| # taz.de -- Nach EU-China-Gipfel: Letzte Chance für Europa | |
| > Die neue Selbstsicherheit der EU gegenüber China ist positiv. Nötig sind | |
| > nun konsequentere Entscheidungswege in der EU, um Blockaden zu | |
| > verhindern. | |
| Bild: Bist jetzt spricht Europa nicht mit einer Stimme gegenüber China | |
| Fünfzig Jahre nach Aufnahme diplomatischer Beziehungen hat der | |
| Jubiläumsgipfel in Peking vergangenen Donnerstag vor allem eines gezeigt: | |
| Die sino-europäischen Beziehungen stecken in einer tiefen Krise. Bereits im | |
| Vorfeld zeugten symbolträchtige Gesten von Distanz und Entfremdung: Peking | |
| kürzte das ursprünglich zweitägige Treffen kurzerhand auf einen Tag, | |
| während Staats- und Parteichef Xi Jinping seine Teilnahme demonstrativ | |
| lange offenließ. Er kam dann doch. | |
| So brachte der Gipfel [1][auch keine Annäherung, sondern ließ bestehende | |
| Konflikte und Bruchlinien deutlicher denn je hervortreten]: Politische | |
| Differenzen, eskalierende Handelsstreitigkeiten und Pekings Haltung zum | |
| russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine dominierten die Gespräche. China | |
| präsentiert sich Europa gegenüber nicht länger als Hoffnungsträger, sondern | |
| zunehmend als Rivale, der die regelbasierte internationale Ordnung | |
| herausfordert. | |
| Damit markiert der Gipfel eine Zäsur: Europa steht nun dringlicher denn je | |
| vor der Aufgabe, seine Chinapolitik konsequent, souverän und realistisch | |
| neu auszurichten – frei von alarmistischen Feindbildern, aber entschlossen | |
| in der Verteidigung eigener Interessen und Werte. | |
| Wie konnte es so weit kommen? Jahrzehntelang setzte Europa auf die | |
| Strategie „Wandel durch Handel“ – die Annahme, wirtschaftliche Integration | |
| werde langfristig auch politische Öffnung in Peking bewirken. Spätestens | |
| seit etwa 2015/16 zeichnete sich jedoch immer deutlicher ab, dass diese | |
| Hoffnung vor allem eine naive Illusion war. Politisch manifestierte sich | |
| diese Erkenntnis 2019, als die Europäische Kommission China erstmals | |
| explizit als „systemischen Rivalen“ einstufte. | |
| Dieser Paradigmenwechsel war das Resultat einer Reihe von Enttäuschungen, | |
| die seither anhielten: der Niederschlagung der Demokratiebewegung in | |
| Hongkong und der systematischen Unterdrückung der uigurischen Minderheit in | |
| Xinjiang, Pekings mangelnder Kooperationsbereitschaft bei der Aufklärung | |
| des Ursprungs der Coronapandemie sowie der demonstrativen Missachtung der | |
| regelbasierten internationalen Ordnung etwa durch Ablehnung internationaler | |
| Schiedssprüche zum Konflikt im Südchinesischen Meer. Diese Verdichtung von | |
| Menschenrechtsverletzungen, Völkerrechtsbrüchen und geopolitischen | |
| Muskelspielen ließ die „Partner“-Rhetorik Pekings aus Sicht europäischer | |
| Politiker zunehmend hohl wirken. | |
| Doch Europas Ernüchterung hat nicht nur politische Ursachen: Europas enge | |
| wirtschaftliche Verflechtung mit China ist längst zur strategischen | |
| Achillesferse geworden. Obwohl China weiterhin Europas zweitwichtigster | |
| Handelspartner ist, erreichte das Handelsdefizit der EU mit China 2024 mit | |
| über 300 Milliarden Euro einen besorgniserregenden Höchststand – eine | |
| Schieflage, die keineswegs ausschließlich den Marktgesetzen, sondern | |
| vielmehr Pekings bewusster Abschottungspolitik und massiven Subventionen | |
| geschuldet ist. | |
| ## Das geopolitische Dilemma Europas | |
| Besonders drastisch zeigt sich [2][Europas Verwundbarkeit bei seltenen | |
| Erden] – jenen kritischen Rohstoffen, die für Zukunftsindustrien wie | |
| Elektromobilität, Digitalisierung und erneuerbare Energien unverzichtbar | |
| sind. Hier hält China de facto ein Monopol und nutzt dies zunehmend als | |
| strategisches Druckmittel. Als Peking im Frühjahr 2025 die | |
| Exportbeschränkungen noch verschärfte, standen europäische | |
| Produktionsketten am Rand des Stillstands – die politische Erpressbarkeit | |
| Europas wurde in aller Deutlichkeit sichtbar. | |
| Die EU [3][begegnet dieser Gefahr inzwischen mit der Strategie des | |
| „De-Risking]“: Diversifizierung von Lieferketten, Aufbau eigener | |
| Kapazitäten, Partnerschaften mit alternativen Lieferländern – all das soll | |
| kritische Abhängigkeiten reduzieren, ohne in eine unrealistische Abkopplung | |
| („De-Coupling“) zu verfallen. Ziel ist es, „strategische Autonomie“ und | |
| Resilienz zu gewinnen und Europas wirtschaftliche Handlungsfähigkeit | |
| langfristig zu sichern – bei gleichzeitiger Offenheit für ökonomisch | |
| sinnvolle Kooperation. Diese Balance ist anspruchsvoll, aber alternativlos. | |
| Erschwert wird Europas Lage zusätzlich durch ein geopolitisches Dilemma: | |
| Die sich verschärfende Rivalität zwischen den USA und China fordert die | |
| europäische Eigenständigkeit massiv heraus. Seit Donald Trumps Rückkehr | |
| ins Weiße Haus Anfang 2025 wächst der Druck auf Europa spürbar: Washington | |
| fordert eine klare Positionierung gegenüber China und droht offen mit | |
| protektionistischen Maßnahmen. Peking wiederum reagiert äußerst sensibel | |
| auf jede europäische Annäherung an die USA – besonders bei | |
| Schlüsseltechnologien und Sicherheitsfragen wie Taiwan. | |
| Dieser geopolitische Spagat fordert Europas strategische Autonomie massiv | |
| heraus. Die EU darf weder blind Washington folgen noch vor Pekings | |
| Drohungen einknicken. Sie muss unverhältnismäßige Forderungen der USA | |
| ebenso entschieden zurückweisen wie chinesische Versuche, einzelne | |
| Mitgliedstaaten wirtschaftlich unter Druck zu setzen. Nur wenn Europa | |
| eigene Interessen und Werte souverän vertritt und sich weder vereinnahmen | |
| noch erpressen lässt, wird es als relevanter geopolitischer Akteur | |
| anerkannt. | |
| Dabei steht Europa nicht allein außenpolitisch vor schwierigen | |
| Balanceakten: Die innergesellschaftliche Herausforderung, komplexe | |
| Spannungen nicht in simplen Feindbildern zu verflachen, ist ebenso | |
| drängend. Europa darf nicht zulassen, dass legitime Kritik an Pekings | |
| autoritärem Kurs in pauschale Ressentiments gegenüber China und seiner | |
| Bevölkerung mündet. Rassistische Topoi wie die „Gelbe Gefahr“ dürfen kei… | |
| Renaissance erfahren. | |
| Gerade in geopolitisch angespannten Zeiten sind gesellschaftlicher | |
| Austausch und kulturelle Kooperation entscheidend: Städtepartnerschaften, | |
| wissenschaftliche Zusammenarbeit sowie Studierenden- und Schüleraustausche | |
| bauen Brücken und verhindern, dass politische Gegensätze zu kultureller | |
| Entfremdung führen. Nur eine Haltung, die klare politische Distanz | |
| gegenüber Pekings Führung mit einer offenen, dialogbereiten und | |
| respektvollen Beziehung zur chinesischen Gesellschaft verbindet, sichert | |
| Europas Glaubwürdigkeit. | |
| Doch die vielleicht größte Gefahr lauert nicht in äußeren Bedrohungen oder | |
| Feindbildern: Europas mangelnde Geschlossenheit könnte am Ende das größte | |
| Risiko für eine erfolgreiche Chinapolitik darstellen. Pekings Führung nutzt | |
| diese innere Zerrissenheit gezielt, indem sie einzelne Mitgliedstaaten | |
| durch lukrative Investitionen lockt und damit eine gemeinsame Linie | |
| untergräbt. Zugleich erschweren Differenzen zwischen zentralen Akteuren wie | |
| Deutschland und Frankreich – etwa beim Umgang mit Chinas Einfluss auf | |
| kritische Infrastruktur – die dringend nötige Geschlossenheit. | |
| ## Weniger Abhängigkeiten | |
| Maßnahmen wie das Anti Coercion Instrument [Mittel der EU zur Abwehr von | |
| wirtschaftlichem Zwang durch Drittstaaten; d. Red.] oder verschärfte | |
| Investitionsprüfungen entfalten ihre Wirkung nur, wenn sie solidarisch und | |
| konsequent von allen Mitgliedstaaten getragen werden. Mittelfristig braucht | |
| Europa daher eine Reform seiner Entscheidungsstrukturen etwa durch | |
| qualifizierte Mehrheitsbeschlüsse in außenpolitischen Kernfragen, um | |
| nationale Blockaden künftig zu verhindern. Nur wenn Europa interne | |
| Differenzen überwindet und Geschlossenheit demonstriert, wird es von China | |
| als ernst zu nehmender Akteur respektiert. | |
| Wie aber sollte Europas Chinapolitik künftig konkret aussehen? Geboten ist | |
| eine klar definierte, prinzipiengeleitete Realpolitik – kein Zickzackkurs | |
| zwischen moralischer Hybris und blinder Pragmatik, sondern eine souveräne | |
| Balance aus Interessen, Prinzipien und Realitätssinn. | |
| Oberste Priorität sollte die gezielte Reduzierung kritischer Abhängigkeiten | |
| haben: Schlüsseltechnologien und Infrastruktur – von Halbleitern über | |
| Telekommunikation bis zu Energienetzen – dürfen nicht unter chinesische | |
| Kontrolle geraten. Europas Unternehmen müssen ihre Lieferketten | |
| diversifizieren, alternative Bezugsquellen erschließen und eigene | |
| Kapazitäten gezielt ausbauen. | |
| Zugleich braucht es klare rote Linien gegen Pekings autoritären Kurs: | |
| Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang, die Knebelung demokratischer | |
| Freiheiten in Hongkong oder Drohgebärden gegenüber Taiwan dürfen für Europa | |
| nicht hinnehmbar sein. Hier sind deutliche Worte und – wo nötig – gezielte | |
| politische oder wirtschaftliche Reaktionen gefordert. | |
| Gleichzeitig bleibt Kooperation unverzichtbar. Die großen Herausforderungen | |
| unserer Zeit – Klimawandel, Pandemievorsorge, globale Finanzstabilität – | |
| sind ohne Zusammenarbeit mit China nicht zu lösen. Hier muss Europa mit | |
| klugem Pragmatismus den Dialog offen halten, technologische Partnerschaften | |
| pflegen und in multilateralen Foren konstruktiv agieren, wo Interessen sich | |
| überschneiden. | |
| Der EU‑China‑Gipfel brachte keine Annäherung. Im Gegenteil, er geriet zum | |
| Gipfel klarer Kanten. Xi Jinping pochte auf Chinas „Kerninteressen“ und | |
| geißelte europäische Handelsrestriktionen; EU‑Kommissionspräsidentin | |
| Ursula von der Leyen hielt Pekings Überkapazitäten in der | |
| Industrieproduktion und das weiterhin steigende Handelsdefizit dagegen. | |
| Eine förmliche Abschlusserklärung scheiterte folgerichtig – übrig blieb nur | |
| eine Pressemitteilung, in der beide Seiten ihr gemeinsames Bemühen im Kampf | |
| gegen den Klimawandel betonten: der kleinste gemeinsame Nenner angesichts | |
| aller übrigen Gegensätze. | |
| Gleichwohl markiert das Treffen einen Wendepunkt. Erstmals fordert Brüssel | |
| öffentlich eine „Neugewichtung“ der Beziehungen und signalisiert das Ende | |
| vornehmer Zurückhaltung. Diese neue Selbstsicherheit hat Substanz. | |
| Abhängigkeit ist keine Einbahnstraße: China braucht Europas Absatzmarkt, um | |
| sein durch Überproduktion getriebenes Wirtschaftsmodell zu stützen. Dass | |
| Peking nun selbst über eine Drosselung der Überproduktion nachdenkt, zeugt | |
| weniger von guten Absichten als von nüchterner Sorge um die eigene | |
| Ökonomie. Genau hier liegt Europas Hebel – wenn es ihn entschlossen nutzt. | |
| ## Einhegung von Sonderwegen | |
| Ob das gelingt, entscheidet sich jetzt. Die viel beschworene | |
| De‑Risking‑Agenda muss vom Papier in Produktionshallen, Hafenterminals und | |
| Kabinette wandern – mit messbaren Etappen und klaren Zuständigkeiten. | |
| Diversifizierte Lieferketten, strategische Reserven, scharfe | |
| Investitionskontrollen – all das darf nicht länger als Prüfauftrag in | |
| Fußnoten des EU-Rats verharren. Ebenso notwendig ist eine | |
| Entscheidungskultur, die nationale Sonderwege einhegt: qualifizierte | |
| Mehrheitsbeschlüsse in Wirtschafts‑ und Sicherheitsfragen, verbindliche | |
| Solidaritätsmechanismen bei wirtschaftlichem Zwang, eine konsequent | |
| angewandte Anti‑Coercion‑Verordnung und der Mut, Vetospielräume zu | |
| begrenzen, wo sie europäische Geschlossenheit blockieren. | |
| Peking achtet nicht auf Erklärungen, sondern auf Ergebnisse. Kann Europa | |
| binnen Jahresfrist Fortschritte bei Rohstoffpartnerschaften, Halbleitern, | |
| Infrastrukturscreening und Sanktionsvollzug vorweisen und zugleich den | |
| gesellschaftlichen Austausch mit China vertiefen? Nur ein Europa, das diese | |
| Balance sichtbar meistert, wird als strategischer Akteur ernst genommen. | |
| Die kommenden Monate sind daher mehr als eine Bewährungsprobe – sie sind | |
| Europas letzte Chance, vom reaktiven Beobachter zum gestaltenden Mitspieler | |
| aufzusteigen. Scheitert dieser Schritt, droht dem Kontinent die | |
| strategische Randlage zwischen Washington und Peking; gelingt er, gewinnt | |
| Europa die Glaubwürdigkeit, seine Werte zu verteidigen und seine | |
| wirtschaftlichen Interessen souverän zu sichern. Strategische Klarheit ist | |
| damit keine Option mehr, sondern Conditio sine qua non europäischer | |
| Zukunftsfähigkeit. | |
| Stefan Messingschlager forscht als Historiker und Politikwissenschaftler an | |
| der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg zur Geschichte und Gegenwart des | |
| sino-westlichen Verhältnisses. | |
| 25 Jul 2025 | |
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