# taz.de -- Buch über Pinochet und einen Altnazi: Herr der Krabben | |
> Ein packendes Gerichtsdrama über den Pinochet-Prozess in den 1990ern | |
> beleuchtet die Verbindung des Diktators zum NS-Verbrecher Walther Rauff. | |
Bild: Augen zu und durch: Altnazi Walther Rauff nach einer Anhörung in Santiag… | |
Als die Polizei kurz vor Mitternacht ins Krankenhaus kommt, ist der alte | |
Mann im Schlafanzug. Die Dolmetscherin teilt ihm auf Spanisch seine | |
Verhaftung wegen Mordes mit. Er reagiert aufgebracht: Dahinter stecke | |
sicher „dieses Arschloch“ Garcès, „der Kommunist“, habe er gebrüllt. | |
Augusto Pinochet, ehemaliger Präsident und Diktator Chiles von 1973 bis | |
1990, wird am Freitag, 16. Oktober 1998, auf Ersuchen des spanischen | |
Richters Juan Garcès während eines Klinikaufenthalts in London verhaftet | |
und unter Hausarrest gestellt. Bei den Anhörungen vor Gericht wird seine | |
Auslieferung nach Spanien beantragt. Der damals junge Anwalt Philippe Sands | |
war an der Anklage beteiligt, die von einer Vielzahl von Jurist*innen | |
minutiös vorbereitet worden war und internationale Rechtsgeschichte | |
schrieb: Noch nie zuvor war ein ehemaliger Staatschef von und in einem | |
anderen Land verhaftet worden, weil er internationale Verbrechen begangen | |
hatte. | |
Gleichwohl gingen Jurist*innen wie Garcès oder der Untersuchungsrichter | |
Baltasar Garcón das Wagnis ein. Der Moment war günstig, im internationalen | |
Strafrecht herrschte Aufbruchstimmung, wie Sands schildert: „Nach 50 Jahren | |
der Stille waren Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit wieder | |
ein wichtiges Thema.“ | |
## Mammutprozess mit Vorgeschichte | |
Auf dem Grundgedanken der Nürnberger Prozesse und der | |
UN-Völkermordkonvention aufbauend, wurden in den 1990er Jahren | |
internationale Gerichtshöfe eingerichtet, für Verbrechen wie im ehemaligen | |
Jugoslawien und Ruanda. Der Grundsatz des Weltrechtsprinzips besagt, dass | |
die Verantwortlichen für Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord | |
überall auf der Welt zur Verantwortung gezogen werden können. Warum also | |
nicht auch der [1][chilenische Ex-Diktator Pinochet], der in den 17 Jahren | |
seiner Herrschaft für Morde, Folter und Verschleppung vieler Tausender | |
verantwortlich war? | |
Philippe Sands schildert Vorbereitung und Hergang des Mammutprozesses wie | |
einen Gerichtskrimi und lässt die Schlüsselpersonen darin lebendig werden: | |
Juan Garcès, der Berater des chilenischen Präsidenten Salvador Allende | |
gewesen war und diesem vor seinem Suizid infolge des Putsches gelobt hatte, | |
für Gerechtigkeit zu sorgen, wartete viele Jahre in Spanien auf den | |
richtigen Moment. Dieser kam 1998, als sich Angehörige von Opfern der | |
Militärdiktatur an ihn wandten. Sands hingegen wurde zunächst gebeten, | |
Pinochet zu vertreten, woraufhin seine chilenische Frau mit Scheidung | |
drohte. Er schloss sich dann als Rechtsvertreter der | |
Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch der Anklage an. Bei seinen | |
Recherchen stieß er auf eine interessante Querverbindung zwischen Pinochet | |
und dem in Chile untergetauchten deutschen NS-Verbrecher Walther Rauff. | |
Hatte der Nazi Pinochet bei der Vernichtung seiner Gegner geholfen? | |
Wie in seinen vorherigen Büchern „Rückkehr nach Lemberg“ über seine | |
jüdische Familie oder „Die Rattenlinie“ über Nazis, die via Vatikan nach | |
Südamerika flohen, bereitet Philippe Sands auch in „Die Verschwundenen von | |
Londres 38“ ein Stück Zeitgeschichte zu einem umfangreichen Rechercheroman | |
auf. Im Zentrum seiner Nachforschungen stehen diesmal das Schicksal von | |
Verschwundenen, die in der zum Foltergefängnis umfunktionierten ehemaligen | |
Parteizentrale der Sozialistischen Partei Chiles in der Calle Londres | |
Nummer 38 von Pinochets Folterknechten misshandelt und ermordet wurden und | |
von deren sterblichen Überresten bis heute jede Spur fehlt. Und die Rolle | |
von Walther Rauff. | |
Rauff, SS-Sturmbannführer und rechte Hand von Reinhard Heydrich, | |
konstruierte ab 1941 mobile Gaswagen, mit denen schätzungsweise 97.000 | |
Menschen unter anderem in Polen, der Ukraine und Serbien ermordet wurden. | |
1949 floh er nach Südamerika, in Chile wurde er Geschäftsführer einer | |
Fabrik, in der das Fleisch von Königskrabben in Dosen gepresst wurde. Er | |
soll an der Folterung und Ermordung von Pinochets Regimegegnern im geheimen | |
Militärgefängnis Londres 38 und anderen Kriegsverbrechen beteiligt gewesen | |
sein. | |
Sands beginnt eine ausufernde Recherche, wühlt sich durch Gerichtsakten und | |
Briefe, spricht mit Angehörigen von Folteropfern und reist nach Porvenir in | |
Feuerland, wo er die Reste der Krabbenfabrik besichtigt und Rauffs | |
ehemalige Sekretärin, einen seiner Söhne und andere Zeitzeug:innen | |
befragt: „Ein stiller Mann sei er gewesen, kultiviert und freundlich, | |
erinnert sich der Bürgermeister des Ortes. Er wohnte mit Schäferhund Bobby | |
in einer Hütte auf einem Hügel mit Blick auf die Konservenfabrik. ‚Als | |
Außenseiter war er willkommen‘, erinnert sich die ehemalige | |
Supermarktkassiererin Emma, bei der er Lucky Strikes und Whiskey kaufte. | |
Die Älteren hätten erzählt, er sei ein Nazi gewesen, der schlimme Dinge | |
getan hatte. Sie habe den Geschichten nicht geglaubt.“ | |
Philippe Sands spürt selbst den wildesten Gerüchten nach, die sich um | |
Walther Rauff ranken. Dieser war eine schillernde Figur: Nach seiner Flucht | |
auf der Rattenlinie lässt er sich zunächst mit seiner Familie in Ecuador | |
nieder, wo ihn der damalige Militärdiplomat Augusto Pinochet als | |
Militärberater anwirbt. Nach seiner Übersiedlung nach Chile 1958 arbeitet | |
Rauff ein paar Jahre lang als Agent für den BND, bis er im Zuge des | |
[2][Eichmann-Prozesses] verhaftet wird. Chile lehnt jedoch seine | |
Auslieferung nach Deutschland ab. Rauff unterhält gute Beziehungen zur | |
Militärjunta um Pinochet, er soll die Geheimpolizei, Dirección de | |
Inteligencia Nacional (Dina), beraten haben und in der deutschsprachigen | |
Colonia Dignidad Verhörschulungen gegeben haben. | |
Seine Nachforschungen bescheren Sands teils überraschende Ergebnisse. In | |
einem Jerusalemer Archiv findet er einen Beleg dafür, dass nicht nur Simon | |
Wiesenthal dem flüchtigen Altnazi auf der Spur war. Laut der Niederschrift | |
eines ehemaligen Mossad-Agenten setzte der israelische Geheimdienst einen | |
deutschen Reporter auf Rauff an – und beschloss dann, ihn 1980 in seinem | |
Haus in Santiago zu ermorden. Die „Operation Stainless Steel“ scheitert | |
aber am lautstarken Protest seiner letzten Lebensgefährtin und seines | |
Hundes, unverrichteter Dinge ziehen die Beauftragten ab. Rauff stirbt 1984 | |
eines natürlichen Todes im Haus seines Sohnes. | |
Aus der Lektüre von Geheimdienstprotokollen und vielen Interviews ergeben | |
sich für Sands schließlich immer weitergehende Fragen: Hat Rauff auch | |
selbst gefoltert? Hat er für Pinochet ein Haftlager auf der Isla Dawson | |
geplant, das nach dem Modell von Auschwitz gestaltet war? Und was ist dran | |
an den kursierenden Gerüchten, die getöteten Gefangenen seien zu Fischmehl | |
verarbeitet worden – womöglich unter Rauffs Mithilfe oder gar Regie? Die | |
Figur Walther Rauff steht exemplarisch dafür, wie offen und sorgsam | |
verdeckt zugleich die vielen unaufgearbeiteten Verbrechen aus der | |
Pinochet-Zeit in Chile noch immer sind. | |
In „Londres 38“ verwebt Sands gekonnt zwei Handlungsstränge: Das jahrelange | |
Tauziehen um Pinochets Auslieferung zwischen Chile, Deutschland, Spanien | |
und anderen Ländern, das 2000 mit dessen krankheitsbedingter Freilassung | |
und Rückkehr nach Chile endete. Und das Leben von Walther Rauff, der als | |
Freund und Helfer Pinochets genauso straflos bleibt wie der Diktator. | |
Sands versteht sich aufs Erzählen. Aus Aktenvermerken, Gerichtsszenen und | |
persönlichen Beobachtungen konstruiert er lange Spannungsbögen und weiß | |
diese zu halten. Er stützt sich dabei nicht nur auf Handfestes, sondern | |
lässt sich auch von Literatur wie der Satire „Die Naziliteratur in Amerika“ | |
von [3][Roberto Bolaño] oder auch vom bloßen Zufall leiten, nach dem von | |
Carlo Ginzburg in „Faden und Fährten“ formulierten Prinzip, wonach zwischen | |
den narrativen und nicht narrativen Zeugnissen und der Realität, die sie | |
bezeugen, eine stets von Neuem zu untersuchende Verbindung besteht. | |
Der assoziative Flow, der daraus entsteht, führt dazu, dass man dem Autor | |
gerne über lange Seiten hinweg bei seiner eher intuitiv denn systematisch | |
angelegten Detektivarbeit folgt, seine Erfolge und Frustrationen teilt und | |
mit ihm staunt, wenn wieder einmal durch Zufall eine heiße Spur auftaucht, | |
die ihn noch weiter in den Kern der unappetitlichen Verwicklungen zwischen | |
einer kleinen Fischfabrik im Besitz weißer Kühllaster und dem Töten von | |
Regimegegner*innen führt. | |
Nur durch den angelsächsischen Plauderton des Autors lassen sich die | |
detaillierten Schilderungen von Folter und bestialischen Gewaltakten | |
einigermaßen ertragen. Dabei wirkt Sands Vorliebe für private Anekdoten, | |
die gelegentlich ins Schusselige gleitet, nie unpassend, sondern vielmehr | |
erdend. | |
Am Ende seiner Recherchen kehrt Philippe Sands noch einmal zurück in die | |
Calle Londres. Er schreibt: „Es gibt frisch gepflanzte Bäume und […] die | |
Büste eines Historikers aus dem 19. Jahrhundert, der über Chiles koloniale | |
Geschichte schrieb. Es gibt ein Hotel, ein Parkhaus, die Zentrale einer | |
politischen Partei. Es gibt ein Geschäft, das große Plastikplanen verkauft, | |
groß genug, um eine Leiche darin einzuwickeln. Es ist eine höchst | |
gewöhnliche Straße, aber eine mit einer Geschichte.“ | |
7 Jun 2025 | |
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## AUTOREN | |
Nina Apin | |
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