# taz.de -- Grünen-Politiker Cem Özdemir: Der letzte Aufstieg liegt noch vor … | |
> Cem Özdemir wird offiziell grüner Spitzenkandidat für die Landtagswahl in | |
> BaWü. Ist er der Richtige in schlechten Zeiten für seine Partei? | |
Bild: Der damalige Bundesminister für Landwirtschaft, Cem Özdemir, in der Fes… | |
Cem Özdemir steht breit grinsend in jener Stadthalle, in der er vor über 50 | |
Jahren mit anderen „Türkenjungs“ beschnitten wurde. Er trägt eine | |
Marschtrommel vor dem Bauch und schlägt im Takt inmitten der örtlichen | |
Landsknechtskapelle. An diesem Abend wird Özdemir zum Ehrenbürger seiner | |
Heimatstadt Bad Urach ernannt. Trommeln im Fanfarenzug sei als Kind immer | |
sein Traum gewesen, sagt er. „Nur einen schöneren Job kann ich mir noch | |
vorstellen.“ Vielsagendes Lächeln; klar, was gemeint ist. Müsste man die | |
Geschichte vom Gastarbeiterjungen, der nun baden-württembergischer | |
Landesvater werden möchte, zu einem Bild kondensieren, dann wäre es das vom | |
strahlend trommelnden Özdemir. | |
Die perfekte Inszenierung. Es ist natürlich kein Zufall, dass sie im Herbst | |
2024 direkt [1][nach seiner Bewerbung für die Spitzenkandidatur] ausgerollt | |
wird. Aber wie alle guten Erzählungen hat sie einen wahren Kern. Man muss | |
nicht die etwas ausgeleierte Formel vom „anatolischen Schwaben“ bemühen, | |
aber Özdemir ist als Außenseiter in dieser urschwäbischen Stadt | |
aufgewachsen. Wie vielleicht Millionen Einwanderer hat er alles getan, um | |
Teil dieser Gesellschaft zu sein. Daraus leitet sich fast alles ab, was er | |
politisch will und vertritt. | |
Im März 2026 will er also Ministerpräsident von Baden-Württemberg werden. | |
Dafür wird die Landespartei ihn an diesem Wochenende mit einem glänzenden | |
Ergebnis zum Spitzenkandidaten küren. Schon seit dem letzten Wahlsieg von | |
Winfried Kretschmann im März 2021 ist das der lange und nur notdürftig | |
gehütete Masterplan. [2][Einen besseren könnten sie gar nicht kriegen], | |
sagen fast alle in der Landespartei. | |
Doch inzwischen geht es mit den Grünen bundesweit bergab. Selbst in | |
Baden-Württemberg, wo sie Kretschmann mehr als solide durch die diverse | |
Krisen gesteuert hat, liegt die Partei in aktuellen Umfragen über 10 | |
Prozentpunkte hinter der CDU. Laut [3][einer Befragung des SWR] wünscht | |
sich die Mehrheit wieder einen CDU-Landesvater, selbst wenn sie den | |
Unionskandidaten Manuel Hagel kaum kennt. | |
## Man kennt ihn hier | |
Den Cem, den kennt man dagegen seit über 25 Jahren: Ende der 1990er als | |
Politikneuling mit türkischen Wurzeln und beeindruckenden Koteletten in der | |
alten Bundeshauptstadt Bonn; Anfang der 2000er als [4][zerknirschten | |
Bonusmeilentrickser]; nach dem Comeback als Kreuzberger Politpromi mit | |
Glamourfaktor; dann in der Rolle des von Flügelkämpfen zermürbten | |
[5][Vorsitzenden seiner Partei]; als glänzenden Redner im Parlament; als | |
Verfechter von Grund- und Menschenrechten gegenüber dem türkischen | |
Potentaten Erdoğan wie auch der AfD; als einen, der als seinen größten | |
Erfolg die Erklärung des Bundestags zum Völkermord an den Armeniern nennt; | |
und jüngst als Landwirtschaftsminister in der glücklosen Ampel. | |
„Sie kennen mich“, könnte er den Wählern einfach zurufen, wie es erst | |
Angela Merkel und dann Winfried Kretschmann im Wahlkampf getan haben. Aber | |
die Wahl des prominenten Realos ist keineswegs ein „gemähtes Wiesle“, wie | |
man hier so sagt. Eher fragt man sich in diesen Zeiten der allgemeinen | |
Unsicherheit und des Einwanderungsrollbacks: Ist der Kandidat Özdemir den | |
Baden-Württembergern im Vergleich zum bodenständigen Kretschmann und zum | |
biederen CDU-Kandidaten Hagel nicht irgendwie zu multikulti, zu gewagt, zu | |
weltläufig? | |
Bisher hatte er in der Politik eigentlich eher das gegenteilige Problem. In | |
seiner Partei finden sie ihn schon immer zu glatt, zu angepasst – das | |
werfen Bürgerkinder ehrgeizigen Aufsteigern ja gerne vor. Özdemir hat seine | |
Aufsteigergeschichte oft erzählt, in Büchern und auch in Reden. So oft, | |
dass man sie fast schon wieder vergessen hat: Kind von zwei türkischen | |
Einwanderern, die sich in Bad Urach kennengelernt haben. Die Mutter | |
betreibt in der Altstadt eine Schneiderei, an den Fenstern des Hauses klebt | |
auch heute nach dem Tod der Eltern noch der rote Schriftzug | |
„Änderungsschneiderei Özdemir“. In der Schule wird Cem wegen seiner | |
Herkunft und des schlechten Deutschs gehänselt, verprügelt und von Lehrern | |
gedemütigt. Er tut sich mit den wenigen anderen „Ausländerkindern“ seiner | |
Stadt zusammen. | |
Seine Noten sind schlecht, ein Lehrer lacht ihn vor der Klasse aus, als er | |
sagt, er wolle aufs Gymnasium. Besser wird er erst, als er Nachhilfe von | |
einer Kundin von Mutters Schneiderei bekommt. Özdemir arbeitet sich aus der | |
Hauptschule hoch, auf dem zweiten Bildungsweg studiert er schließlich | |
Sozialpädagogik. Er kämpft sich durch die Schikanen der türkischen | |
Bürokratie, damit er Deutscher werden kann. Er kennt dieses Deutschland, | |
von außen und von innen. | |
Diese Geschichte, die dem Politprofi Streetcredibility verleiht wie kaum | |
einem im Stuttgarter Politikbetrieb, werden er und sein Team im Wahlkampf | |
in den Vordergrund stellen. Er kann eine Identifikationsfigur sein für | |
Menschen mit Migrationshintergrund. Stärker als der sozialpolitisch wenig | |
interessierte Kretschmann wird Özdemir wohl Antworten auf die Frage suchen, | |
wie so eine Cem-Story im Baden-Württemberg der 2020er weiterhin möglich | |
ist. | |
Aber reicht das angesichts des großen Vorsprungs der CDU und des | |
allgemeinen grünen Verdrusses? „Das Rennen ist offen“, sagt Vorgänger | |
Kretschmann und nennt es die bundesweit wichtigste Wahl für alle Grünen im | |
nächsten Jahr. | |
Er fürchte ja, dass ein Kandidat bei den baden-württembergischen Wählern | |
immer noch auf Vorbehalte stoße, wenn er Özdemir heiße und nicht | |
Kretschmann oder Müller – damit sprach der ehemalige grüne Freiburger | |
Oberbürgermeister Dieter Salomon schon vor Monaten aus, was viele hinter | |
vorgehaltener Hand sagen. Özdemir aber glaubt, sein Land sei weiter. Er | |
sagt, er habe kein Rückfahrtticket in die Bundespolitik. Im Fall einer | |
Niederlage wird er dann wohl Landesminister oder schlimmstenfalls | |
Fraktionschef. Für einen Bundespolitiker eigentlich Kreisklasse. | |
Aber politische Rückschläge und Ablehnung kennt der 60-Jährige. 1981 tritt | |
er als Jugendlicher den Grünen bei und gründet in Bad Urach gleich seinen | |
eigenen Ortsverband. Schon als Schüler setzt er sich für Umwelt- und | |
Naturschutz und den öffentlichen Nahverkehr ein. Er ist Vegetarier, lange | |
bevor das hip ist. Aber das Kind von türkischen Einwanderern bleibt auch in | |
seiner Partei ein Exot. Die SPD bietet ihm ein Stadtratsmandat an, er | |
überlegt, die Grünen zu verlassen. | |
Rezzo Schlauch, so erinnern sich beide, wäscht ihm gehörig den Kopf. | |
Özdemir bleibt, wird in den Landesvorstand gewählt und macht später in | |
Berlin mit Migrationsthemen Karriere. Dabei erhält er viel Aufmerksamkeit | |
in den Medien. Doch die Ausländerbeauftragte der rot-grünen | |
Schröder-Koalition wird Marieluise Beck. Auch bei den Grünen machte man | |
damals eher Politik für als mit Ausländern, resümiert Özdemir. | |
Nach einer Affäre um dienstlich gesammelte, aber privat genutzte | |
Bonusmeilen büßt Özdemir härter als andere, die das Gleiche getan haben. Er | |
scheidet aus dem Bundestag aus, geht ein Jahr mit einem Stipendium in die | |
USA und danach ins Europaparlament. Den Parteivorsitz übernimmt Özdemir | |
2008 mit einigem Zögern, als ihn Joschka Fischer dazu drängt und Boris | |
Palmer abwinkt. Noch als designiertem Vorsitzenden verweigert die | |
Landespartei ihm 2008 einen sicheren Listenplatz für den Bundestag, weil | |
sie die Trennung von Amt und Mandat wichtiger findet. Zehn Jahre bleibt | |
Özdemir an der Parteispitze, 2017 verhandelt er hartnäckig über eine | |
Jamaikakoalition, die dann die FDP platzen lässt. | |
2021 in der Ampelkoalition wird Annalena Baerbock Außenministerin, der Job | |
also, der immer Özdemirs Traum war. Er muss sich als Minister nun um die | |
Landwirte kümmern. Die ökologische Bilanz des fachfremden Ministers sei | |
mau, kritisieren Umweltverbände. Immerhin, [6][er führt ein Tierwohllabel | |
ein]. Man kann vermuten, dass er es sich mit Blick auf seine Ambitionen in | |
Baden-Württemberg nicht mit der ländlichen Bevölkerung verderben will. | |
Als dann die Traktoren rollen, weil Habeck, Lindner und Scholz die | |
Dieselsubventionen kürzen, ohne den Landwirtschaftsminister bei der | |
Entscheidung miteinzubeziehen, läuft Özdemir zur Hochform auf. Vor allem in | |
Baden-Württemberg stellt er sich im kalten Winter stundenlang auf | |
Traktoranhänger und debattiert mit den Bauern. Debatten, die mit Buh und | |
Geschrei beginnen und meist mit zumindest respektvollem Applaus enden. | |
Da ist einer, der sich stellt, obwohl er die Entscheidung für falsch hält. | |
Vielleicht wählen sie ihn deshalb nicht gleich, aber zumindest ist er für | |
sie nicht das grüne Schreckgespenst, das Christian Lindner und Markus Söder | |
von ihm zu zeichnen versuchen. | |
Annalena Baerbock und Robert Habeck, die Hoffnungsträger der Grünen, sie | |
sind weg aus der ersten Reihe. Cem Özdemir ist noch da. Wie immer. Nachdem | |
er nicht mehr Minister ist, hält er sich medial zurück. Das raten ihm alle. | |
Ein paar Vor-Ort-Termine mit und ohne Kretschmann, das Team aufstellen. | |
Winfried Kretschmanns Pressesprecherin hat ihren Beamtenstatus aufgegeben, | |
um ins Team Özdemir zu wechseln. | |
Alte Realomitstreiter bis hin zum Ex-Grünen Boris Palmer geben Rat und | |
netzwerken im Hintergrund. Bloß nicht voreilig starten und dann | |
verschleißen. Der Wahlkampf beginnt noch früh genug, sein Ausgang ist offen | |
– für Özdemir und für die Grünen. | |
24 May 2025 | |
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## AUTOREN | |
Benno Stieber | |
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