# taz.de -- Ukrainische Schauspielerin Iryna Lazer: Allein mit der Verzweiflung… | |
> Die Ukrainerin Iryna Lazer lassen die Traumata des Krieges nicht los. | |
> Ihre Theaterarbeit ist von Erfahrungen von Flucht, Exil, und Rückkehr | |
> geprägt. | |
Bild: Der Musikerin Iryna Lazer gelang mit ihrer Tochter die Flucht ins tempor�… | |
Wird das Sprechen über Krieg und persönliche Traumata leichter, wenn Zeit | |
vergeht? 2022 erarbeitete Iryna Lazer alias Mavka im Berliner Exil ein | |
Musiktheaterstück auf der Grundlage von Zeugnissen aus der russischen | |
Besatzung – eine Kampfansage an den Wahnsinn der Kriegsrealität. | |
Als das Stück 2025 wieder in Berlin gastiert, sieht die ukrainische | |
Sängerin und Regisseurin sich mit der Frage konfrontiert, was das Stück | |
über drei Jahre nach Beginn des großen Krieges noch bewegen kann. | |
„Wir flohen, die Kampfjets vertrieben uns aus unserem Haus. Mein Zuhause | |
und die Häuschen auf meiner Straße wurden von den ‚Frieden‘ bringenden | |
Maschinen des Todes eingenommen. Ich will nicht wissen, was passiert wäre, | |
hätten wir es nicht geschafft zu entkommen – wie so viele andere. Zwar | |
haben wir unser Haus verloren, aber wir leben! Wir kämpfen für das Leben, | |
unser Land, für die Ukraine!“ | |
Diese Notizen veröffentlichte Iryna Lazer am 25. Februar 2022 zusammen mit | |
Aufnahmen einer Überwachungskamera auf Instagram: Es ist ein Zeitzeugnis | |
ihrer Flucht aus [1][Hostomel], einem Vorort von Kyjiw, von der Ausweitung | |
des russischen Angriffskriegs. In diesen Tagen rückte die russische Armee | |
auf Kyjiw zu. | |
Brutalste Kriegsverbrechen | |
Hostomel, [2][Irpin], [3][Butscha] – dies sind nur einige Siedlungen, die | |
in diesen Tagen eingenommen und schwer zerstört wurden, wo die Besatzer | |
brutalste Kriegsverbrechen verübten. Auch unweit des Hauses der Lazers | |
wurden Zivilist*innen erschossen – Verbrechen, bei deren Aufarbeitung | |
Iryna Lazers Mann Taras mitgewirkt hat. Anfang April, mit Befreiung des | |
Kyjiwer Umlands, wurde das Ausmaß der russischen Gewalt offensichtlich: | |
wahllose Erschießung von Zivilist*innen, Vergewaltigungen, Gräueltaten. | |
Der Musikerin Iryna Lazer gelang mit ihrer Tochter die Flucht ins temporäre | |
Exil. Ihre Fluchtgeschichte – die Route führte zunächst in die Westukraine | |
und dann, ohne Mann, über Polen nach Berlin – brachte sie in der Reihe | |
„Stories from Exile“ im Herbst 2022 am Berliner Ensemble auf die Bühne. | |
Die studierte Sängerin und Schauspielerin, die seit 2013 als Mavka | |
auftritt, nutzte Dutzende Gelegenheiten, um dem ukrainischen Schicksal auf | |
Demos und Solidaritätskonzerten Gehör zu verschaffen. Ihr | |
Überlebensprinzip: arbeiten, um nicht nachdenken zu müssen – über die | |
Distanz zu ihren Nächsten, über die historische Katastrophe, die ihre | |
Heimat existenziell bedroht und in ein lebensgefährliches Kriegsgebiet | |
verkehrt. | |
Innere Blockaden | |
Wie schwer ihr der Umgang mit der eigenen traumatischen Kriegserfahrung | |
wirklich fiel, erzählt sie im (Video-)Interview: „Obwohl ich nicht gesehen | |
habe, wie jemand getötet wird, keine familiären Verluste beklagen muss, | |
verlor ich die Kontrolle über meinen Körper, wenn es darum ging, auf der | |
Bühne über meine Flucht zu sprechen“, beschreibt die 1983 in Tscherniwzi | |
geborene Lazer diese innere Blockade. | |
„Ich kam zur Erkenntnis, dass ich mit den Geschichten anderer Menschen | |
arbeiten und sie als meine eigenen erleben müsse: als Regisseurin, als | |
Schauspielerin.“ Im anhaltenden Kriegszustand gelang es ihr nicht, sich des | |
eigenen Traumas anzunehmen. „Ich kann ihm nicht entfliehen, weil es mir in | |
gewisser Weise an innerer Stärke fehlt.“ | |
Um dennoch künstlerisch mit der ukrainischen Realität arbeiten zu können, | |
begann Lazer, die eigene Kriegserfahrung mit dokumentarischen | |
Zeitzeugnissen zu verflechten. Am [4][Berliner TD-Theater] entwickelte sie | |
ein Stück für zwei Charaktere, Anja und Ninka, verkörpert durch sie selbst | |
und den Schauspieler Ivan Doan. | |
Das Stück „Shalene/Ver-rückt“, das im Mai 2023 uraufgeführt wurde und | |
anschließend in Spielstätten in Deutschland und Polen gastierte, erzählt | |
Geschichten aus der Besatzungszeit, von Vergewaltigung, tragikomischen | |
Alltäglichkeiten oder Glücksmomenten über die Befreiung. | |
Angreifbare Wahrheiten | |
Die Regisseurin verarbeitete Zeugnisse mehrerer Dorfbewohnerinnen, die | |
aufgrund ihres Alters zwei Angriffskriege erleben mussten, aufgezeichnet | |
von Taras Lazer und Roman Synchuk für die NGO Ukraine War Archive. Wenn | |
einen die Kriegserfahrung eines lehrt, dann wohl, wie angreifbar Wahrheiten | |
sind: „Werke über den Krieg müssen vor allem eines sein: ehrlich“, sagt d… | |
zierliche 42-Jährige bestimmt. | |
Zentrales Element des audiovisuellen Schauspiels, in dem ukrainische und | |
deutsche Volkslieder eine elektronische Soundcollage bilden, ist das Lied | |
„Schalene“ (Verrückt) – es zieht sich als wiederkehrendes Motiv durch den | |
einstündigen Theaterabend. | |
Darin wird ein Mädchen im Traum von einer zerstörerischen Gewalt | |
heimgesucht: Für Lazer eine Analogie für das ursprüngliche russische | |
Vorhaben, die Ukraine in drei Tagen einzunehmen. „Auch wenn es ihnen nicht | |
gelang, sind die Wunden ungemein tief.“ | |
Diese Wunden erscheinen beim Gastspiel am Berliner Ensemble anlässlich des | |
dritten Jahrestags des Vollangriffs in Form von kaleidoskopartigen Skizzen | |
auf der Leinwand: Iryna Lazers mal verträumter, mal kraftvoller Gesang | |
haucht der Szenerie Leben ein. | |
Spielszenen wechseln sich ab mit irrsinnigen, aber lebensrettenden | |
Sicherheitsanweisungen aus dem Kriegsalltag – zeichnerisch und | |
multilingual auf die Bühne projiziert, spiegeln sie den Wahnsinn des Bösen, | |
der in der Ukraine eine zerstörerische Allgegenwärtigkeit besitzt. | |
Latente Traumaarbeit | |
Das Stück, für das Lazer mit Musiker Daniil Zverkhanovskyi und | |
Theatermacherin Alina Danylova kooperierte, führt in einen | |
Schlaf-Wach-Zustand latenter Traumaarbeit, in dem [5][belastende | |
Kriegserfahrungen] zwar noch nicht überwunden, jedoch bezeugt, | |
[6][künstlerisch vermittelt] und schmerzlich nachvollziehbar gemacht | |
werden. | |
Trotz des unhaltbaren Kriegszustands setzte die Sängerin Anfang 2024 der | |
emotionalen Zerrissenheit zwischen den Orten ein Ende und kehrte zurück ins | |
Kyjiwer Umland. Sie erzählt: „Ich habe momentan das große Verlangen, unsere | |
Wohnung gemütlich herzurichten, auch wenn es unangemessen erscheint. Du | |
gewöhnst dich an die ständige Gefahr – aber wenn du innehältst, trifft dich | |
die Realität schmerzhaft.“ | |
Das Leben im Krieg trage oft surreale Züge: Andauernder Drohnen- oder | |
Raketenbeschuss sorgten für nervtötenden Schlafentzug – und manchmal | |
dröhnten auf dem Schulhof neben der Nationalhymne plötzlich auch die | |
Sirenen. „Wie im Film, einfach unwirklich“, so Iryna Lazer. | |
Nach ihrer Rückkehr zog die Familie innerhalb Hostomels um – einen | |
Kilometer weiter in Richtung Butscha. „Hier hören wir den Luftalarm von | |
Hostomel und Butscha gleichzeitig – mit Stereo-Effekt, der eine ertönt | |
verzögert.“ | |
Dass auch Sirenen etwa vor Drohnenattacken nicht immer schützen, musste die | |
Familie im März ganz unmittelbar erfahren: Ihr Haus, das unter der | |
Besatzung verwüstet und beschädigt worden war und in dem nun die aus | |
Cherson geflohenen Schwiegereltern wohnen, wurde vom Splitterflug einer | |
unweit eingeschlagenen Drohne getroffen. Verletzt wurde niemand. | |
Kontaminierte Wälder | |
Während des Gesprächs schwenkt Lazer die Kamera hinaus aus dem | |
Küchenfenster: Ukrainischer Kiefernwald und ein Streifen Jungbäume | |
erscheinen auf der verpixelten Bildfläche. Die Idylle trügt, so gut wie | |
alle Wälder im Norden der Kyjiwer Region seien nach der | |
Tschernobyl-Katastrophe künstlich „zum Schutz“ gepflanzt worden und auf die | |
eine oder andere Art kontaminiert. | |
„Entweder durch [7][Tschernobyl] oder durch die russische Invasion“, meint | |
Taras Lazer, der in der Gegend – in niedergebrannten Dörfern und verminten | |
Wäldern – mitgeholfen hat, Kriegsverbrechen zu dokumentieren. | |
Vor dem Gastspiel von „Shalene/Ver-rückt“ am 24. Februar stellte sich Iryna | |
Lazer die Frage, was es bedeute, das Stück [8][drei Jahre seit Beginn] der | |
Vollinvasion, fast zwei Jahre seit seiner Premiere erneut zu spielen. „Das | |
Stück ist ursprünglich, trotz aller Grausamkeiten, lebensbejahend. Aktuell | |
hält die Realität jedoch wenig Hoffnung für die Zukunft bereit.“ | |
Im musikalischen Hauptmotiv bittet das Mädchen vergeblich um Hilfe gegen | |
die fremde Gewalt – ein Bild, in dem Lazer heute die Ukraine erkennt. „Am | |
Ende sind wir allein mit unserer Verzweiflung und Wut über diesen Wahnsinn, | |
der uns angreift.“ | |
Aktivierendes Potenzial von Musik | |
Die Komponistin, Sängerin und Regisseurin, deren Musik weiterhin im Kyjiwer | |
„Theater am linken Dnipro-Ufer“ im Stück „Dim“ (Haus) zu hören ist, w… | |
wohl nicht auftreten, glaubte sie nicht auch an das aktivierende Potenzial | |
ihrer Musik. „Es geht um Menschen, um ihre Reaktionen“, sagt sie. „Darum, | |
wie wir versuchen, etwas zu überwinden, das man sich kaum vorstellen kann.“ | |
Wenn nur ein Mensch durch das Stück oder ihre Musik seine Meinung ändere, | |
habe sich die Mühe gelohnt. „Es gibt ja Unterstützung, aber manchmal | |
scheint es, als vertiefe sich die Einsamkeit unseres Kampfes.“ | |
Dieser Kampf ums Leben beginnt in der Kriegsrealität schon mit dem | |
Aufstehen: Manchmal müsse sie sich selbst davon überzeugen, dass es gut | |
sei, morgens keinen Luftalarm zu hören. Die widersprüchlichen Reaktionen, | |
das scheinbar unpassende Lachen ihrer Theatercharaktere Anja und Ninka | |
könne sie nun – nach über drei Jahren des Wahnsinns – besser verstehen und | |
wiedergeben. „Es ist, als hätten sich die Konzepte ‚gut‘ und ‚schlecht… | |
verkehrt: Alles ist durcheinander – und das Trauma dauert an.“ | |
24 Jun 2025 | |
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## AUTOREN | |
Elisabeth Bauer | |
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