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# taz.de -- Geplantes Primärarztmodell: Ist da wirklich was, Frau Doktor?
> Die Bundesregierung plant, dass Patient:innen künftig zuerst
> Hausärzt:innen aufsuchen müssen. Würde das den Kampf um
> Facharzttermine erleichtern?
Bild: Hexenschuss oder Akne könnten zukünftig häufiger direkt von Hausärzt:…
Berlin taz | Die junge Frau rief in der Hausarztpraxis von Doktor Margit
Kollmer an. Sie müsse noch an diesem Tag in die Praxis kommen, drängte sie.
Sie brauche dringend eine Überweisung zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt, da sie auf
einem Ohr nichts mehr höre.
Die Hilfesuchende konnte noch am selben Tag in der Praxis der Hausärztin im
niederbayrischen Velden vorsprechen. Doch die Untersuchung zeigte: Eine
Überweisung war überflüssig. Der Gehörgang war lediglich verstopft. Eine
medizinische Fachangestellte spülte das Ohr, entfernte das Ohrenschmalz –
und die Patientin hörte wieder einwandfrei.
„Viele Patienten wollen möglichst schnell zum Facharzt und haben gar nicht
auf dem Schirm, dass der Hausarzt ihr Problem lösen könnte“, sagt Kollmer.
Die Allgemeinmedizinerin verfügt über ein Ultraschallgerät, einen Apparat
zur Lungenfunktionsprüfung, ein Gerät für ein EKG und ein Auflichtmikroskop
zur Hautkrebsfrüherkennung. Hausärzt:innen könnten 80 Prozent der
Patient:innen ohne Überweisung versorgen, sagt Kollmer, die auch
Bezirksvorsitzende für Niederbayern im Hausärztinnen- und Hausärzteverband
ist.
Wer zum Beispiel einen [1][Hexenschuss] habe oder einen auffälligen dunklen
Fleck auf der Haut entdecke, der könne auch in einer Allgemeinarztpraxis
behandelt werden, ohne zum Orthopäden oder zum Dermatologen gehen zu
müssen, erklärt Kollmer. Die meisten Hausärzt:innen, sie eingeschlossen,
haben eine fünfjährige Facharztausbildung in Allgemeinmedizin absolviert.
Kollmer, 47, unterstützt das geplante „Primärarztmodell“ der schwarz-roten
Koalition.
[2][Nach diesem Modell] sollen Hausärzt:innen künftig in der Regel die
erste und oft auch einzige Instanz für Beschwerden werden. Ziel ist es,
Facharztbesuche zu reduzieren, Kosten zu senken und Termine schneller zu
vergeben. Die Regierung setzt „auf ein verbindliches Primärarztsystem bei
freier Auswahl durch Haus- und Kinderärzte“ heißt es im Koalitionsvertrag.
Die Hausärzt:innen fungieren dann als „Primärärzte“, die „den
medizinisch notwendigen Bedarf für einen Facharzttermin“ und auch den dafür
notwendigen „Zeitkorridor“ festlegen sollen, so der Koalitionsvertrag.
## Regelung soll nur für gesetzlich Versicherte gelten
Falls die Patient:innen trotz Überweisung keinen Facharzttermin
erhalten – auch nicht über die Terminservicenummer 116 117 der
Kassenärztlichen Vereinigungen – sollen sie Anspruch auf eine ambulante
Behandlung im Krankenhaus haben, was im Koalitionsvertrag als
„Termingarantie“ bezeichnet wird. Für die Besuche bei Augenärzt:innen
und Gynäkolog:innen soll weiterhin keine Überweisung von
Hausärzt:innen nötig sein.
Derzeit sind nur 38 Prozent der Arztbesuche Hausarzttermine, teilt das
Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (ZI) auf Anfrage der taz
mit. Da wäre also noch Luft nach oben.
Der Vorschlag würde nur für gesetzlich Versicherte gelten und birgt hohes
Konfliktpotenzial. Es schränkt die „freie Arztwahl“ ein, etwa bei Akne
direkt zum Dermatologen zu gehen. Zudem stellt sich die Frage, ob es genug
Hausärzt:innen gibt, vor allem auf dem Land, um den Ansturm zu
bewältigen.
Der Chef des Fachärzteverbandes Spifa, Dirk Heinrich, warnt davor, dass
eine hausärztliche Primärversorgung mit generellem „Überweisungsvorbehalt�…
zur fachärztlichen Versorgung „aus Gründen der hausärztlichen Kapazität e…
Supergau für die medizinische Versorgung“ wäre.
## Odysee bei der Terminsuche
Auch ein Primärarztmodell schafft keine neuen Hausärzt:innen. Für die
Odyssee von Patient:innen ist ein Post wie dieser im
Nachbarschaftsnetzwerk nebenan.de in Berlin-Schöneberg symptomatisch: „Ich
suche einen Hautarzt, bei dem ich nicht einen automatischen
‚Sprachassistenten‘ am Hörer habe, nicht online Termine buchen muss und als
Kassenpatient nicht sechs Monate warten muss. Ich suche dringend einen
Termin für meinen Sohn“ schreibt eine verzweifelte Mutter.
Die Frau, die zuvor schon vergeblich versucht hat, online über Doctolib als
gesetzlich Versicherte einen Termin innerhalb der nächsten drei Monate zu
buchen, bekommt von den Nachbarn im Internet den Tipp, zum Hausarzt zu
gehen und sich eine Überweisung mit Dringlichkeitscode geben zu lassen.
Oder die offene Akutsprechstunde eines Hautarztes am anderen Ende der Stadt
zu nutzen, die er an einem einzigen Tag in der Woche anbietet. „Man muss
früh genug in der Schlange stehen. Es wird nur eine bestimmte Anzahl von
Patienten angenommen“, berichtet jedoch eine Nachbarin.
In den Akutsprechstunden der Fachärzte werden oft aber nur dringende Fälle
behandelt. Ein Berliner Orthopäde etwa bietet täglich am Morgen eine
halbstündige Akutsprechstunde mit [3][„Kurztermin“] an. Es werden nur
Patienten mit „akuten Verletzungen, Unfällen oder postoperativer Betreuung“
versorgt, heißt es aber mahnend auf der Website. Wer da etwa mit einem seit
zwei Wochen bestehenden Hexenschuss bei Orthopäd:innen auftaucht,
könnte kritische Worte riskieren.
Es wäre aber nicht fair, die Fachärzt:innen allein für die Terminmisere
verantwortlich zu machen. Sie unterliegen einer Honorardeckelung und
[4][nehmen daher oft keine neuen gesetzlich Versicherten auf], da die
Vergütung begrenzt ist. Diese Deckelung, auch Budgetierung genannt, wurde
noch von der Ampelregierung nur für Allgemeinärzt:innen aufgehoben und
wird seit dem vierten Quartal 2025 für diese nicht mehr gelten.
## In Großbritannien geht ohne Überweisung nichts
Doch auch Hausärzt:innen priorisieren nach Dringlichkeit. Deren
geschultes Personal kann schon am Telefon eine Ersteinschätzung der
Beschwerden geben. Die Praxisgemeinschaft [5][„die Hausärzte“] in
Berlin-Prenzlauer-Berg bietet täglich offene Akutsprechstunden an für
Patienten, deren Beschwerden „in den letzten zwei Tagen neu aufgetreten
sind“ oder die sich innerhalb der letzten zwei Tage „deutlich
verschlechtert“ haben, heißt es auf der Website. Der Termin beinhalte nur
fünf Minuten. Für andere Behandlungen muss ein Termin mit längerem Vorlauf
vereinbart werden.
Ob das Primärarztmodell die Arztsuche erleichtern würde, bleibt also
fraglich. Für Rheumapatient:innen, die nur alle vier Monate einen Termin
beim Spezialisten bekommen, dürfte sich wenig ändern, ebenso wenig für
andere chronisch Kranke, die von überlaufenen Fachärzt:innen versorgt
werden müssen. Doch Beschwerden wie Hexenschuss, Akne oder Hautflecken
könnten häufiger direkt von Hausärzt:innen behandelt werden.
In anderen europäischen Ländern, etwa Großbritannien, spielen
Allgemeinärzt:innen schon jetzt die zentrale Rolle in der Versorgung.
Ohne Überweisung läuft gar nichts. Auf einer Website [6][des britischen
Gesundheitsdienstes NHS] etwa wird bei einer Erkrankung wie Akne erst mal
zur Selbsthilfe und richtigen Hautpflege geraten, dann kommt der Tipp, die
örtliche Apotheke zu konsultieren und nach Salben und Gels zu fragen. Nur
bei schweren Fällen soll der Allgemeinarzt konsultiert werden. Ein Facharzt
wird gar nicht erwähnt.
Ein Gesetzentwurf zum Primärarztmodell liegt noch nicht vor. Unklar ist
etwa, wie Patient:innen sanktioniert werden, die Fachärzt:innen ohne
Überweisung aufsuchen. Versicherte, die „weiterhin direkt und ungesteuert
Fachärzte aufsuchten“, sollen sich künftig „an den Kosten beteiligen“,
forderte der Vorstandsvorsitzende der [7][kassenärztlichen
Bundesvereinigung (KBV)], Andreas Gassen, der das Modell unterstützt.
Der Hausärztinnenverband ist ebenfalls für das Modell. Auf dem
Bundesfortbildungskongress für Allgemeinmedizin kürzlich in Berlin warnten
Fachleute jedoch vor einem Gesetz, das in der Öffentlichkeit dann
möglicherweise nur als Verbot der freien Arztwahl wahrgenommen werden
könnte. Die Co-Vorsitzende des Hausärzteverbandes, Nicola
Buhlinger-Göpfarth, sagte, „wir müssen aufpassen, dass wir aus dem Ding
kein zweites Heizungsgesetz machen.“
Wie stark das Patientenaufkommen bei Hausärzt:innen bei Einführung des
Modells steigen würde, hat das Zentralinstitut für die kassenärztliche
Versorgung ausgerechnet. Dabei wurde berücksichtigt, dass die meisten
Menschen neben ihren Facharztkontakten auch jetzt schon eine:n
Hausarzt:in haben. Es erwartet, dass Hausärzt:innen mit zwei bis fünf
zusätzlichen Patient:innenkontakten pro Sprechstundentag rechnen
müssten.
Doktor Margit Kollmer in Velden sorgt sich nicht um einen möglichen
Mehraufwand. Sie behandelt bereits 65 Patient:innen täglich. Die Ärztin
wünscht sich, „dass die Patientinnen und Patienten mehr eigene
Kompetenz entwickeln, ihre Beschwerden einzuschätzen und selbst etwas für
ihre Gesundheit tun. Wenn die Patienten selbstständiger wären auch im
Umgang mit sich selbst, wäre das der größte Fortschritt“, ist sie
überzeugt.
3 Jul 2025
## LINKS
[1] /Die-Wahrheit/!6094519
[2] https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag2025_bf.pdf
[3] https://www.prouh-orthopaedie.de/akutsprechstunde-berlin
[4] https://www.virchowbund.de/praxisaerzte-blog/das-gift-im-gesundheitswesen-d…
[5] https://www.die-hausaerzte.berlin/sprechstunde/wartezeiten-verkuerzen/
[6] https://www.nhs.uk/conditions/acne/
[7] https://www.kbv.de/html/1150_74937.php
## AUTOREN
Barbara Dribbusch
## TAGS
Ärztemangel
Hausarzt
Behandlung
Gesundheit
Bundesregierung
GNS
Pflege
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