| # taz.de -- Sachsen-Anhalt fördert 4-Tage-Schule: Chemiestunde am Zapfhahn | |
| > Eine Schule in Sachsen-Anhalt erprobt die 4-Tage-Woche. Einmal pro Woche | |
| > arbeiten die Schüler:innen dann in einem Betrieb. Das kann auch | |
| > pädagogisch sinnvoll sein. | |
| Bild: Praktikant Daniel Emmer beim Bier zapfen | |
| Wittenberg taz | Einmal die Woche hat Daniel richtig Spaß an der Schule. | |
| Immer donnerstags darf der 15-Jährige ins Brauhaus, statt sich mit Englisch | |
| oder Mathe rumzuquälen. Auch an diesem kühlen Donnerstagvormittag Ende Mai | |
| bindet er sich – drahtige Figur, kurzärmeliges Hemd, Undercut – eine | |
| Kellnerschürze um die Taille und beobachtet, wie sich die ersten Gäste an | |
| einen der rustikalen Holztische setzen. Die Restaurantleiterin nickt, das | |
| Zeichen für Daniel loszulegen. | |
| Der Junge setzt ein Lächeln auf und schreitet zu der vierköpfigen Familie, | |
| die sich den Königsplatz gesichert hat, direkt neben der ochsenblutroten | |
| Luther-Statue, dem Wahrzeichen der Stadt Wittenberg. „Was darf es zu | |
| trinken sein?“, fragt Daniel freundlich und zückt seinen Kellnerblock. Es | |
| klingt so unaufdringlich, wie es nur routinierte Servicekräfte hinbekommen. | |
| Seit zehn Monaten lernt Daniel den Alltag in der Gastro kennen – und das | |
| hat viel mit dem Lehrkräftemangel in Deutschland zu tun. Vor allem Schulen | |
| auf dem Land müssen sich seit Jahren immer kreativere Lösungen einfallen | |
| lassen, damit nicht noch mehr Unterricht ausfällt. Auch, weil die Reserve | |
| an Pensionär:innen, Studierenden oder Quereinsteiger:innen, die vielerorts | |
| die Lücken im Kollegium füllen, weitgehend erschöpft ist. | |
| [1][In Sachsen-Anhalt ist die Personalnot besonders dramatisch]. Nach | |
| Angaben des Bildungsministeriums in Magdeburg fehlen aktuell 568 | |
| Lehrkräfte. An manchen Sekundar- oder Gemeinschaftsschulen fällt im Schnitt | |
| jede fünfte Stunde aus. Und so testet Sachsen-Anhalt als erstes Bundesland | |
| eine Art Vier-Tage-Woche für Schüler:innen. | |
| In der [2][Arbeitswelt sind flexible Arbeitszeiten schon lange üblich], | |
| gelten als Ausweis moderner Unternehmenskultur. Im System Schule ist die | |
| Vier-Tage-Woche aber eigentlich kaum denkbar. Zu starr ist das System, zu | |
| wenig Freiheiten haben Schulen bei solchen Entscheidungen, zu aufwendig | |
| sind meist die Hürden für ein Go aus dem Ministerium. | |
| Pädagogische Reformprojekte wie an Daniels Schule könnten aber die | |
| Lernerfahrung einer ganzen Generation bereichern. An vier Tagen haben die | |
| Schüler:innen regulären Unterricht, am fünften Tag finden analoge oder | |
| digitale Selbstlernzeiten, Projekttage oder – wie an Daniels Schule – | |
| Praxislerntage in einem Betrieb statt. „4+1“ heißt das Pilotprojekt | |
| deshalb. | |
| Vor drei Jahren startete es mit zwölf Schulen – nach Ende der Testphase | |
| letzten Sommer hat das Ministerium das Modellprojekt für zwei weitere Jahre | |
| genehmigt. Die Rosa-Luxemburg-Gemeinschaftsschule in Wittenberg, auf die | |
| Daniel geht, ist von Anfang an dabei. Wie viel Potential steckt also in | |
| Pilotprojekten dieser Art, dem veralteten Schulmodell ein Update zu | |
| verpassen? | |
| Daniel hat die ersten Getränke serviert: vier Gläser Rotkäppchen-Sekt, eine | |
| große Flasche Sprudel und ein Gin Tonic, alkoholfrei. Die Familie prostet | |
| sich zu. Da ist Daniel schon am Nachbartisch, wo ein Dunkles und ein Radler | |
| verlangt werden. Kurz darauf steht der Schüler an der Schenke und zapft, | |
| hinter ihm glänzen zwei mächtige Sudkessel aus Kupfer. Auf das selbst | |
| gebraute Bier sind sie im Brauhaus stolz. Auch auf ihren jungen | |
| Mitarbeiter: „Daniel ist ein Naturtalent“, sagt die Restaurantleiterin. | |
| Dass einer mit 15 schon so souverän mit Kunden umgeht, erleben sie hier | |
| nicht alle Tage. Deswegen hat das Brauhaus dem Achtklässler einen Job als | |
| Bierbrauer angeboten – wenn er seinen Schulabschluss packt und drei Jahre | |
| in die Lehre geht. | |
| ## Zu wenig Lehrer für guten Unterricht | |
| Schulleiterin Silvana Gries kämpft dafür, dass alle ihre Schüler:innen | |
| so gute Berufsaussichten erhalten. Leicht sei das jedoch nicht, wenn so | |
| viel Unterricht ausfällt, erzählt Gries. Die 37-Jährige führt durch das | |
| denkmalgeschützte Schulgebäude und erzählt von Schultagen, an denen die | |
| Jugendlichen nur zwei oder drei Stunden hatten. | |
| Damals, als sie vor drei Jahren die Gemeinschaftsschule Rosa-Luxemburg | |
| übernahm, fand nur rund 60 Prozent des Unterrichts statt. Heute sieht es | |
| besser aus: Die Unterrichtsabdeckung liegt bei über 80 Prozent – weil der | |
| Praxislerntag für spürbare Entlastung sorgt. Aber auch, weil Sachsen-Anhalt | |
| [3][den Seiteneinstieg kürzlich auch für Meisterberufe geöffnet] hat. | |
| Zu Gries’ Kollegium gehören seither unter anderem zwei Köche, ein | |
| Zimmermann und eine Keramiktechnikerin. Für manche Fächer findet die | |
| Schulleiterin aber trotzdem kein Personal. Aktuell fehlen ihr Lehrkräfte | |
| für Chemie, Mathe, Deutsch, Ethik und Technik. „Wir merken, dass selbst bei | |
| den Seiteneinsteigenden die Teiche leer gefischt sind“, sagt Gries, die | |
| selbst Ökonomie, Technik, Theologie und Musik unterrichtet. | |
| Vor allem merkt sie, dass nur wenige qualifizierte Lehrkräfte auf dem Land | |
| und in Schulen arbeiten möchten, wo überwiegend Schüler:innen lernen, | |
| die früher auf die Haupt- oder Realschule gegangen wären. „Viele | |
| Bewerbungen haben wir nicht.“ | |
| Auch im Rest der Republik ist die Personalsituation vor allem an jenen | |
| Schulen prekär, an denen Haupt- und Realschulabschlüsse angeboten werden. | |
| Eine taz-Umfrage unter den Bildungsministerien zeigt: Auch in anderen | |
| Ländern ist die Unterrichtsabdeckung an den Gymnasien in der Regel deutlich | |
| besser als an den anderen Schulformen, teils liegen wie in Niedersachsen | |
| fast zehn Prozentpunkte dazwischen. | |
| Die Bildungswissenschaftlerin Sonja Nonte von der Universität Osnabrück | |
| sieht darin eine zusätzliche Ungerechtigkeit im Schulsystem. Aus ihrer | |
| Sicht wäre viel gewonnen, wenn die Politik mehr für eine gerechte | |
| Verteilung der Lehrkräfte tun würde. Bisher schicken nur wenige Länder wie | |
| Nordrhein-Westfalen Gymnasiallehrer:innen vorübergehend an weniger | |
| gut versorgte Schularten. „Solche Abordnungen sind natürlich nicht | |
| beliebt“, sagt Nonte. „Mit Blick auf die Chancengerechtigkeit wären sie | |
| aber dringend nötig, wenn beispielsweise finanzielle Anreize nicht wirken.“ | |
| Daniel ist der erste in seiner Familie, der es aufs Gymnasium geschafft hat | |
| – und dort nur kurz blieb. Bis zur siebten Klasse kam er noch ganz gut mit, | |
| dann zog Daniel mitten im Schuljahr von der Kleinstadt Jessen in einen | |
| Vorort von Wittenberg, verpasste mehrere Wochen Unterricht. Zum | |
| Schuljahresende hatte er auf dem neuen Gymnasium eine Sechs in Bio und | |
| Fünfen in Englisch, Mathe, Deutsch und Geografie. | |
| Die Klasse wiederholte er dann gleich auf der Gemeinschaftsschule. „Ich | |
| dachte, da komme ich dann besser mit“, erzählt Daniel in einer kurzen Pause | |
| vor der Braustube. Seine Eltern waren auch nicht enttäuscht – im Gegenteil: | |
| „Sie waren stolz, dass ich es versucht habe.“ Seine Mutter und sein Vater | |
| haben je einen Realschulabschluss, arbeiten in der Kurzzeitpflege und in | |
| einer Großbäckerei. | |
| Die Wahrscheinlichkeit, dass Daniel eines Tages Abitur macht, ist | |
| statistisch gesehen ziemlich niedrig. In kaum einem westlichen | |
| Industriestaat hat die soziale Herkunft einen so starken Einfluss auf den | |
| späteren Schulabschluss wie in Deutschland. | |
| Zumal sich das Elternhaus auch auf die Bildungsambitionen der Kinder | |
| auswirkt, sogar noch stärker als auf deren Leistungen. Das gilt auch in | |
| anderen Ländern, [4][wie eine Sonderauswertung der Pisa-Studie 2022] durch | |
| die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) | |
| zeigt. Demnach schließen Jugendliche aus armen oder | |
| Nichtakademikerhaushalten bessere Jobs für sich tendenziell aus – selbst | |
| wenn sie zu den Besten ihrer Klasse gehören. Sie trauen sich also vor allem | |
| die Jobs zu, die sie aus ihrem privaten Umfeld kennen. | |
| Daniel orientierte sich zunächst an seiner Familie: „Ich wollte zur | |
| Bundeswehr, weil mein Onkel dort arbeitet und er für mich ein Vorbild ist.“ | |
| Auch Handwerker hätte er sich vorstellen können, wie sein Großvater. In | |
| seinem Freundeskreis sieht es ähnlich aus, viele wollen Elektriker oder | |
| Kfz-Mechaniker werden. Studieren will niemand, bis auf eine Freundin, die | |
| Ärztin werden will. Allerdings lasse der Wunsch bei ihr aktuell nach, | |
| erzählt Daniel. Sie realisiere gerade, dass ihre Noten dafür wohl nicht | |
| ausreichen werden. | |
| ## Daniels Zukunft: Pils, Dunkel, Weizen, Lager und Pale Ale | |
| Nach der OECD-Sonderauswertung ist Deutschland internationales Schlusslicht | |
| darin, Jugendlichen ein realistisches Bild von den verschiedenen Berufen zu | |
| vermitteln, vor allem Schüler:innen aus nichtakademischen Haushalten. | |
| Mehr als jede:r zweite von ihnen weiß nicht, ob man dafür studieren oder | |
| einen anderen Ausbildungsweg absolvieren muss. | |
| Um eines Tages als Bierbrauer zu arbeiten, weiß Daniel heute, dass er nach | |
| seinem Abschluss drei Jahre eine Ausbildung als Brauer/Mälzer absolvieren | |
| muss. Die praktische Ausbildung kann er im Brauhaus machen, für die | |
| begleitende Berufsschule wird er wahrscheinlich nach Dresden pendeln | |
| müssen. „Dort ist die nächste Berufsschule, die diesen Ausbildungsgang | |
| anbietet“, erzählt er und man hört, dass er ein bisschen stolz ist. Die | |
| Infos hat er selbst recherchiert. | |
| An diesem kühlen Tag ist im Brauhaus vergleichsweise wenig los, Daniel hat | |
| Zeit, über seine Zukunftspläne zu sprechen. Mit Anfang 20 will er dann, | |
| wenn alles glatt läuft, im Brauhaus die Nachfolge des jetzigen Braumeisters | |
| antreten, wenn der in Ruhestand geht. Und braut dann sein eigenes Bier: | |
| Pils, Dunkel, Weizen, Lager und Pale Ale. „Die Vorstellung finde ich | |
| richtig gut“, sagt Daniel und grinst. Weil er selbst gerne schon Bier | |
| trinkt. Vor allem aber, weil er sich zuvor noch nie wirklich mit seiner | |
| Zukunft beschäftigt hat. Nun malt sich Daniel aus, wie viel er wohl büffeln | |
| muss, um in zwei Jahren nicht nur den Hauptschul-, sondern vielleicht sogar | |
| den Realschulabschluss zu schaffen. | |
| Normal ist das in dem Alter nicht, weiß Schulleiterin Silvana Gries: „Viele | |
| wissen nicht, was sie später mit ihrem Leben anfangen wollen.“ In einem | |
| Alter, das ohnehin schon schwierig ist, schlage das natürlich voll auf die | |
| Motivation: „Ich höre von Schüler:innen oft: Warum soll ich das lernen? | |
| Wozu brauche ich das später?“ Einige hätten deshalb auch Probleme mit den | |
| Abschlüssen. | |
| Ein größeres Problem sei jedoch der Berufseinstieg: „Ein großer Anteil | |
| unserer Schüler:innen findet keinen Ausbildungsplatz oder bricht die | |
| Ausbildung wieder ab.“ Einen reibungslosen Übergang in den Job kriegen | |
| nicht viele hin, die von der Gemeinschaftsschule Rosa-Luxemburg gehen. Als | |
| Gries vor drei Jahren aus dem Ministerium von dem „4+1“-Projekt erfuhr, | |
| habe sie sofort gewusst: „Das ist genau das Richtige für unsere | |
| Schüler:innen.“ | |
| Die Idee, die Jugendlichen in eine Art Langzeitbetriebspraktikum zu | |
| schicken, gibt es in Sachsen-Anhalt schon seit ein paar Jahren. Allerdings | |
| gab es den Praxislerntag, kurz PLT, bislang nur mit nur einem Tag alle zwei | |
| Wochen. Mit dem neuen Wochenrhythmus kann Gries alle Achtklässler:innen | |
| nun jeden Donnerstag ins Praktikum schicken, alle Neuntklässler:innen | |
| immer mittwochs. Insgesamt sind 180 der 420 Schüler:innen einen Tag die | |
| Woche außer Haus. Alle sechs Monate wechseln die Schüler:innen den | |
| Betrieb, außer sie wollen länger bleiben, wie Daniel im Brauhaus. | |
| Mittlerweile hat die Schule ein Netzwerk von rund 180 lokalen und | |
| regionalen Partnern aufgebaut. Aus Sicht der Schulleiterin eine | |
| Win-win-Situation: „Viele kleine Handwerksbetriebe finden nur noch schwer | |
| Auszubildende. Umgekehrt erhalten die Schüler:innen wertvolle Einblicke | |
| in einen bestimmten Berufsalltag.“ Im besten Fall entsteht ein Match. | |
| Gries ist dabei wichtig: Es geht nicht primär um die Berufsorientierung. | |
| „Die Schüler:innen sollen vor allem das eigenverantwortliche Lernen | |
| stärken“, sagt Gries. Das beginne damit, dass die Jugendlichen sich ihre | |
| Praktika selbst organisieren müssen: „Für manche ist das schon ein tolles | |
| Erfolgserlebnis, wenn sie eine Zusage erhalten.“ Besonders für Jugendliche, | |
| die vielleicht nicht die besten Noten mit nach Hause bringen, können die | |
| Erfahrungen im Betrieb ein Boost fürs Selbstvertrauen sein. | |
| Zudem werde das Projekt durch schulinterne Curricula begleitet, ab der | |
| siebten Klasse steht bei ihnen im Stundenplan eine Stunde PLT an, in der | |
| sie sich auf den Praxislerntag vorbereiten und später Bewebungssituationen, | |
| Steuerklärung und dem dualen Ausbildungssystem befassen. Zwei Lehrkräfte | |
| koordinieren diesen Unterricht und besuchen auch regelmäßig die Betriebe | |
| und hören dort vor allem Lob. | |
| Über den längeren Zeitraum könnten die Betriebe die jungen Menschen viel | |
| besser kennenlernen, das bringe beiden Seiten mehr Sicherheit für die | |
| Berufswahl. Manchmal aber sei es für kleinere Betriebe schwierig, immer | |
| genug Betreuer:innen da zu haben, wenn die Schüler:innen nur einen | |
| Tag in der Woche da sind. | |
| Ob das „4+1“-Modell zu höheren Abschlussquoten führt, muss sich erst noch | |
| zeigen. Im nächsten Schuljahr legt an der Gemeinschaftsschule | |
| Rosa-Luxemburg der erste PLT-Jahrgang seine Prüfungen ab. | |
| An einem Mittwochvormittag Mitte Mai, eine Woche bevor die taz Daniel ins | |
| Brauhaus begleitet, sitzt rund ein Dutzend Jugendlicher der | |
| Gemeinschaftsschule in einem Klassenzimmer um eine reichlich gedeckte | |
| Tafel, belegte Brötchen, Kekse und andere Süßigkeiten – eine kleine | |
| Belohnung für jene Jugendlichen, die freiwillig von ihren Erfahrungen mit | |
| dem Praxislerntag berichten. | |
| Der 14-Jährige Benito etwa ist aktuell bei einer Autowerkstatt. Er habe | |
| dort für seine handwerkliche Begabung schon häufiger Anerkennung bekommen, | |
| erzählt er. Anerkennung, die er bei seinen schulischen Leistungen nicht so | |
| häufig spürt. | |
| Viele der Schüler:innen loben auch die Möglichkeit, sich ausprobieren zu | |
| können. Die 15-jährige Greta hat über das Praktikum im Kindergarten | |
| gelernt, dass die Arbeit mit Kindern nicht so ihres ist. Im Verkauf bei | |
| einem Raumausstatter fühlt sie sich jetzt wohler. In einem sind sich die | |
| Jugendlichen einig: Sie haben in dem einen oder anderen Moment begriffen, | |
| warum Unterrichtsfächer wie Mathe, Technik oder Englisch doch wichtig für | |
| das spätere Leben sind. | |
| Auch Daniel hat, seit er eine berufliche Perspektive hat, ein ungewohntes | |
| Gefühl in sich wahrgenommen: Interesse für Biologie und Chemie. „Als | |
| Bierbrauer muss ich mich mit komplexen biochemischen Prozessen auskennen“, | |
| begründet Daniel. Etwa, dass beim Mälzen und Maischen die Stärke aus dem | |
| Malz in Zucker verwandelt wird und später die Hefe im Gärprozess den Zucker | |
| in Alkohol und Kohlendioxid umwandelt. In Biologie hat sich Daniel in | |
| diesem Schuljahr schon auf eine Drei gesteigert. In Chemie weiß er es nicht | |
| – weil ein Chemielehrer fehlt, bekommt er dieses Jahr keine Note. Insgesamt | |
| hat er seinen Schnitt stark verbessert: in zwei Jahren von 4,3 auf 3,2. | |
| ## Sachsen-Anhalt verstetigt das Modell | |
| Die Erfolge ihres Modellprojekts konnte die Landesregierung von | |
| Sachsen-Anhalt auch in ihrer Evaluation feststellen: „Die Flexibilisierung | |
| eröffnet den Schulen Möglichkeiten, auf die Bedürfnisse ihrer Schülerschaft | |
| und die veränderten Anforderungen angemessen zu reagieren“, teilt | |
| Bildungsministerin Eva Feußner (CDU) auf taz-Anfrage mit. | |
| Vor allem den Praxislerntag möchte die Landesregierung weiter ausbauen. Ab | |
| dem kommenden Schuljahr dürfen deshalb alle Sekundar- und | |
| Gemeinschaftsschulen im Land ihre Schüler:innen anstatt in den | |
| Unterricht regelmäßig in den Betrieb schicken. Eine entsprechende Novelle | |
| des Schulgesetzes hat der Landtag diese Woche verabschiedet. | |
| Dasselbe gilt für ein ähnliches Modellprojekt in Sachsen-Anhalt, das | |
| „Produktive Lernen“. Im Unterschied zum „4+1“-Modell tauchen die | |
| Jugendlichen aber nicht einen, sondern drei Tage die Woche in die | |
| Berufswelt ein. Und das Angebot richtet sich nicht an ganze | |
| Jahrgangsstufen, sondern nur an einzelne abschlussgefährdete Jugendliche in | |
| Sekundarschulen. Die Grundidee ist jedoch dieselbe: Die Schüler:innen | |
| sammeln über die praktische Arbeit Selbstbewusstsein, das sie im | |
| Schulalltag selten haben. Das Ministerium verspricht sich, so künftig mehr | |
| Jugendliche zu einem Schulabschluss und in Ausbildung zu bringen. | |
| Auch andere Länder haben längst damit begonnen, den traditionellen | |
| Unterricht abzuwandeln, um auf die schlechte Personalsituation zu | |
| reagieren. Eine 4-Tage-Woche wie in Sachsen-Anhalt ist momentan zwar | |
| nirgends geplant, aber ab den Sommerferien ändert sich in manchen | |
| Bundesländern so einiges. | |
| In Sachsen dürfen dann weiterführende Schulen bis zu 15 Wochenstunden in | |
| Form von „digital gestützten Selbstlernens“ abhalten. Und | |
| Gemeinschaftsschulen im Saarland können die Stundentafel dann ganz | |
| ignorieren und eigene Schwerpunkte setzen – sofern einzelne Fächer über die | |
| gesamte Schullaufzeit nicht zu kurz kommen. | |
| Die Schulforscherin Sonja Nonte hat zu dieser Entwicklung gemischte | |
| Gefühle: „Ob ein flexibler Unterricht mit mehr Selbstlernzeiten | |
| funktioniert, hängt von der Begleitung durch die Lehrkräfte ab.“ In einer | |
| laufenden Studie an 16 Gesamtschulen untersucht sie, inwieweit digitales | |
| Lernen eigenverantwortlich und selbstreguliert gelingt. Das vorläufige | |
| Ergebnis: Dort, wo Schulen selbstständiges Lernen konsequent einüben, sind | |
| die entsprechenden Kompetenzen höher. | |
| Dies sei aber nur eine Perspektive auf die Frage, was guten Unterricht in | |
| Zeiten von Personalmangel ausmacht. Mindestens genauso wichtig sei der | |
| Blick der betroffenen Jugendlichen. Viele Schüler:innen erlebten ja vor | |
| allem schlecht ausgestattete Schulen und, dass nicht genügend Lehrkräfte | |
| für sie da seien, sagt Nonte. „Wenn sie nun sehen, dass eine Schule mit | |
| viel Kreativität und Engagement etwas für sie auf die Beine stellt, kann | |
| das sehr viel Wert sein.“ | |
| Daniel ist dankbar für das Engagement seiner Schule, besonders donnerstags | |
| kurz vor Feierabend. Wegen des Gefühls, gemeinsam mit dem Personal im | |
| Brauhaus etwas geschafft zu haben. Egal, ob es wie heute ein ruhiger Tag | |
| war und er Zeit hatte, sich um saubere Handtücher oder die Tischdekoration | |
| zu kümmern, oder ob es den ganzen Tag brummt, weil Busladungen von | |
| Tourist:innen zu Mittag essen. Dankbar ist Daniel aber auch deshalb, | |
| weil er in der Regel mit etwas Trinkgeld nach Hause geht. Dieses Mal sind | |
| es fünf Euro – „ein guter Tag“, sagt Daniel. Vor allem, wenn man bedenkt, | |
| dass er sich das Geld in seiner Schulzeit verdient hat. | |
| 16 Jun 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Bildungsministerin-ueber-Personalmangel/!5914191 | |
| [2] /Linkspartei-fuer-Arbeitszeitverkuerzung/!5997722 | |
| [3] /Lehrkraeftemangel-an-deutschen-Schulen/!6028429 | |
| [4] https://www.oecd.org/en/publications/the-state-of-global-teenage-career-pre… | |
| ## AUTOREN | |
| Ralf Pauli | |
| ## TAGS | |
| wochentaz | |
| Zukunft | |
| Lernen | |
| Gemeinschaftsschule | |
| Berufsabschluss | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Social-Auswahl | |
| Ausbildung | |
| Bildungspolitik | |
| Gesundheit | |
| Quereinsteiger | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Umfrage zur Berufsausbildung: Lieber gleich Kohle verdienen | |
| Viele junge Menschen wollen keine Ausbildung machen, sondern direkt | |
| arbeiten. Die Studie zeigt: Ihnen fehlt oft persönliche Beratung. | |
| Berufsvorbereitung in Berlin: Besser orientiert aus der Schule | |
| IHK und Bildungsverwaltung wollen Schüler*innen gemeinsam auf ihre | |
| Berufswahl vorbereiten. Niemand soll die Schule mehr ohne Perspektive | |
| verlassen. | |
| Kindergesundheitsbericht: Ein Schulsystem, das krank macht | |
| Ein neuer Bericht fordert, die Gesundheit der Kinder an Schulen besser zu | |
| fördern. Die Länder sehen sich bereits gut aufgestellt. | |
| Lehrkräftemangel an deutschen Schulen: Immer mehr Quereinsteiger | |
| Der Anteil der Lehrer:innen ohne abgeschlossenes Staatsexamen steigt. | |
| Bildungsexpert:innen sehen das kritisch, doch der Bedarf nimmt zu. |