| # taz.de -- Soziologe über Krise der Öko-Bewegung: Die demokratische Verstopf… | |
| > Der Wissenschaftler Ingolfur Blühdorn erforscht Widersprüche | |
| > öko-emanzipatorischer Bewegungen und ihr Bestreben, die Demokratie zu | |
| > demokratisieren. | |
| Bild: Das „Black Lives Matter“-Wahrzeichen, einen Block vom Weißen Haus en… | |
| taz: Herr Blühdorn, laut Ihnen ist die europäische Aufklärungserzählung am | |
| Ende und wir befinden uns auf dem Weg in eine dritte Moderne jenseits von | |
| Kant. Worauf begründen Sie das? | |
| Ingolfur Blühdorn: Ich glaube nicht, dass diese Erzählung ganz am Ende ist, | |
| aber viele Menschen sehen wichtige Elemente dieser Aufklärungserzählung | |
| offenbar als überholt, unbequem und beschränkend. In meinem Buch | |
| „Unhaltbarkeit“ geht es um die offensichtliche Krise des Projekts einer | |
| sozial-ökologischen Transformation unserer Gesellschaften sowie um die | |
| ebenso offensichtliche Krise der westlichen Moderne und der liberalen | |
| Weltordnung. Alle drei beruhten auf den sogenannten westlichen Werten wie | |
| Freiheit, Gleichheit, Selbstbestimmung, universelle Menschenrechte, die | |
| Unantastbarkeit der Würde des Menschen, Demokratie, Gewaltenteilung, | |
| Pressefreiheit, Rechtsstaatlichkeit, Völkerrecht, etc. | |
| taz: Und diese Werte verlieren heute an gesellschaftlichem Rückhalt? | |
| Blühdorn: Die Krise des emanzipatorisch-ökologischen Projekts zeigt sich | |
| zum Beispiel darin, dass grüne Parteien in den letzten Wahlen überall | |
| massiv an Stimmen eingebüßt haben. Und darin, dass Umwelt-, Klima- und | |
| Nachhaltigkeitsthemen in jüngster Zeit massiv an politischer Bedeutung | |
| verloren haben. Und öko-emanzipatorische Themen sind unter dem Schlagwort | |
| „links-grüne Wokeness-Ideologie“ zum zentralen Zünder für | |
| rechtspopulistische Bewegungen und Parteien geworden. Am offensichtlichsten | |
| zeigt sich die Krise der westlichen Moderne und der liberalen Weltordnung | |
| aber im autokratisch-autoritären Regimewechsel in den USA. | |
| taz: Lässt Sie das gruseln? | |
| Blühdorn: Für mich ist dieser Regimewechsel ebenso wie das [1][Recht des | |
| Stärkeren], das nun offenbar an die Stelle der Werte tritt, für die der | |
| sogenannte „freie Westen“ stand, in der Tat „zum Gruseln“. Aber in Teil… | |
| der Welt, wo „westliche Werte“ oder die Rede von „universellen | |
| Menschenrechten“ schon immer als ein imperiales Projekt gesehen wurden, | |
| sieht man sich eher im Morgenrot, nicht in einer Abenddämmerung. Eine | |
| wesentliche Frage des Buches ist, unter welchen Bedingungen wir das „zum | |
| Gruseln“ finden, und ob es vorstellbar ist, dass dieses Dystopische für uns | |
| seinen Schrecken verliert. | |
| taz: Auch aus der alternativen Transformationsbewegung, die Sie als | |
| „öko-emanzipatorisch“ bezeichnen, sei die Luft raus. Schlimmer noch: Laut | |
| Ihnen habe genau diese Bewegung maßgeblich zu dem Umbruch beigetragen. | |
| Blühdorn: Im Moment ist offensichtlich, dass es um Bewegungen wie | |
| [2][Fridays for Future] oder auch Black Lives Matter, die vor relativ | |
| kurzer Zeit noch erhebliche Mobilisierungskraft hatten, inzwischen wieder | |
| sehr still geworden ist. Zweitens stellen wir fest, dass rechte Bewegungen | |
| sich viel von der links-emanzipatorischen Rhetorik angeeignet haben, aber | |
| völlig andere Ziele verfolgen: antiegalitäre, illiberale, | |
| demokratieskeptische, wissenschaftsskeptische, nationalistische Ziele. Zu | |
| diesem Umbruch haben die öko-emanzipatorischen Bewegungen wohl ungewollt | |
| selbst mit beigetragen. | |
| taz: Beispielsweise, dass „Demokratisierungen der Demokratie“, wie Sie es | |
| nennen, zum Problem werden? | |
| Blühdorn: Es ist hilfreich, sich daran zu erinnern, dass die | |
| ökologisch-emanzipatorischen Bewegungen der 1970er- und 1980er-Jahre die | |
| liberale Demokratie kritisierten, weil sie viel zu individualistisch sei | |
| und nie wirklich auf das Gemeinwohl ziele. Vielmehr schütze sie die | |
| privaten Interessen relativ kleiner, ohnehin schon privilegierter Eliten | |
| und sei letztlich strukturell ungeeignet, das öffentliche Interesse | |
| umzusetzen und Gemeingüter wie eine intakte Umwelt effektiv zu schützen. | |
| taz: Die sozialen Bewegungen betrachteten die liberale Demokratie als | |
| defizitär? | |
| Blühdorn: Ja. Sie forderten eine wahre Demokratie, in der wirklich die | |
| mündigen Bürgerinnen und Bürger der politische Souverän sein sollten. Diese | |
| wahre Demokratie sollte schrittweise verwirklicht werden, indem die | |
| politischen Beteiligungs- und Kontrollmöglichkeiten für die Menschen | |
| ausgebaut wurden. Die bisher bloß repräsentative Demokratie sollte so in | |
| eine möglichst direkte Demokratie, eine Basisdemokratie weiterentwickelt | |
| werden, und diesen Prozess nannte man damals die Demokratisierung der | |
| Demokratie. Dieses Projekt beruhte aber unter anderem auf der Annahme, dass | |
| die Ausweitung der demokratischen Beteiligungsmöglichkeiten zu qualitativ | |
| besseren und auch legitimieren politischen Entscheidungen führen würde. | |
| taz: Stimmt das nicht? | |
| Blühdorn: Das stimmt nur dann, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. So | |
| setzen die sozialen Bewegungen etwa voraus, dass die Bürgerinnen und Bürger | |
| jenseits ihrer Individualität und Verschiedenheit, die die Bewegungen | |
| fördern wollten, doch auch eine allen gemeinsame Grundlage haben, die es | |
| möglich macht, über alle Differenzen hinweg zu einem demokratischen Konsens | |
| oder zumindest zu einem Kompromiss zu finden. Genau diese gemeinsame | |
| Grundlage – egal, ob Religion, Tradition, Nationalbewusstsein oder die | |
| Vernunft sogenannter „alter weißer Männer“ – stellten die emanzipatoris… | |
| Bewegungen aber auch infrage. Stattdessen bildeten sich verschiedene | |
| diskursive „Blasen“ heraus, deren jeweilige Angehörige immer weniger in der | |
| Lage waren und sind, „blasenübergreifend“ miteinander zu kommunizieren – | |
| sondern sich gegenseitig bekämpfen und „canceln“. Und so haben die | |
| gleichzeitige Entfaltung von Pluralität und Diversität einerseits und die | |
| Ausweitung von Partizipationsrechten und -ansprüchen andererseits nicht zur | |
| wahren Demokratie geführt, sondern in eine Art demokratischer Verstopfung. | |
| Demokratie wurde ineffizient. | |
| taz: Sprich: Die Demokratie wurde verschlimmbessert. | |
| Blühdorn: Ja. Erstens machen die Demokratisierungsbemühungen die Demokratie | |
| weniger praktikabel, weswegen heute demokratische Beteiligungs- und | |
| Kontrollverfahren häufig wieder zurückgebaut werden. Zweitens erhöht die | |
| Demokratisierung, insbesondere wenn die Bürger und Bürgerinnen materielle | |
| Ansprüche geltend machen und mehr Teilhabe am materiellen Wohlstand der | |
| Gesellschaft fordern, den Druck auf Regierungen, das wirtschaftliche | |
| Wachstum zu fördern, damit es mehr zu verteilen gibt – was trotz aller | |
| technologischer Innovation und Steigerung der Ressourceneffizienz immer | |
| weiter den Umweltverbrauch erhöht. Und es gibt noch einen dritten Punkt, | |
| der vielleicht sogar noch schlimmer ist: Die demokratisierte Demokratie | |
| wird heute nicht nur versehentlich zur Bremse für das Projekt einer | |
| besseren Welt und eines guten Lebens für alle, sondern sie hat sich vom | |
| wichtigsten politischen Mittel für die sozial-ökologische Transformation in | |
| das wichtigste politische Mittel zu deren Blockade verwandelt. Die mit | |
| demokratischer Mehrheit gewählte Trump-Regierung illustriert das gerade in | |
| erschreckender Weise. | |
| taz: Das öko-emanzipatorische Projekt leidet also unter einer unmöglichen | |
| Kombination: Öko-Orientierung erfordert Begrenzung, während | |
| gesellschaftliche und persönliche Emanzipation Entgrenzung benötigen. Ist | |
| das ein Programm zur systematischen Überforderung? | |
| Blühdorn: Das hängt davon ab, was man unter Befreiung, Selbstbestimmung und | |
| Selbstverwirklichung versteht. Die sozialen Bewegungen haben lange | |
| propagiert, dass [3][weniger eigentlich mehr sei], dass weniger Konsum, | |
| weniger Tempo und eine stärkere Konzentration auf das Kleine und Lokale | |
| mehr wahres Glück und echte Erfüllung bringen. „Small is beautiful!“, war | |
| ein wichtiges Motto. Bei den heutigen Degrowth- und Suffizienzbewegungen | |
| hallt davon noch etwas nach. Aber gerade die privilegierteren Teile der | |
| Gesellschaft haben Lebensformen und Verständnisse von Freiheit und einem | |
| erfüllten Leben entwickelt und zum gesellschaftlichen Maßstab gemacht, die | |
| ökologische Systeme systematisch überfordern und die, weil sie exklusiv | |
| sind, auch den sozialen Frieden ernsthaft gefährden. | |
| taz: Sie verweisen im Buch auf den „progressiven Neoliberalismus“ – ein v… | |
| Nancy Fraser geprägter Begriff. | |
| Blühdorn: Mit dem Begriff bezeichnet Nancy Fraser eine seit den | |
| 1990er-Jahren besonders sichtbare Symbiose zwischen einigen Strömungen der | |
| emanzipatorischen Bewegungen und dem Marktliberalismus. Die | |
| emanzipatorischen Bewegungen seit den 1970er-Jahren hatten nicht nur | |
| versucht, die ökologische Agenda der Begrenzung, also die Befreiung der | |
| Natur, mit der emanzipatorischen Agenda der Grenzüberschreitung, also der | |
| Befreiung der Menschen, vereinbar zu machen. Sondern sie versuchte auch die | |
| egalitäre Agenda der Gleichheit, also der Inklusion und des guten Lebens | |
| für alle, mit der individualistischen Agenda der Einzigartigkeit, also der | |
| Identitätsbildung, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung zu | |
| vereinbaren. Der Kapitalismus hat in diesen beiden Paarungen jeweils eines | |
| der Ziele für sich entdeckt und sich zunutze gemacht, nämlich die Agenda | |
| der Grenzüberschreitung und die der individualisierten | |
| Selbstverwirklichung. Der ideologische Marktliberalismus konnte zudem daran | |
| anknüpfen, dass die emanzipatorischen Bewegungen immer schon dem Staat | |
| gegenüber skeptisch waren und die bürgerschaftliche Selbstorganisation, | |
| Selbstbestimmung und Selbstverantwortlichkeit eingefordert haben. So konnte | |
| der neoliberale Kapitalismus in den 1990er-Jahren mit bestimmten Werten und | |
| Zielen der progressiven Bewegungen eine Symbiose eingehen. Darauf zielt der | |
| Begriff „progressiver Neoliberalismus“ ab. Dabei blieben allerdings andere | |
| progressive Ziele auf der Strecke. | |
| taz: Ist es das, was Sie in Ihrem Buch als traumatisch bezeichnen? | |
| Blühdorn: Traumatisch ist, dass die Demokratie zur Verteidigung des | |
| unhaltbaren Status quo freiwillig aufgegeben wird. | |
| 3 May 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Israels-Vorgehen-im-Gazastreifen/!6070092 | |
| [2] /Fridays-for-Future/!6058812 | |
| [3] /Besser-leben-durch-Verzicht/!5883703 | |
| ## AUTOREN | |
| Christel Burghoff | |
| Edith Kresta | |
| ## TAGS | |
| Soziologie | |
| Moderne | |
| Demokratie | |
| Rechtsruck | |
| Schwerpunkt USA unter Trump | |
| GNS | |
| Politisches Buch | |
| Ideologiekritik | |
| Kulturstaatssekretär | |
| Australien | |
| Film | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Buch über grünen Kolonialismus: Die einen schürfen, die anderen müssen umzi… | |
| Ein Autor:innenkollektiv beleuchtet globale Ausbeutungsmechanismen im | |
| Welthandel und zeigt mögliche Alternativen zum „Grünen Kolonialismus“ auf. | |
| Neurowissenschaftlerin: „Hirnprozesse führen dazu, dass wir entmenschlichen�… | |
| Leor Zmigrod hat ideologisches Denken untersucht. Sie erklärt, was | |
| Hirnscans zeigen, wie Dschihadisten ticken und warum Social Media extremes | |
| Denken befeuert. | |
| Kulturstaatsminister Wolfram Weimer: Und das soll bürgerlich sein? | |
| Auf die vehemente Kritik an seiner Nominierung als Kulturstaatsminister | |
| antwortet Wolfram Weimer in Interviews. Seine Äußerungen sind unglücklich. | |
| Parlamentswahl in Australien: Anthony Albanese bleibt Regierungschef | |
| Die sozialdemokratische Labor-Party des Premierministers verhindert einen | |
| Wahlsieg des konservativen „Temu-Trump“ Peter Dutton. Dem wurde seine | |
| politische Nähe zum US-Original zum Verhängnis. | |
| Dystopische Satire wird zur Realität: Die Demokratie stirbt mit einem Tippfehl… | |
| Terry Gilliams Film „Brazil“ war eine Satire. Heute erscheint er wie die | |
| Blaupause für Trumps Amerika, in dem Brutalität bürokratisch daherkommt. |