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# taz.de -- Medizinische Versorgung in Brandenburg: Krankes Land
> In vielen ländlichen Regionen fehlen Ärzt:innen. Gleichzeitig wächst die
> Zahl der Patient:innen. In Lübbenau setzt man auf ein besonderes
> Versorgungskonzept.
Bild: Medizinische Hilfe in vertrauter Umgebung: ein Hausbesuch einer Pflegerin…
Lübbenau taz | Es ist sieben Uhr an einem Dienstagmorgen, als sich Merve
Metin mit Gabi Miemietz trifft. Beide arbeiten im Medizinischen Zentrum
Lübbenau. Heute warten zehn Einsätze auf sie. Die Route ist bereits am
Vorabend abgestimmt. Merve ist Ärztin in Weiterbildung. Gabi ist sogenannte
agneszwei-Fachkraft, speziell geschult, um in der ambulanten Versorgung
mitzuhelfen. Das Konzept steht für „arztentlastende, gemeindenahe,
E-Health-gestützte systemische Versorgung“, und die gibt es in Lübbenau
seit 2006. Die „zwei“ verweist auf die zweite Entwicklungsphase des
Projekts.
Ihr erster Einsatz: ein Hausbesuch bei einem 78-jährigen Patienten mit
multiplen Diagnosen. Der Mann lebt allein, seine Tochter wohnt in
Nordrhein-Westfalen. Seit dem Tod seiner Frau ist er deutlich geschwächt,
braucht Flüssigsauerstoff, kommt ohne Hilfe kaum noch aus der Wohnung. Ein
Pflegegrad wurde bislang aber nicht beantragt. Gabi informiert die
Nachbarin, die dem Patienten im Alltag hilft, dass sie vorbeikommt. Danach
kontaktiert sie den Hausarzt und lässt sich den aktuellen Medikamentenplan
durchgeben. Kurz vor Abfahrt packen sie Pflaster, ein Blutdruckmessgerät,
Formulare und Anträge für Pflege- und Hilfsmittel zusammen. Die beiden
steigen ins Auto. Hausbesuche dürfen nicht begleitet werden.
Gegen 11 Uhr kehrt Merve ins Zentrum zurück. Im Eingangsbereich ist viel
los: Vor der Rezeption und den Türen der Facharztpraxen warten viele
Patientinnen und Patienten, einige mit Rollator. Die Tür der Gynäkologie
bleibt heute geschlossen – die Ärztin ist im Urlaub, eine Vertretung fehlt.
Merve läuft durch den vollen Flur und setzt sich in einen ruhigen
Besprechungsraum. Dort dokumentiert sie die Einsätze und bespricht sie
später mit den Ärztinnen und Ärzten.
Im oberen Stockwerk des Zentrums sitzt Charlotte Bettina Boettcher, die
Geschäftsführerin. In einem großen, hellen Raum am Konferenztisch spricht
sie ruhig, aber bestimmt: Über 20 Ärztinnen und Ärzte arbeiten hier, acht
davon als Hausärzte – trotzdem decken sie nur rund 75 Prozent der
Versorgung ab, so Boettcher. Laut der Kassenärztlichen Bundesvereinigung
(KBV) verzeichnet Brandenburg mit 201,3 zugelassenen Mediziner:innen
pro 100.000 Menschen bundesweit die niedrigste Ärztedichte. Zum Vergleich:
In Berlin sind es 299,1, in Hamburg sogar über 310. Diese Unterversorgung
hängt auch mit den Nachwirkungen der Wende zusammen, als viele medizinische
Strukturen zusammenbrachen und sich bis heute nicht vollständig erholt
haben.
Dabei knüpft das Projekt an Traditionen der DDR-Zeit an, denn da waren
Gemeindeschwestern fester Bestandteil der lokalen
[1][Gesundheitsversorgung]. 2006 wurde es neu gedacht – als agneszwei.
Initiiert wurde es vom Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses,
umgesetzt wird es von der Innovativen Gesundheitsversorgung in Brandenburg
– einem Verbund aus der Kassenärztlichen Vereinigung Brandenburg, der AOK
Nordost, der Barmer und dem Brandenburger Gesundheitsministerium.
## Ohne Fachkräfte reicht es dennoch nicht
Doch der Weg war nicht einfach: Neben finanziellen und rechtlichen Hürden
gab es auch Skepsis von Ärzt:innen und Krankenkassen. Können delegierte
Aufgaben fachlichen Standards genügen? Wie wird Verantwortung verteilt?
Mittlerweile gilt das Projekt als Vorreiter für wohnortnahe
niedrigschwellige Versorgung.
Boettcher beschreibt, wie das agneszwei-Modell die Hausärzte entlasten
soll: Hausbesuche übernehmen speziell geschulte Fachkräfte wie Gabi,
Ärzt:innen fahren nur ausnahmsweise mit, etwa zur Weiterbildung wie bei
Merve. Die Fachkräfte dokumentieren Vitalwerte, koordinieren Nachsorge,
sprechen mit Angehörigen, organisieren Hilfsmittel. Im Zentrum arbeiten
derzeit nur zwei von ihnen. Bezahlt werden die Hausbesuche über eine
Sonderregel der Krankenkassen: 45 Euro pro Besuch, bis zu acht Besuche im
Jahr, bisher allerdings nur für Versicherte der AOK Nordost und der Barmer.
„Das Modell ist ein wichtiger Baustein“, sagt Boettcher. [2][Doch ohne
zusätzliche Fachkräfte werde es nicht reichen]. Gerade für Menschen, die
allein leben, sei die Betreuung im Alltag wichtig, weil die Fachkräfte auch
auf Dinge achten, die sonst oft übersehen werden, wie zum Beispiel die
Barrierefreiheit in der Wohnung. Für viele Patient:innen ist der Besuch
der agneszwei-Fachkräfte mehr als ein medizinischer Check: Es ist oft der
einzige persönliche Kontakt in der Woche. „Das Feedback der
Patient:innen ist durchweg positiv“, sagt Boettcher. Das Vertrauen, das
dabei entstehe, sei mit keinem digitalen System zu ersetzen.
##
Wie es weitergeht, zeigt ein Blick auf Boettchers Schreibtisch: Dort
liegen Notizen für das nächste Projekt. Künftig sollen Vitalwerte, Befunde
und Medikationspläne digital und in Echtzeit in die elektronische
Patientenakte fließen – für Hausarztpraxen, Pflegedienste oder
Sanitätshäuser jederzeit sichtbar. Geplant sind mobile Geräte, mit denen
Fachkräfte unterwegs ein EKG schreiben und direkt übermitteln können. Auch
sogenannte Case- und Care-Manager sollen dabei helfen, Patient:innen
rund um Klinikaufenthalte besser zu betreuen.
Boettcher atmet kurz durch: „Aber das Wichtigste bleibt das Vertrauen.“ Die
Technik kann Abläufe erleichtern, Nähe und persönliche Gespräche aber nicht
ersetzen.
Heute sind rund 140 dieser Fachkräfte in fast allen Landkreisen
Brandenburgs im Einsatz. Auch außerhalb Brandenburgs wird das Konzept
weiterentwickelt: So arbeitet das MVZ Oschersleben in Sachsen-Anhalt mit
sechs sogenannten VERAHs – Versorgungsassistentinnen in der Hausarztpraxis.
In Niedersachsen läuft das Projekt „MoNi“ (Modell Niedersachsen), das
ebenfalls auf die Delegation ärztlicher Aufgaben setzt. Dort liegt der
Schwerpunkt besonders auf praxisnaher Fortbildung, die auch ohne
umfangreiche Zusatzqualifikationen funktioniert.
Diese Beispiele zeigen, dass das Modell Potenzial hat. In Lübbenau etwa
funktioniert es – dank engagierter Fachkräfte, digitaler Unterstützung und
klarer Aufgabenverteilung. Doch andernorts scheiterten ähnliche Projekte
nach der Testphase an fehlender Finanzierung oder politischer
Rückendeckung. Damit solche Ansätze langfristig Wirkung entfalten, braucht
es vor allem eines: verlässliche Strukturen – und den Willen, neue Wege in
der Versorgung zu gehen.
2 Jul 2025
## LINKS
[1] /Gesundheitsversorgung-fuer-Obdachlose/!6085861
[2] /Syrische-Aerzte-in-Deutschland/!6066187
## AUTOREN
Melda Özsoy
## TAGS
Pflege
Gesundheitsvorsorge
Medizin
Brandenburg
Social-Auswahl
Nina Warken Gesundheitsministerin
Ärztemangel
Schwerpunkt Obdachlosigkeit in Berlin
Gesundheitswesen
Schwerpunkt Syrien
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