| # taz.de -- Neurowissenschaftlerin: „Hirnprozesse führen dazu, dass wir entm… | |
| > Leor Zmigrod hat ideologisches Denken untersucht. Sie erklärt, was | |
| > Hirnscans zeigen, wie Dschihadisten ticken und warum Social Media | |
| > extremes Denken befeuert. | |
| Bild: „Hirnprozesse führen dazu, dass wir uns gegenseitig diskriminieren und… | |
| taz: Frau Zmigrod, Sie haben mithilfe von MRTs und Hirnscans ideologische | |
| Denkstrukturen im Gehirn untersucht. Wozu braucht es diesen neuen Ansatz? | |
| Leor Zmigrod: Ich habe vor über zehn Jahren begonnen, mich damit zu | |
| beschäftigen, warum Menschen sich radikalisieren. Dabei fiel mir auf, dass | |
| sich die Analyse vor allem auf demografische Faktoren wie Alter und | |
| Geschlecht, Bildungsgrad oder sozioökonomischen Status konzentrierte. Warum | |
| aber sind von jenen Menschen, die unter ähnlichen Bedingungen leben, manche | |
| bereit, für eine Ideologie alles zu opfern – und andere nicht? Wir können | |
| das besser verstehen, wenn wir uns die Mechanismen des Gehirns anschauen, | |
| die bei ideologischem Denken wirken. | |
| taz: Was haben Sie herausgefunden? | |
| Zmigrod: Ich habe festgestellt, dass Menschen mit bestimmten Denkmustern | |
| und Gehirnmerkmalen von Ideologien angezogen werden – unabhängig von deren | |
| Art und Ausrichtung. Dabei hat mich die kognitive Rigidität interessiert. | |
| Kognitiv rigiden Personen fehlt die Fähigkeit, sich anzupassen und zwischen | |
| verschiedenen Denkweisen zu wechseln. Sie verharren in starren Denkmustern. | |
| Ich habe einen Test mit tausenden Teilnehmer*innen durchgeführt: | |
| Proband*innen müssen Karten nach einer bestimmten Regel sortieren, die | |
| sie durch Trial and Error schnell herausfinden – denn sie erhalten eine | |
| Belohnung bei der richtigen Anwendung. Also zum Beispiel, dass auf ein | |
| bestimmtes Symbol ein anderes Symbol folgt. Irgendwann im Spiel ändert sich | |
| die Regel, ohne dass die Teilnehmer*innen davon wissen. Dieser Moment | |
| interessiert mich. Einige sind kognitiv flexibler und ändern ihr Verhalten | |
| schnell, andere wenden immer wieder die alte Regel an, obwohl die | |
| Belohnungen ausbleiben. | |
| taz: Sie unterscheiden zwischen rigiden und flexiblen Denkstrukturen. Ist | |
| das ein Dualismus für Sie? | |
| Zmigrod: Nein, das ist nichts Binäres, es gibt nicht auf der einen Seite | |
| die flexiblen und auf der anderen Seite die rigiden Menschen. Die Mehrheit | |
| der Menschen liegt irgendwo dazwischen. | |
| taz: Noch mal einen Schritt zurück. Wie würden Sie Ideologie definieren? | |
| Zmigrod: Wer ideologisch denkt, hält sich streng an moralische Regeln, an | |
| vorgegebene Denkweisen. Auch wenn Beweise vorliegen, die sein Weltbild ins | |
| Wanken bringen, wird er sich gegen diese verwehren. | |
| [1][Verschwörungserzählungen] sind ein prototypisches Beispiel für | |
| ideologisches Denken. | |
| taz: Sie stützen sich auf Geisteswissenschaftler*innen, verweisen | |
| auf die Kritische Theorie und Adornos und Else Frenkel-Brunswiks „Studien | |
| zum autoritären Charakter“. Was kann die „politische Neurobiologie“ dem | |
| hinzufügen? | |
| Zmigrod: Sie kann andere Wissenschaftszweige oder Methoden nicht ersetzen, | |
| aber sie kann etwas zur Diskussion beitragen. Sie kann eine Art Mikroskop | |
| sein, um zu sehen, was passiert, wenn das ideologische Denken im Gehirn | |
| übernommen hat. | |
| taz: Entspricht denn der „rigide Charakter“, wie Sie ihn nennen, jenem | |
| „autoritären Charakter“? | |
| Zmigrod: Die Methoden, die die Autor*innen der Studie damals | |
| verwendeten, waren viel rudimentärer. Sie konzentrierten sich auf | |
| psychoanalytische Methoden, sie verwendeten Fragebögen, aber es waren immer | |
| die Menschen selbst, die Auskunft über ihre Persönlichkeit gaben. Das ist | |
| heute anders, wir können mit MRTs die Gehirnaktivität sichtbar machen. | |
| Damals konzentrierten sich die Wissenschaftler*innen nach den | |
| Erfahrungen des Faschismus auf den rechten Autoritarismus. Das ist auch ein | |
| Unterschied zu unseren Untersuchungen: Die kognitive Rigidität, die wir | |
| beschreiben, ist anfällig für extremistische Ideologie jedweder Art, ob | |
| rechts oder links. | |
| taz: Stützen Sie mit Ihren Erkenntnissen die Hufeisentheorie? | |
| Zmigrod: Nein. Es geht uns gar nicht um die tatsächlichen politischen | |
| Bewegungen. Unser Fokus liegt auf der psychologischen Veranlagung der | |
| Person. In den Daten sehen wir, dass extreme Linke und extreme Rechte in | |
| puncto kognitive Rigidität Ähnlichkeiten aufweisen. Es gibt viele weitere | |
| Faktoren, die dazu führen können, dass jemand extrem links oder extrem | |
| rechts denkt. | |
| taz: Dennoch könnte man Ihren Ansatz für deterministisch halten. | |
| Zmigrod: Das ist er nicht. Bei biologischen Prozessen geht es nicht | |
| zwangsläufig um etwas (genetisch) Vorherbestimmtes. Was wir feststellen | |
| können, ist, dass es biologische und psychologische Marker gibt, die | |
| Menschen für Ideologien prädisponieren. Doch dabei handelt es sich immer | |
| noch um Potenziale und Wahrscheinlichkeiten, nicht um ein vorherbestimmtes | |
| Verhalten. Für mich steckt in unserem Ansatz sogar eher eine | |
| emanzipatorische Hoffnung: Tatsächlich zeigen viele Forschungen, dass man | |
| eine andere Wahl treffen kann, dass Hirnstrukturen veränderbar sind. | |
| taz: „Das eigentliche Ziel der totalitären Ideologie ist nicht die | |
| Umformung der äußeren Bedingungen menschlicher Existenz (…), sondern die | |
| Transformation der menschlichen Natur selbst“, hat Hannah Arendt | |
| geschrieben – schließen Sie an diese Idee an? | |
| Zmigrod: Ja. [2][Ideologien] verdrängen alte Denkweisen und ersetzen sie | |
| durch neue. Sie verändern unsere Kognition, unsere Reflexe, unsere | |
| biologische Natur. Vielleicht sogar bis zu einem Grad, den Arendt nicht | |
| geahnt hat. | |
| taz: Inwiefern? | |
| Zmigrod: Gelegentlich– wie in ihrer Analyse von Adolf Eichmann – hat Arendt | |
| argumentiert, dass „Gedankenlosigkeit“ und „Oberflächlichkeit“ Menschen | |
| dazu bringen, ideologische Verbrechen zu begehen. Ich denke, die neue | |
| Wissenschaft stellt diese Annahme infrage: Es gibt tiefgreifende und | |
| komplexe Veränderungen, die im Gehirn und Körper ideologischer Gläubiger | |
| stattfinden. | |
| taz: Wenn Medien über Anschläge berichten, wird oft gefragt, ob ideologisch | |
| motivierter Terror oder eine psychische Störung ursächlich war. Kommt in | |
| Wirklichkeit oft beides zusammen? | |
| Zmigrod: Ja. Wenn eine Person sehr ideologisch, sehr radikal und extrem | |
| wird und bereit ist, anderen Menschen Schaden zuzufügen, haben sich in ihr | |
| viele psychologische Prozesse verändert oder verstärkt, die zu diesem | |
| Zustand geführt haben. | |
| taz: Sie zitieren eine Studie, in der man die neuronalen Muster von | |
| Dschihadisten untersucht hat. Was hat man dabei herausgefunden? | |
| Zmigrod: Diese Studie hat sich mit „heiligen Werten“ befasst, also | |
| Überzeugungen, für die Menschen bereit sind zu sterben. Man kann | |
| tatsächlich sehen, wie bestimmte Netzwerke im Gehirn aktiviert werden, wenn | |
| militante Menschen mit einer fundamentalistischen Ideologie über diese | |
| heiligen Werte nachdenken. In einem Experiment haben die Forscher*innen | |
| herausgefunden, dass diese Menschen noch mehr zu absoluten heiligen Werten | |
| neigten, wenn sie sich sozial ausgegrenzt fühlten. | |
| taz: Trägt Einsamkeit also zur Radikalisierung bei? | |
| Zmigrod: Ja, das kann sie. In einer interessanten Studie fanden Forscher | |
| heraus, dass Menschen, die in den USA wegen terroristischer Anschläge | |
| verurteilt wurden – aufgrund rechtsextremer, linksextremer oder religiös | |
| fundamentalistischer Ideologien –, fast immer im Jahr vor ihrer Tat einen | |
| persönlichen Zusammenbruch erlebt hatten, beispielsweise aufgrund von | |
| Zäsuren in sozialen, beruflichen oder familiären Beziehungen. | |
| taz: Sie haben auch die Denkweisen von Menschen zu Ungleichheit untersucht. | |
| Zmigrod: Ja. Wir hatten Menschen als Probanden, von denen eine Hälfte | |
| sagte, dass soziale Ungleichheit in der menschlichen Natur liegt und in | |
| Ordnung ist, und die andere, dass Ungleichheit nicht akzeptabel ist. Wir | |
| haben beiden Personengruppen ein Video gezeigt, in dem ein Obdachloser über | |
| die Schwierigkeiten und Härten seines Lebens sprach, über das Leid, das er | |
| jeden Tag durchmacht. Die erste Gruppe reagierte körperlich gar nicht, | |
| während sich bei der zweiten Gruppe der Körper veränderte, die Herzfrequenz | |
| stieg. Ideologie erreicht also sogar die unsichtbarsten physiologischen | |
| Reaktionen des Nervensystems. | |
| taz: Sie vermessen Dopaminkonzentrationen im Gehirn oder die Aktivität der | |
| Amygdala: jene Struktur, die negative Emotionen wie Angst, Ärger, Ekel und | |
| Gefahr steuert. Wie können uns diese Erkenntnisse helfen? | |
| Zmigrod: Die untersuchten Hirnprozesse führen dazu, dass wir uns | |
| gegenseitig entmenschlichen, diskriminieren und rassistisch behandeln. Wir | |
| wissen zudem, dass ideologische Führer diese Prozesse ausnutzen können. | |
| Menschen auf bestimmte Weise zu stressen – indem man zum Beispiel | |
| Ressourcenknappheit als großes Problem darstellt –, kann zum Beispiel ein | |
| wirksames und gefährliches Mittel sein, um Diskriminierungsmuster zu | |
| aktivieren. | |
| taz: Nehmen wir ein konkretes Beispiel: die Weltbilder rechter männlicher | |
| Jugendlicher in Deutschland. | |
| Zmigrod: Zu den wichtigsten Faktoren, die viele junge Männer zu extrem | |
| frauenfeindlichen und rechten Ideologien treiben, zählen heute die sozialen | |
| Medien. Die Algorithmen, die die sozialen Medien steuern, sind so | |
| beschaffen, dass sie möglichst binär und emotional negativ sind, um die | |
| Angst, den Ekel und die Bedrohungsgefühle anzusprechen, für die die | |
| Amygdala zuständig ist. Durch die politische Neurobiologie verstehen wir, | |
| inwiefern bestimmte Denkmuster anfällig dafür sind und wie umgekehrt Inhalt | |
| und Form von Social Media bestimmte Denkweisen weiter verstärken. | |
| taz: Was folgt für Sie daraus? | |
| Zmigrod: Wir müssen darüber nachdenken, ob wir das weiter zulassen wollen | |
| und wie wir die digitalen Medien verbessern können. Gleichzeitig sollten | |
| wir versuchen, die psychische Widerstandsfähigkeit zu stärken – nicht nur | |
| junger Menschen, sondern der Nutzer*innen insgesamt. | |
| 23 Jun 2025 | |
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