# taz.de -- Integrationsbeauftragte Natalie Pawlik: „Wir sprechen zu viel üb… | |
> Professionell arbeite sie mit CSU-Innenminister zusammen, sagt die | |
> SPD-Politikerin. Sie übt Kritik an Dobrindt, verteidigt aber die | |
> Kompromisse der Koalition | |
Bild: Die neue Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und… | |
taz: Frau Pawlik, die Bundesregierung setzt gerade um, was die Union | |
[1][„Asylwende“] nennt: Zurückweisungen von Geflüchteten, verstärkte | |
Grenzkontrollen und [2][Aussetzung des Familiennachzugs] für subsidiär | |
Geschützte. Unterstützen Sie diese Asylpolitik? | |
Natalie Pawlik: Ich halte den Begriff Asylwende für irreführend und zu kurz | |
gegriffen. Und ich sehe viele Maßnahmen aus humanitären Gründen kritisch, | |
insbesondere den ausgesetzten Familiennachzug. Menschen, die ihre Familie | |
um sich haben, integrieren sich nachweislich besser. Am Ende ist der | |
Koalitionsvertrag ein politischer Kompromiss. Und ich sehe auch viel | |
Positives darin, darüber sprechen wir zu wenig. | |
taz: Das Bundesinnenministerium unter Alexander Dobrindt (CSU) lässt die | |
Zurückweisungen weiterlaufen, [3][obwohl Richter dies im Fall dreier | |
Somalier*innen für rechtswidrig erklärt haben.] Finden Sie das richtig? | |
Pawlik: Ich erwarte, dass der Bundesinnenminister und sein Ministerium | |
rechtssicher handeln. Das ist eine Selbstverständlichkeit. | |
taz: Wie läuft denn die Zusammenarbeit mit Dobrindt? | |
Pawlik: Professionell. Auch wenn wir bei einzelnen Themen unterschiedliche | |
Positionen haben, sehe ich mich nicht als sein Gegenpart. Ich arbeite | |
dafür, dass wir zusammen die Grundlagen für Integration in unserem Land | |
verbessern. | |
taz: Würden Sie auch Rechtsanwältinnen und Kirchen als | |
„Anti-Abschiebe-Industrie“ bezeichnen, [4][wie es Dobrindt vor ein paar | |
Jahren getan hat]? | |
Pawlik: Nein. Das halte ich für populistisch. Beide Akteure leisten einen | |
wichtigen Beitrag für die Gesellschaft. | |
taz: [5][Vor über einer Woche gab es in Syrien einen islamistischen | |
Anschlag mit über 20 Toten]. Union und SPD wollen dorthin wieder | |
abschieben. Ist das vertretbar? | |
Pawlik: Die Lage in Syrien ist noch sehr fragil. Die Bundesregierung und | |
die Behörden haben das sehr genau im Blick. Grundsätzlich halte ich nichts | |
davon, Menschen in Kriegs- und Krisengebiete abzuschieben, wo sie nicht | |
sicher leben können. | |
taz: [6][Dann sind da die über 2.000 Afghan*innen, die in Pakistan | |
festsitzen, obwohl sie eine Aufnahmezusage Deutschlands haben.] Die Union | |
will sie offenbar dort zurücklassen … | |
Pawlik: Deutschland muss zu seinen Zusagen stehen. Diese Menschen sollten | |
eine Aufnahmeperspektive bekommen. Wir haben eine Verantwortung für sie. | |
Und Aufnahmeprogramme für besonders schutzbedürftige Menschen sind ein | |
wichtiges Instrument für legale und sichere Einwanderungswege. | |
taz: Hat die Bundesregierung solche Programme nicht gerade erst gestoppt? | |
Pawlik: Mir geht es grundsätzlich um Resettlementprogramme, bei denen der | |
Schutzanspruch vor der Einreise geprüft wird. Damit können wir dazu | |
beitragen, Flucht human, aber geordnet ablaufen zu lassen. Diese Programme | |
sind aktuell unterbrochen, ich setze mich für eine rasche Wiederaufnahme | |
ein. Eine Umsetzung der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems | |
ohne Resettlement kann es nicht geben. | |
taz: Sollen diese Programme das individuelle Asylrecht ersetzen? | |
Pawlik: Nein, Resettlement ergänzt den individuellen Flüchtlingsschutz über | |
Asylverfahren. | |
taz: Der Hamas-Angriff am 7. Oktober und der folgende Krieg in Gaza | |
polarisieren auch hier. [7][Vor Kurzem gab es in Berlin eine große Demo für | |
Solidarität mit den Menschen in Gaza]. Kernforderung: Deutschland soll | |
aufhören, Waffen an Israel zu liefern. Wie sehen Sie das? | |
Pawlik: Die Situation in Gaza treibt mich natürlich auch um. Die Menschen | |
vor Ort leiden und sind von humanitärer Hilfe abgeschnitten. | |
Waffenlieferungen zu überprüfen halte ich grundsätzlich für sinnvoll, egal | |
wohin. Israel muss sich an Völkerrecht halten, auch was den Schutz der | |
Zivilbevölkerung angeht. | |
taz: Auf der Demo waren unter anderem Flaggen des IS und der Taliban zu | |
sehen. Teilnehmer*innen sollen auch antisemitische Parolen skandiert | |
haben. | |
Pawlik: Menschen, die hier leben, sollten unsere Werte teilen und hinter | |
der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen. Islamismus ist damit | |
nicht vereinbar. Ich unterstütze deshalb auch Präventionsprojekte gegen | |
Extremismus und Dialogprojekte etwa zwischen Muslimen und Juden, die gegen | |
menschenverachtende Ideologien aufklären. | |
taz: Bisher setzen Behörden und Politik gegenüber propalästinensischen | |
Demonstrationen vor allem auf Repression. Manche dieser Maßnahmen werden | |
hinterher vor Gericht wieder kassiert. Ist das wirklich sinnvoll? | |
Pawlik: Wer hier friedlich demonstriert, ist durch das Grundgesetz | |
geschützt. Das Vorgehen der Sicherheitskräfte und die Maßnahmen der Politik | |
sind die Konsequenz daraus, dass es wiederholt zu Rechtsverstößen und | |
antisemitischen Vorfällen kam. In einer Demokratie ist es dann aber auch | |
essenziell, dass Gerichte solche Maßnahmen unabhängig überprüfen. | |
taz: Treibt das Thema die deutsche Einwanderungsgesellschaft auseinander? | |
Pawlik: Die Situation in Nahost wühlt die Menschen seit Langem auf. Die | |
große Mehrheit der Menschen, die hier leben, möchte Frieden in der Region. | |
taz: Bisher war die Stelle der Integrations- und Antirassismusbeauftragten | |
im Kanzleramt angesiedelt. Jetzt wurden Sie ins Arbeitsministerium verlegt. | |
Ist das eigentlich ein Abstieg? | |
Pawlik: Keineswegs. Die Integrationsbeauftragte war in der Vergangenheit | |
verschiedenen Ministerien zugeordnet. Das Arbeitsministerium ist jetzt ein | |
guter Anker, denn zu gelungener Integration gehört auch die Teilhabe am | |
Arbeitsmarkt. Da läuft es ja derzeit nicht überall rund. Die schleppende | |
Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse ist zum Beispiel ein großes | |
Hindernis. | |
taz: Stehen bei Ihnen künftig dann vor allem wirtschaftliche Aspekte im | |
Vordergrund, etwa die Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland? | |
Pawlik: Nein. Teilhabe am Arbeitsmarkt ist eine wichtige Voraussetzung, um | |
sich gut in unsere Gesellschaft einzufinden. Natürlich geht es bei meiner | |
Arbeit auch um die Anwerbung von Fachkräften. Aber es gibt ja auch sehr | |
viele Menschen, die schon lange hier sind, ihr Potenzial aber bisher aus | |
unterschiedlichen Gründen nicht entfalten konnten. | |
taz: Die Anwerbung von Fachkräften dürfte ganz entscheidend dafür werden, | |
ob die deutsche Wirtschaft aus der Krise kommt. Der Koalitionsvertrag ist | |
aber ein bisschen dünn, wenn es um konkrete Maßnahmen geht … | |
Pawlik: Das sehe ich nicht so. Der Prozess der Anwerbung läuft seit | |
Längerem, und hier müssen wir besser werden. Dafür schaffen wir nun eine | |
Work-and-Stay- Agentur, die alle Prozesse aus einer Hand ermöglicht. Und | |
wir setzen auf die Digitalisierung der Verwaltung sowie die Entlastung der | |
Ausländerbehörden. Wir werden Integrations- und Sprachkurse ausbauen und es | |
ausländischen Studierenden ermöglichen, nach dem Abschluss ganz einfach | |
hier bleiben zu können und zu arbeiten. | |
taz: Was sind darüber hinaus Ihre zentralen Vorhaben? | |
Pawlik: Ich finde, wir sprechen zu viel über Rückführungen und Abschottung, | |
aber viel zu wenig über eine gute Infrastruktur für Integration bei uns. Es | |
geht darum, wie wir eine Gesellschaft schaffen, in der jeder Mensch | |
unabhängig von seiner Herkunft die besten Chancen erhält. Das fängt bei den | |
Kleinsten in Kitas und Grundschulen an. Deshalb ist es wichtig, dass der | |
Bund mehr in Bildung und Integration investiert und wir das | |
Startchancen-Programm ausbauen … | |
taz: … ein Förderprogramm, über das Schulen mit vielen benachteiligten | |
Schüler*innen zusätzliches Geld bekommen … | |
Pawlik: Genau. Wir werden das jetzt auf Kitas ausweiten, weil gute | |
Startbedingungen essenziell sind für den Lebensweg. Ich habe das selbst | |
erfahren, als ich mit sechs Jahren aus Sibirien nach Deutschland gekommen | |
bin. Die Erfahrungen, die ich Anfang der 2000er Jahre gemacht habe, sind | |
bis heute die Lebensrealität ganz vieler Kinder und Jugendlicher. Ich weiß, | |
was es bedeutet, wenn einem die Eltern nicht bei den Hausaufgaben helfen | |
können, einfach weil sie die Sprache nicht sprechen. Oder wie unfair es | |
ist, wenn Eltern keine Nachhilfe bezahlen können, obwohl sie arbeiten. | |
Soziale Herkunft entscheidet immer noch über die Lebenschancen. | |
taz: Eins der Vorzeigeprojekte der Ampel beim Thema Integration war das | |
Chancenaufenthaltsrecht: Langzeitgeduldete bekommen einen legalen | |
Aufenthalt, wenn sie es schaffen, bestimmte Bedingungen zu erfüllen – etwa, | |
ihren Lebensunterhalt zu sichern. Jetzt soll das deutlich restriktiver | |
werden. Ist das schlau? | |
Pawlik: Es macht keinen Sinn, Menschen jahrzehntelang in der Duldung zu | |
belassen. Ich halte es für sinnvoll, dass Menschen, die Deutsch lernen, | |
sich integrieren und ihren Lebensunterhalt auch selbst verdienen, eine | |
faire Chance erhalten. Es geht dabei auch darum, die Realität anzuerkennen. | |
Viele Menschen in der Dauerduldung sind schon lange Teil der Gesellschaft. | |
Wir brauchen mehr Pragmatismus. | |
taz: Eine IAB-Studie hat vor wenigen Tagen gezeigt, dass nur 57 Prozent der | |
Zugewanderten dauerhaft in Deutschland bleiben und vor allem Fachkräfte | |
oft gehen wollen. Gründe sind etwa allgemeine Unzufriedenheit, hohe Steuern | |
und Bürokratie. Was folgt daraus für die Bundesregierung? | |
Pawlik: Hier müssen wir gegensteuern, wenn Menschen Deutschland verlassen, | |
weil sie sich hier nicht wohl und willkommen fühlen. Da spielt natürlich | |
auch das Thema Rassismus eine Rolle. Als Antirassismusbeauftragte ist das | |
ein klarer Handlungsauftrag. | |
taz: Auch an die eigene Regierungskoalition? Die Ampel hat Einbürgerungen | |
erleichtert. Unionspolitiker*innen sprachen damals von einer | |
„Verramschung“ des deutschen Passes. Jetzt schaffen Union und SPD die | |
Einbürgerung nach schon drei Jahren für besonders gut integrierte Menschen | |
wieder ab. Hält man so Fachkräfte im Land? | |
Pawlik: Diese Rhetorik ist nicht klug. Und ich halte auch das Ende dieser | |
schnelleren Einbürgerungen für nachteilig, weil es Menschen ausbremst, die | |
sich besonders bei Integration anstrengen. Aber wie gesagt: Der | |
Koalitionsvertrag ist ein Kompromiss. Der beinhaltet auch, dass der Rest | |
der großen Reform des Staatsbürgerschaftsrechts aus dem letzten Jahr | |
bleibt. | |
taz: Auch nicht besonders hilfreich für die Attraktivität Deutschlands ist | |
die AfD, die inzwischen eine echte Bedrohung für die Demokratie ist und | |
offen gegen Menschen mit Migrationshintergrund hetzt. Braucht es ein | |
Verbot? | |
Pawlik: Ich bin dafür, dass wir die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit | |
einleiten. Grundsätzlich müssen wir aber daran arbeiten, | |
rechtsextremistische Ideologie aus den Köpfen der Menschen zu bekommen. | |
30 Jun 2025 | |
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