Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kuba in der Krise: Die Revolution frisst ihre Rentner
> Angesichts von Inflation und politischem Stillstand wandert die junge
> Generation ins Ausland ab. Zurück bleiben die Alten. Wer kümmert sich um
> sie?
Bild: Rund zwei Millionen Menschen haben Kuba seit 2021 verlassen. Ältere Frau…
Alberto Casanoba Gutiérrez sitzt in seinem Rollstuhl und lächelt erfreut.
Er hat schon auf Maribel Domínguez gewartet, ein- bis zweimal pro Woche
kommt die 59-jährige Krankenschwester in seiner Straße in Cárdenas vorbei.
Die Hafenstadt im Osten der Insel liegt nur ein paar Kilometer vom
Tourismus-Hotspot Varadero entfernt und gehört zu den abgetakelten Städten
der Insel: marode Fassaden, Wasser, das aufgrund verstopfter oder
zerstörter Abwassersysteme in den Straßen steht, und eingestürzte Dächer.
Auch vor dem alten Holzhaus von Alberto Casanova Gutiérrez steht das Wasser
in der Betonrinne vor der Eingangstür. In den Türrahmen hat der 73-Jährige
seinen Rollstuhl manövriert, um die Straße hinunterschauen zu können. Dem
Diabetiker fehlt ein Bein. „2019 haben sie es mir amputiert. Erst den Fuß,
dann das ganze Bein, weil es nicht heilte“, erklärt der alte Mann, der
weitgehend auf sich selbst gestellt ist. „Mein Sohn lebt zwar in Cárdenas,
aber er führt sein eigenes Leben und kommt selten vorbei. Ohne die Hilfe
des CCRD wäre ich aufgeschmissen“, erklärt der dürre Mann.
Dann gibt er den Weg ins Innere des kleinen Holzhauses für Krankenschwester
Domínguez frei, die heute gemeinsam mit Sozialarbeiterin Yamilé Casal
unterwegs ist. Ein Raum, dahinter befinden sich eine kleine Küche und das
Bad. Links von der Eingangstür steht das Bett, an dessen Kopfende sich ein
paar Bücher stapeln. Unter dem Laken lugt eine gelbe Schaumstoffmatratze
hervor. Ein weiterer Bücherstapel ist neben dem einzigen Stuhl im hinteren
Teil des Hauses zu sehen.
Auf dem Tisch daneben steht ein dreiteiliger Henkelmann aus Edelstahl. In
dem wird das Essen aus der Küche des Centro Cristiano de Reflexión y
Diálogo (CCRD) vorbeigebracht. Seit nunmehr acht Jahren geht das so. „Fünf,
manchmal sechs Tage pro Woche bringen Pepito oder Leonardo das Essen per
Fahrrad vorbei, ein bis zweimal pro Woche sind Maribel und Yamilé hier“,
erzählt Alberto Gutiérrez. Die beiden Frauen kümmern sich um den Rentner,
schneiden ihm die Haare, sorgen dafür, dass der weißmelierte Bart ums Kinn
herum in Form bleibt. Sie bringen frische Wäsche und baden ihn regelmäßig.
Alberto Casanoba Gutiérrez hat Glück gehabt. Eine Nachbarin hat das Centro
2016 auf den alleinstehenden Mann aufmerksam gemacht. „Sie hat dafür
gesorgt, dass mein Fall geprüft wurde. Die Leute vom CCRD sind
vorbeigekommen, haben meine Lebensbedingungen unter die Lupe genommen,
gecheckt, wie viel Rente ich bekomme“, erinnert sich Gutiérrez. Eine Woche
später sei Maribel dann wieder aufgetaucht und habe ihm mitgeteilt, dass
sein Name nun auf ihrer Liste stehe, erklärt der ehemalige Koch, der
aufgrund des Diabetes vorzeitig in den Ruhestand geschickt wurde. Wie viele
andere Rentner:innen erhält er die Mindestrente von 1.528 kubanischen
Pesos monatlich. Umgerechnet sind das noch nicht einmal 5 US-Dollar.
„Manchmal sind sie an einem Tag weg, für Medikamente, etwas Essen. Das geht
schneller, als ich gucken kann“, sagt Alberto Gutiérrez mit einem bitteren
kleinen Lachen. „Mindestens 20.000 kubanische Pesos bräuchte ich im Monat,
um einigermaßen über die Runden zu kommen“, schätzt er. An Kleidung oder
Bücher denke er da noch gar nicht – nur an die Grundversorgung. Um die und
vieles andere kümmert sich das CCRD, das 120 Senior:innen wie Alberto
Casanoba Gutiérrez in Cárdenas betreut.
„60 waren es 2016. Dann wurde die Zahl bis 2019 aufgestockt, da das CCRD
mehr Mittel im Ausland eingeworben hatte“, erinnert sich Maribel Domínguez.
Die Organisation finanziert sich vor allem über Spenden evangelischer
Kirchen in Deutschland, Kanada, den USA und Skandinavien. Domínguez
arbeitet seit 18 Jahren für das Zentrum in Cárdenas und ist dort für die
Betreuung der Rentner:innen verantwortlich. Die Zahl der Bedürftigen
steige ständig. „Die Zahl der Senior:innen, die ohne Familie, auf sich
allein gestellt in Cárdenas leben, ist mit der massiven Auswanderung seit
2021 stark gestiegen. Die Alten fallen in Kuba immer öfter durch das
soziale Netz“, sagt sie. Je nach Quelle haben von November 2021 bis Anfang
2025 [1][zwischen 1,6 Millionen und 2 Millionen Menschen Kuba verlassen –
das Gros jung und gut ausgebildet.]
Zwar kümmere sich der Staat mit einem Altenheim und zwei Tagesbetreuungen
um die Senior:innen in Cárdenas, aber die Sozialarbeiter:innen, die
prekäre Fälle mit den Hausärzten betreuen sollen, seien überfordert, meint
Domínguez. „Es fehlen überall Ressourcen. Im Krankenhaus von Cárdenas haben
wir nicht mal Spritzen, die müssen die Patienten genauso wie die
Medikamente mitbringen“, sagt die Frau mit den hellblonden hochgesteckten
Haaren und zuckt entnervt mit den Schultern.
Die Senior:innen stehen inzwischen ganz unten in der gesellschaftlichen
Hierarchie auf der Insel. Viele von ihnen verkaufen auf der Straße die
Tageszeitung Granma, das Sprachrohr der kommunistischen Partei, oder das
Gewerkschaftsblatt Trabajadores. Auch Schlangestehen für Ausweisdokumente,
vor den Lebensmittelläden oder für ein Ticket für den Überlandbus wird
oftmals von den Senior:innen übernommen, die sich nützlich machen, wo
immer sie können – aber das wird andererseits auch von ihnen erwartet.
Auf Kuba ist es üblich, dass die Älteren im Familienverband mit den
Jüngeren leben, dass die Senioren mitversorgt werden, aber dafür auch
mithelfen. Doch diese Strukturen bröckeln. Jubilados, so heißen die
Rentner:innen in Kuba, die kleine Verkaufsstände vor der eigenen Haustür
oder in einer der zwei, drei Fußgängerzonen von Cárdenas betreiben. Das ist
nicht nur hier so, sondern inselweit. „Viele haben sich ihren Ruhestand
anders vorgestellt“, sagt Rita García, die Direktorin des CCRD.
Das 1991 von ihrem Vater Raimundo García Franco initiierte Zentrum ist ein
immer wichtiger werdender sozialer Akteur in der heruntergekommenen
Hafenstadt. Am Ortseingang gelegen, bietet das weitläufige Zentrum
psychologische und medizinische Hilfe an, aber auch Beratung für
Unternehmer:innen und Gewaltopfer. Hinzu kommen eine Bibliothek, Räume
für Veranstaltungen. Gleich daneben befindet sich die professionell
ausgestattete Küche von José Antonio Mesa und Joveni Romero.
Die beiden Köche des CCRD, die früher für Touristen in Varadero gekocht
haben, sind seit rund drei Jahren für die 120 Mittagessen in den
Henkelmännern verantwortlich. Die werden morgens als Erstes gekocht und von
Krankenschwester Maribel Domínguez und Yamilé Casal vorgekostet, bevor die
Mahlzeiten in den dreistöckigen Edelstahlbehältern ab neun Uhr morgens
ausgefahren werden. Das macht José „Pepito“ Perdomo gemeinsam mit einem
Kollegen.
„Für viele ist unser Besuch und die kleine, damit verbundene Unterhaltung
ein Highlight des Tages“, erklärt der 67-Jährige. Seit dem Rentenantritt
vor zwei Jahren fährt er die Henkelmänner aus, aber hin und wieder ist er
auch als Nachtwächter im CCRD aktiv. „Ich verdiene mir etwas dazu, denn
auch meine Rente ist viel zu knapp“, erklärt der rüstige Mann mit der
auffälligen schwarz-roten Baseball-Kappe und den Dollar-Zeichen darauf.
Um den US-Dollar, den Euro und zwei, drei weitere harte Währungen dreht
sich fast alles in Kuba. Der Wechselkurs pro Euro auf dem kubanischen
Schwarzmarkt liegt bei 390 Peso, 370 gibt es pro US-Dollar. Längst hat die
rasante Inflation die Währungsreform von 2020, die mit einem Kurs von einem
US-Dollar pro 24 Pesos startete, zunichte emacht. Statt an einer starken
Nationalwährung orientiert sich in Kuba mittlerweile alles am Kurs von Euro
und US-Dollar.
Die Währung des amerikanischen Klassenfeindes darf seit ein paar Monaten
auch wieder legal auf der Insel zirkulieren – ein Indiz für die Tragweite
des währungspolitischen Desasters, so Pavel Vidal, kubanischer Ökonom mit
Lehrauftrag im kolumbianischen Cali.
Unter besagtem Desaster haben die Rentner:innen der Revolution besonders
heftig zu leiden, denn ihre Rente ist wie Butter in der Sonne geschmolzen.
Dafür macht Vidal die halbherzige Reformagenda der Regierung in Havanna
verantwortlich. „Ideologische Scheuklappen“ attestiert er den
Verantwortlichen in Havanna. „In Kuba wird immer nur so viel ökonomischer
Freiraum für den Privatsektor gewährt wie unbedingt notwendig“, kritisiert
er. Ein offenes Bekenntnis, gar ein fundiertes Konzept, für einen Mix aus
Privat-, Genossenschafts- und sozialistischen Betrieben gibt es nicht.
Hinzu kommen die US-Sanktionen, die seit 2017 ein historisch noch nie da
gewesenes Niveau erreicht haben. Das sorgt spätestens seit 2019 für eine
sich kontinuierlich verschärfende Rezession, sagen Analysten wie Vidal. Der
holt alle vier, fünf Monate seine Eltern für zwei, drei Monate nach Cali,
kümmert sich aber auch um Essen und Medikamente, wenn sie in Havanna sind.
„Das geht mittlerweile per Lieferservice über das Internet und klappt“, so
der Finanzexperte. Das kann er sich als Professor an der katholischen
Javeriana-Universität leisten. Das Gros der Rentner:innen auf der Insel
kann davon nur träumen.
Alberto Casanova Gutiérrez, auch wenn er auf die christliche Nächstenliebe
der CCRD angewiesen ist, ist sogar noch relativ gut dran. Doch auch er
steht vor dem Problem, dass sein kleines Haus reparaturbedürftig ist. Über
seinem Bett ist der Himmel zu sehen, mehrere Holzlatten fehlen, einige sind
durchgerottet, und Hilfe ist nicht in Sicht, um das Dach zumindest
notdürftig zu reparieren. „Seit Jahren warte ich auf Hilfe aus dem
staatlichen Sozialsystem. Doch es heißt immer nur, dass es weder Material
noch Ressourcen gibt“, sagt er und schüttelt verzweifelt den Kopf.
## „Wir leben einer zerfallenden Stadt“
18 Prozent der 1,7 Millionen Pensionär:innen in Kuba leben offiziellen
Statistiken zufolge in maroden, reparaturbedürftigen Wohnungen oder
Häusern. „In Cárdenas ist die Situation besonders brisant, weil seit
Jahrzehnten in den Erhalt der Infrastruktur und der Wohnung wenig
investiert wurde“, so Krankenschwester Domínguez. „Wir leben in einer
zerfallenden Stadt.“
Esther Gamara, eine 62-jährge Rentnerin, die an einer Nervenkrankheit
leidet und nur ein paar Meter von Alberto Casanova Gutiérrez’ Block
entfernt wohnt, gehört dazu. Sie steht heute auf der Besuchsliste des
helfenden Duos und hat das kaputte Fenster in ihrer Wohnung notdürftig vom
Nachbarn mit einem Müllsack aus Plastik flicken lassen. Kein echtes Problem
für die rüstige Frau, die ihre Rente zu großen Teilen für Medikamente
aufwendet. „Letztlich überleben wir hier: ein normales Leben ist kaum mehr
möglich“, sagt Gamara im gelben Sommerkleid und wirkt trotz allem
optimistisch. „Der CCRD ist meine Familie“, sagt sie und greift nach der
Hand von Sozialarbeiterin Yamilé Casal.
„Mein Glauben hilft mir bei der Arbeit mit den alten Menschen, und im
Gespräch mit ihnen ist das Evangelium auch ein Thema“, erklärt die
52-Jährige. Sie kam vor sechs, sieben Jahren aus Havanna hierher. Damals,
um wie so viele andere in einem Hotel auf der Halbinsel Varadero
anzuheuern: erst an der Rezeption, dann in einem der Touristenshops.
Doch das habe ihr gar nicht gefallen, sagt sie. Entsprechend froh war die
gelernte Hotelfachfrau, als der Tipp kam, sich im CCRD zu bewerben. „Dank
der Hilfe des CCRD konnte ich mich zur Sozialarbeiterin weiterbilden und
bin heute deutlich zufriedener als früher“, sagt sie. Das liegt am für
kubanische Verhältnissen fairen Lohn, dem Mittagessen, das es im CCRD für
die rund 80 Mitarbeiter:innen gibt, und der gegenseitigen Hilfe
innerhalb der Organisation. Die zählt zu den größeren
Nichtregierungsorganisationen in Kuba, die angesichts sinkender
Sozialausgaben ähnlich wie die Kirchen immer wichtiger werden.
Die Unterstützung der Rentner:innen der Revolution gehört seit mehr als
20 Jahren zum Programm. „Allerdings sind die Probleme größer geworden“,
klagt Rita García, Direktorin des CCRD. Zwischen 2020 und 2023 hat sie rund
60 Prozent ihres Personals vor allem durch Abwanderung ins Ausland verloren
und musste neue Leute ausbilden. Das hat funktioniert. Dennoch bleibt der
Personalmangel ein ständiger Kampf. „Viele sind müde“, so García.
Das trifft auch auf Domínguez zu. „Ich habe nicht mal die Chance, Urlaub in
einer anderen Stadt zu machen. An Auswandern kann ich gar nicht denken, ich
habe kein Geld“, sagt die Krankenschwester, deren Tochter mit Enkelin in
Cárdenas lebt. Auch Familie ist ein triftiger Grund zu bleiben. Aber das
Fehlen einer Perspektive: es nagt an ihr. Und dagegen helfen auch gefüllte
Henkelmänner und christliche Nächstenliebe nur wenig.
19 Jun 2025
## LINKS
[1] /Flucht-aus-Kuba/!6089083
## AUTOREN
Knut Henkel
## TAGS
Kuba
Havanna
Schwerpunkt Fidel Castro
Soziale Gerechtigkeit
Altersarmut
Lesestück Recherche und Reportage
GNS
Recherchefonds Ausland
GNS
Kuba
wochentaz
Kuba
## ARTIKEL ZUM THEMA
Unruhen auf Kuba: Studentenproteste gegen neue Mobilfunktarife
Öffentliche Proteste in Kuba sind selten. Doch jetzt wüten Student:innen
wegen der massiven Telefonpreiserhöhungen des staatliche Monopolisten.
Flucht aus Kuba: Kein Weg zurück
Elier David Molina Cruz will Rockstar werden. Das war kaum möglich in
seiner Heimat Kuba. Er floh nach Uruguay. Hunderttausende haben wie er die
Insel zuletzt verlassen.
Meinungsfreiheit in Kuba: Die Unbequeme aus Matanzas
Alina Bárbara López ist Kubas prominente linke Regierungskritikerin. Nun
droht der promovierten Historikerin eine Gefängnisstrafe.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.