegen den Wind an,
während ich nur noch einen Gedanken hatte: Wärme, gebt mir Wärme!
## Die Pioniere sind zurück im Land
Ich weiß nicht mehr recht, wie meine Füße mich vom Schlitten ins Haus des
Fischers getragen haben. Damals, 2019, noch weit vor dem Krieg, der von
einer Minute auf die nächste alles an Gewissheiten zerstörte und einen
undurchsichtigen Schleier auf das Land legte. Diesem Krieg, der alles in
ein Davor und ein Danach teilt, der den Alltag in jeder Minute bestimmt.
Die Arbeit sowieso.
Zu den Niwchen kann ich nicht mehr. Der Geheimdienst FSB, der schon vor
sechs Jahren alles überwachte und mich nach einigen Recherchetagen im
Schnee sieben Stunden lang in einer grauen Amtsstube befragte, anbrüllte
und erniedrigte, ohne auch nur ein Glas Wasser zu erlauben, hat nun alles
unter Kontrolle. Das Frieren von heute ist ein anderes als das Frieren in
der Bucht vor Sachalin.
Die Fischersfrau hatte mir den Pelzmantel abgenommen und mich in Richtung
Gasofen bugsiert. Ich spürte Leben in mir aufsteigen, es zog von den Zehen
in den Kopf, meine Augen blinzelten wieder, die Finger griffen nach einer
Tasse warmen Tees. Die feuchten Wollsocken baumelten auf einer Leine über
dem Ofen, der hier nie ausging.
Ach, Mütterchen …
So empfängst du deine Besucher*innen. Du lässt sie zunächst in der Kälte
stehen. Kein Lächeln. Du blaffst sie an, bellst fast, musterst sie. Fremde
erscheinen dir immer gefährlich, suspekt. Du zeigst ihnen die kalte
Schulter – und eine rührende Art von Neugier. Nach einer gewissen Zeit,
wenn auch der Fremde sich geöffnet hat, wenn er dich angelächelt hat – oder
vielleicht auch angeblafft hat, weil er dachte, so gehöre es sich im Umgang
mit dir – lässt du ihn die Wärme verspüren, die von dir ausgeht. Manchmal
auch eine gefährliche Hitze.
Ich bin eine etwas anders geartete „Fremde“. Manchmal sagst du sogar, ich
sei eine „Nascha“, eine „Unsrige“. Geburtsland: Sowjetunion. 1980 war d…
Meine deutschen Vorfahren hast du einst ins Lager gesteckt, hast sie
schuften und hungern lassen. Sie haben deinen Gulag überlebt, voller Angst
und Traumata, die sie bis heute in sich tragen. Meinen ukrainischen
Urgroßvater hast du vom NKWD, dem Vorgänger des heutigen FSB, festnehmen
lassen und ihm seine Identität genommen. Sein Sohn hat seinen Namen
geändert und nie etwas über die Festnahme des Vaters erzählt. Die Vorwürfe,
die sich im „Fall“ gegen den ukrainischen Urgroßvater, der nur noch
sowjetisch sein durfte, finden, sind teils wortgleich mit den Vorwürfen
gegen die heutigen Regimekritiker*innen. Es sind fast 90 Jahre vergangen.
Ich bin nicht die „Deine“. Aber ich kenne deine Mechanismen von Demütigung
und Bestrafung von klein auf. Weiß, dass ein Individuum ein Nichts ist für
dich und das Kollektiv alles. „Immer bereit!“ Dieser Spruch der
Jungpioniere, auch mir ging er als Kind über die Lippen – bis ich die
zusammengebrochene Sowjetunion verließ und lernte, die Welt mit anderen
Augen zu sehen. Vielfältig, auch zweifelnd, Fragen stellend.
Die Pioniere sind zurück im Land, nun nicht mehr sowjetisch, sondern
russisch. Sie haben sich zur neu gegründeten „Jugendarmee“ gesellt, die in
Wettbewerben feiert, wer am schnellsten eine Kalaschnikow auseinandernimmt
und wieder zusammensetzt. Auch Fahnenappell und die militärische
Grundausbildung in der Schule sind wieder da. Du bist geübt in
Indoktrination, schon der Allerkleinsten. Ich erinnere mich an das Gedicht
„Kakerlake“ des sowjetischen Kinderautors Kornej Tschukowski. Du bist wie
der dicke Schädling dort: Ein „schrecklicher Riese, rot und mit
Schnurrhaaren“ tauchte bei allerlei Tieren auf und versetzte sie in Angst
und Schrecken. „Bringt mir eure Kinderlein“, schrie die Kakerlake bei
Tschukowski. „Ich werde sie zum Abendessen verspeisen.“
Du verspeist. Kinder und Erwachsene zugleich. Nicht der Bär, die Kakerlake
müsste dein Nationaltier sein, in jeder Ecke deines Riesenlandes versteckt
sie sich, nicht auszurotten.
## Barmherzigkeit war noch nie deine Stärke
Ach, Mütterchen …
Du duldest keine Fragen, keinen Zweifel. Für dich gibt es ein ständiges
„Nelsja“ (Man darf nicht) und ein „Nado“ (Man muss). Warum die Menschen
etwas nicht dürfen oder etwas müssen, erklärst du nicht. Du stellst nur
fest. Hält sich der Mensch nicht daran, wird er bestraft. Immer.
Barmherzigkeit war noch nie deine Stärke. Um ans Ziel zu kommen, kennst du
nur Gewalt.
Es gab eine Zeit, in der du dich geöffnet hattest. Eine chaotische Zeit, in
der niemand wusste, wie mit Freiheit umzugehen sei. Und wie mit einer
Wirtschaft, die zusammengebrochen war. Die Freiheit war nach einiger Zeit
anstrengend, zu wild das alles. Selbst denken ist anstrengend,
Verantwortung übernehmen ist anstrengend. Du hast es gern gesehen, als die
Menschen alles an dich übergaben und auf ihrer Datscha das Leben genossen.
„Der Politik bin ich fern“, sagen sie gern. Nicht alle natürlich. Wie lebt
es sich in einer Gesellschaft des Umbruchs? In einer Gesellschaft, die
Teile ihrer Geschichte verleumdet und eine Zukunft leben will, in der sie
ihre Erzählung vom kulturhistorischen „Sonderfall“ jedem aufzubinden
versucht?
Ich war als Kind gegangen und bin als Erwachsene zu dir zurückgekehrt. Nach
Russland. Ich bin durch den postsowjetischen Raum gereist. Habe als
Austauschstudentin dein Unileben kennengelernt (sehr verschult), später als
Gastredakteurin bei einer russischen Zeitung gearbeitet (als es noch
unabhängige Medien gab). Ich bin Jahre bei dir geblieben, überzeugt davon,
dich meinen Leser*innen erklären zu können, deine Geschichte, deine
Schmerzen. Ich blieb auch noch da, als viele Kolleg*innen dir längst den
Rücken gekehrt hatten. Dich zu verstehen, machte das lange Beobachten,
Zuhören, Fragen stellen dennoch nicht einfacher.
Ich lernte hier die Liebe kennen, vor einem Gerichtsgebäude, wo sonst.
Russlandberichterstattung ist weiterhin Gerichtsberichterstattung. Nur dass
die Gerichte kaum mehr Journalist*innen in die Verhandlungssäle lassen.
Nach ein paar Jahren woanders war ich wieder bei dir, zu einem Zeitpunkt,
als deine Gesellschaft immer militaristischer wurde. Mehr als mein halbes
Leben lang habe ich bei dir verbracht, habe unserem Kind deine Sprache
mitgegeben, meine Sprache der Kindheit, die ich nicht Putin und seinen
willfährigen Handlangern überlasse.
Ich habe als Fünfjährige im Steppenwind zu Alla Pugatschowa herumgetänzelt,
da war sie längst eine Diva. Du hast sie, eine Nationalheilige fast, tief
stürzen lassen, weil sie Rückgrat bewies und dich für deinen Überfall auf
die Ukraine kritisierte. Ihre Lieder sind heute wie gelöscht im Land. Ich
mache sie oft laut im Auto an, wenn ich mit 80 Stundenkilometern über die
achtspurigen Straßen durch das Moskauer Stadtzentrum brettere – ja, das
darf man –, vielleicht eine Art persönlichen Protests. Manchmal weinen der
Himmel über der Stadt und ich dabei um die Wette.
Du frisst einen auf, du machst krank, du lässt Wut aufkommen und Hass und
Mitleid, eine ganze Palette an Emotionen. Du lässt Tränen vergießen, um
dich und deinetwegen, und klebst doch an einem. Da hilft auch kein Gläschen
Wodka als Absacker, „na possoschok“, wie du sagst.
Die Willkür ist dein ständiger Begleiter. Du hast dich in der Gewalt
eingerichtet. In alten Verbrechen, die du nicht verarbeiten willst, auch
Jahrzehnte nach diesen Verbrechen nicht; du wälzt jeden nieder, der dies
dennoch versucht. Auch mit neuen Verbrechen findest du dich ab, die du
täglich begehst und über die du der ganzen Welt erzählst, all das sei nur
zu deinem Schutz, zu deiner Verteidigung. Du lügst dir in die Tasche und
verdrehst die Tatsachen so geschickt, dass dir die Welt so viele Jahre
alles Mögliche abgenommen hat, trotz deiner Kriege, Tschetschenien,
Georgien, Ukraine, mit dir Geschäfte machte, deine Gastfreundschaft
hervorhob und deinen angeblichen Willen zur Partnerschaft.
## Der Westen: Vorbild und Rivale zugleich
Die russische Seele sei es, die sie so anlocke, die dich so besonders
mache, schwärmten die Unbelehrbaren stets. So manche/r von ihnen schwärmt
wohl auch noch heute von ihr. Du hast diese Seele nie gehabt, du hast sie
nur mittels des Franzosen Eugène-Melchior de Vogüé bereits im 19.
Jahrhundert ziemlich erfolgreich in die Welt hinaustragen können. Du
ließest dich damals auf einen Fremden ein, auch noch einen aus dem Westen.
Vorbild und Rivale zugleich ist dieser Westen stets für dich. Du arbeitest
dich an ihm ab, du brauchst ihn zum Überleben. Du klebst an ihm. Du bist
eine zähe Sache.
Ach, Mütterchen …
Matuschka. Mat’. Mama. Russland ist weiblich, hervorgegangen aus der
Vorstellung von der Erde als göttliche Mutter, die zum Symbol der Stärke,
der Widerstandskraft und der Fruchtbarkeit stilisiert wurde. Diese Stärke
willst du allen weismachen und bist zuweilen so erbärmlich unsouverän und
infantil, weil du ständig auf andere zeigst und fast schon trotzig brüllst:
„Aber die haben das auch gemacht! Wir dürfen jetzt auch!“ Widerstand ist so
eine Sache bei dir. Du machst dir die Menschen, die durchaus ständig am
Klagen sind, gefügig. Du nimmst ihnen immer mehr den Raum, sich dir zu
entwinden. Verlangst, dass sie sich dir unterwerfen, egal, was du von ihnen
willst. Sie sollen dir blindlings folgen, sollen Gehorsam leisten, gern
vorauseilend, und bloß nicht aufmucken. Den Gürtel enger zu schnallen,
gehört mitunter zu deiner Spezialität. Manchmal bist du geradezu stolz auf
deine Leidensfähigkeit.
Und das mit der Fruchtbarkeit? Im Ernst? Du schickst deine Söhne in den
Krieg, du sagst schon den Kleinsten, es sei ihre Pflicht, für dich, die
Mutter Heimat, auf Schlachtfeldern zu sterben, du nimmt allen die Zukunft
und zwingst die Frauen, gern schon Schulmädchen, zur Geburt von Kindern,
die du zum Frischfleisch für deine imperialistischen Fantasien machst oder
zumindest zu Mitläufer*innen. Völlig schonungslos.
Ich weiß, du gibst dich aufopferungsvoll, ach so liebend, immer nur dein
Kind im Blick. Mamotschka, Mamulja, Mamussik, geradezu lieblich kommen
deine Namen daher. Doch du hast dich längst mit deiner Rolle der
aufopfernden Dienerin eines Verbrecherstaates abgefunden. Du als Mütterchen
Russland, so lässt sich über deine Entstehungsgeschichte herausfinden,
hattest stets ein Zaren-Väterchen an deiner Seite. Der Monarch schloss eine
heilige Allianz mit dir, die Ehe. Und schon gehörtest du ihm, er sprach für
dich und tat alles in deinem Namen.
## Im Namen des Friedens lässt du töten
Das Väterchen ist kein Zar mehr, du hast dich längst dem Präsidenten
ausgeliefert. Dem Mann, einem Geheimdienstler, der in deinem Namen sagt,
Russland kenne keine Grenzen. Der das Nachbarland überfällt und den
Menschen weismacht, es sei gar kein Überfall, sei kein Krieg, es sei eine
„militärische Spezialoperation“, nach drei Tagen beendet, die Soldaten
würden mit Blumen empfangen.
Eine Überschätzung von Anfang an. Du und er, ihr findet auch nach
dreieinhalb Jahren keinen Weg mehr heraus, ihr habt alles auf diesen Krieg
eingestellt, den ihr nicht Krieg nennt. Denn einen Krieg, so sagt der
moderne Zar, dein Präsident, den führten die anderen, angeblich gegen dich,
deine Interessen. Es ist eine pervertierte Geschichte, und du trägst sie
mit, so stromlinienförmig wie die meisten um dich herum.
Wie machst du das? Wie schaffst du es, das Denken abzustellen und all das
zu ignorieren, was nicht zu ignorieren ist? Du spaltest die Fakten so weit
ab, dass du ganz verwundert darüber bist, dass deine Verwandten in der
Ukraine nicht mit dir sprechen wollen. „Aber ich, ich habe ihnen doch
nichts getan“, stammelst du allen Ernstes. „Ich, ich bin doch so
friedliebend“, sagst du und lässt sogleich (ja, als unteilbare Gemeinschaft
mit dem Väterchen) Drohnen und Raketen auf ukrainische Städte niederregnen.
Das sei alles deins, behauptest du, du wollest das nur mal schnell
„befreien“. Deine „Befreiungskünste“ aber schätzt niemand. Im Namen d…
Friedens lässt du töten und versinkst im Sumpf aus Verwerflichem und
Beschönigendem. Du willst nicht nachdenken, willst nichts wissen, willst
nichts fühlen. Du willst keinen Schmerz spüren, der täglich um dich ist,
der tote Bruder, der verwundete Enkel, der verschollene Nachbar.
Du hast das russische Wort „gore“ vergessen und die Bedeutung dahinter. Sie
ist so vielfältig: Leid, Schmerz, Kummer, Misere, Ungemach, Last, Unglück,
Elend. Du willst all das von dir weisen, du Patriotin! Willst lieber im
überfüllten Café deinen Sommerdrink schlürfen, willst über Brücken voller
prächtiger Blumen laufen, willst Festivals feiern, jedes Wochenende, alles
gratis, willst dich betäuben in diesen Farben und Gerüchen, dich
unterhalten lassen. Du willst im Sommerregen tanzen. Dabei tanzt du auf den
Knochen Getöteter und Geschundener. Auf der Asche von verbrannten Babys und
den Überresten von verschütteten Alten.
Du hast dir eine scheinbar sorgenfreie Realität geschaffen. Bunte Kulissen,
dekoriert mit übergroßen Blumenkübeln entlang der Einkaufsstraßen. Es ist
eine „Verdatschung“ der ganzen Gesellschaft, eine Flucht ins Grüne, ein
bisschen in der Erde buddeln, in der Hängematte baumeln, in die Sonne
hinausblinzeln. Hinter den Kulissen der Abgrund, in dem der Morast blubbert
und stinkt. Was passiert, wenn du aus der Hängematte hinaus- und in die
Schlucht hineinfällst?
## Du raubst das Ich
Du könntest der Welt deine dampfenden Vulkane von Kamtschatka zeigen, deine
Schneetundra an der Barentssee. Du könntest sie den Steppenwind am Ural
spüren und den Lachs an den sibirischen Flüssen schmecken lassen. Du
könntest so vieles. Stattdessen drohst du mit Atomwaffen und zerstörst
Häuser, Leben, Gewissheiten. Du bringst deine eigenen Leute hinter Gitter,
weil sie dein verbrecherisches Tun anprangern. Du schmeißt deine Leute aus
dem Land und nennst sie „ausländische Agenten“, „Extremisten“,
„Staatsverräter“, weil sie Krieg sagen zum Krieg. Du nimmst mit deinen fast
täglichen Vorschlägen und Gesetzen jeden Raum zum Gestalten. Du raubst das
Ich.
Zurück bleibt die Tragik. Da ist L., jung, Anwältin, mehrere Sprachen
beherrschend. Sie erkennt genau, was los ist bei dir, sie sieht bei den
eigenen Eltern, wie gut du darin bist, die Hirne der Menschen zu vernebeln.
Sie stritt mit Vater und Mutter, sie stritt für ihre Position. Aber selbst
Väter und Mütter können denunzieren. L. verstummte. Nur in ihrem Innern
schreit sie laut gegen dich an. Und gegen sich. Äußerlich lebt sie ein
unauffälliges Leben. Bringt die Tochter in den staatlichen Kindergarten,
wohl wissend, dass die Leiterin dieses Kindergartens Geld sammelt für die
Ausrüstung der Soldaten im Donbass. Sie windet sich, sie holt sich
psychiatrische Hilfe – und findet sich ab mit dir. Das Kind in einen
Privatkindergarten geben? Von welchem Geld? Das Kind zu Hause lassen? Wer
verdient das Geld? Eine Wahl zu haben, ist ein Privileg.
Da ist A., ein Kleinunternehmer. Niemand in seiner Umgebung sieht alles,
was bei dir passiert, irgendwie kritisch. A. fühlt sich allein. Die
Geschäfte laufen schlecht, weil die Finanztransaktionen wegen der
Sanktionen ein mühsames Ding sind. A. versteht das alles. Doch überleben
muss man irgendwie. Auch er findet sich ab mit dir.
Da ist S., einst in oppositionellen Kreisen aktiv. Nach Festnahmen
flüchtete er in ein Dorf im Norden, hier fischt er und schippt Schnee im
Winter. Die Politik ist in seinem Kopf und manchmal auch an seinem
Esstisch, wenn die Nachbarin vom verletzten Sohn bei der „Militäroperation“
erzählt. „So lange der Verbrecher im Kreml sitzt, so lange wird er unsere
Kinder fressen“, sagt S. zur Nachbarin. Die Nachbarin will es nicht hören.
Da ist ein anderer A., ein Intellektueller, zum „ausländischen Agenten“
abgestempelt. Er denkt, er schreibt, er wird immer weniger. Blass, grau,
schmal. „Hier ist meine Bibliothek, hier sind meine Verwandten begraben.
Es ist mein Land“, sagt er.
Da ist das Mädchen V., das in der Schule eine Soldatenuniform trägt und von
„roten Raketen und Maschinengewehrsalven“ singt. Die Eltern daheim sagen:
„Es schadet ihr nicht.“
Da ist der Jugendliche F., der so viele Fragen hat, zu sich, zum Leben, zu
allem. „Der Krieg, die Politik, die Sorgen um die Zukunft sind nicht die
Themen, die erlaubt sind. Das versteht jeder“, sagt er.
## Wir müssen uns trennen
Sie sind bei dir geblieben. Sie wollen, können nicht weg. Sie leben in dem
Desaster, das du angerichtet hast und sie nicht verhindert haben, wie auch
die Gegangenen und die Gegangenwordenen darin leben. Trotz allem träumen
sich viele Exilant*innen/Relokant*innen/Emigrant*innen (die Gegangenen
haben viele Namen für sich) wieder hierher, zu dir, ins Vertraute,
Bekannte. Hier wartet zuweilen ein Strafverfahren auf sie oder es wurde
bereits ein Urteil in Abwesenheit gegen sie gefällt. Sie sind in Amsterdam,
in Riga, in Tbilissi. Sie sind rund um die Welt verstreut und sagen: „Ich
will in mein Moskau zurück. In mein Russland.“ Dieses Moskau und dieses
Russland aber gibt es nicht mehr.
Auch wir müssen uns trennen. Vielleicht für lange.
Ach, Mütterchen, пока …
11 Aug 2025
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Inna Hartwich
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