# taz.de -- Erwarteter Grünen-Chef Özdemir: Der Multifunktionale | |
> Am Wochenende ist Grünen-Parteitag in Erfurt. Dort will sich Cem Özdemir | |
> zum Parteichef wählen lassen - und seine Aufsteigerstory vom | |
> Gastarbeitersohn loswerden. | |
Bild: "Mit Reden habe ich schon viel gerissen": Cem Özdemir. | |
Cem Özdemir ist ein geborener Redner. Tritt er auf, ist ihm Applaus sicher. | |
Klimawandel, Bildungsgerechtigkeit, die Bundeswehr in Afghanistan - alles, | |
womit sich ein Politiker der Grünen auskennen muss, tippt er an. Er redet | |
über "fossile Sockel" bei gleichzeitigem Ausstieg aus der Kohleförderung. | |
Er redet über den "Pfropfen im Ohr", den er bei vorurteilsbehafteten Leuten | |
lockern will. Er redet von Grün-Schwarz, wenn die Bedingungen stimmen und | |
von der Gewissensfreiheit in Sachen "Bundeswehr in Afghanistan". Özdemir | |
redet. Nach dem Applaus bleibt die Frage: Was hat er gesagt? | |
Am Samstag will Özdemir Chef der Grünen werden. Noch im März meinte er, der | |
Job sei nichts für ihn. Parteikollegen wie Reinhard Bütikofer, der einen | |
Nachfolger für sich suchte, aber auch Boris Palmer, Bürgermeister von | |
Tübingen, haben ihm den Posten schmackhaft gemacht. Er ist der einzige | |
Anwärter. Eigentlich muss ers machen. Wenn es eng wird, hilft ihm Reden. | |
Denn Özdemir weiß: Worte können Wunder wirken. "Mit Reden habe ich schon | |
viel gerissen", sagt der 42-Jährige. Als er in der ersten Klasse | |
sitzenbleiben soll, überzeugt er die Lehrer, dass das nicht geht. Und ein | |
paar Jahre später, als er aufs Gymnasium will und alle lachen - Mensch, du | |
bist doch ein Türke, - da hat er sich, wenn schon nicht in den Olymp des | |
deutschen Bildungssystems, doch immerhin ins Klassenzimmer einer | |
schwäbischen Realschule geredet. | |
Diese Episoden erwähnt Özdemir oft. Er erzählt sie bei Lesungen seines | |
Buches. Er erwähnt sie bei Interviews. Wenn dann bei so einer Gelegenheit | |
in der Kneipe im Hintergrund eine französische Sängerin singt "Jai décidé | |
de me faire du bien" - Ich habe mir vorgenommen, mir Gutes zu tun -, passt | |
das. | |
Beim Delegiertenkongress der baden-württembergischen Grünen im Oktober in | |
Schwäbisch Gmünd erinnert sich Özedemir auch wieder daran. Mit schwarzen, | |
bis zum Kinn reichenden Koteletten im Gesicht tritt er auf. Hippie- und | |
Gastarbeiterchic in einem. Er bewirbt sich um ein Mandat für den Bundestag. | |
Aufgeregt?, fragen ihn Presseleute vor seiner Rede. Özdemir kommt auf die | |
alten Schulgeschichten zu sprechen. Plötzlich stoppt er, wechselt das Thema | |
und füttert die Journalisten - ganz Profi - mit einem anderen Satz: "Kurz | |
bevor es auf die Bühne geht, wird der Harndrang größer." | |
Das mit dem Harndrang ist kein schöner Satz. Aber Schwäbisch Gmünd ging für | |
Özdemir auch nicht gut aus. Die Baden-Württemberger Grünen lassen ihn | |
durchfallen. Sie wollen ihm kein Mandat fürs Parlament geben, wo ihm | |
gleichzeitig das Amt des Parteivorsitzenden sicher sei. "Er war nicht gut | |
beraten, als er sich um beide Posten bewarb", meint sein Parteikollege | |
Winfried Hermann, der die erste Kampfabstimmung gegen ihn gewann. Ohnehin | |
findet er, Özdemir sei zu abhängig von dem, was andere sagen. | |
Für Özdemir soll also nicht gelten, was für Claudia Roth gilt. Sie ist die | |
andere Chefin der grünen Doppelspitze. Und sie ist gleichzeitig | |
Parlamentarierin. "Ich habe ein Gefühl für doppelte Standards", sagt er zu | |
den Delegierten vor seinem zweiten Versuch. Die lassen sich nicht | |
beeindrucken. Nachdem die Niederlage endgültig ist, zieht er seinen | |
Rucksack über die braune Cordjacke, als wolle er sich panzern. Es sieht | |
insektenhaft aus. Wortlos verlässt er den Saal. | |
Özdemir will dazu gehören. "Wer will das nicht?", fragt er Tage später in | |
einer Kneipe in Kreuzberg und erzählt von seiner Kindheit. Schlüsselkind, | |
das er war, verbrachte er seine Zeit mal schwäbisch wohlbehütet bei den | |
Nachbarn. "Ich nannte sie Opa und Oma." Mal stromerte er mit Freunden auf | |
der Straße. In den Ferien und an den Wochenenden aber wurde die Kultur | |
gewechselt. Da war Türkisches angesagt. | |
Geboren wurde Özdemir 1965 in Bad Urach. Seine Eltern lernten sich in | |
Deutschland kennen - er ist ihr einziges Kind. Früh wird er zu einem, der | |
zwischen den Kulturen wechseln kann. Es irritiert ihn, dass andere das | |
nicht können. Einmal versuchen er und sein Grundschulfreund zumindest ihren | |
Eltern das Pendeln zwischen türkischem und deutschem Wohnzimmer | |
anzugewöhnen. "Es wurde ein Fiasko." | |
Als seine Eltern die schwäbische Familie des Freundes besuchen, verbreiten | |
Kerzen im Wohnzimmer warmes Licht. "Ist jemand gestorben?", fragen Özdemirs | |
Eltern. "Nein, das ist wegen der Gemütlichkeit", erklärt ihnen ihr Sohn. | |
Dann tischen die Gastgeber den Kuchen auf. "Die essen das Dessert zuerst", | |
flüstert seine Mutter. "Nein, das ist alles, was es gibt." Für seine Eltern | |
ein Zeichen von Armut. Beim Gegenbesuch brennen bei den Özdemirs alle | |
Lichter, stehen alle Türen offen. "So zeigt man Gästen, dass man keine | |
Geheimnisse hat." Außerdem läuft der Fernseher. "Und dann all das Essen." | |
Nach diesem Versuch entscheiden die beiden Jungs, dass es reicht, wenn sie | |
sich mögen. | |
Was Özdemir in Bad Urach erlebte und als 15-Jähriger durch seinen Einstieg | |
bei den Grünen früh politisch deuten lernt, das macht er bis heute: Er | |
plädiert für Verständigung. "Wenn sich die Leute zuhören, wenn sie sagen, | |
ach, so kann man es auch machen, dann ist schon etwas gewonnen." So oder so | |
ähnlich redet er sich gern in Fahrt. Bei einer Lesung in Berlin lässt er | |
sich beim Plädoyer für Toleranz sogar zu dem Satz hinreißen: "Die Frau im | |
Minirock muss die Frau mit Kopftuch unterstützen. Und die Frau mit Kopftuch | |
die Frau im Minirock." Nur so werde ein Schuh draus. "Klingt gut", sagt | |
eine im Publikum, "ist aber einfach gestrickt." Özdemir hört es nicht. Wohl | |
aber Pia Castro. Die Argentinierin mit hochgestecktem Haar und | |
fellbesetzter Jacke ist Radiomoderatorin in Berlin. Und Özdemirs Frau. Sie | |
nickt. | |
Özdemir hat einen rasanten politischen Aufstieg hinter sich. Mit 23 Jahren | |
sitzt er im Landesvorstand der Grünen in Baden-Württemberg. Und 1994 zieht | |
er als erster türkischstämmiger Deutscher in den Bundestag. Von da an hält | |
er acht Jahre lang an prominenter Stelle seinen Kopf hin, um dafür zu | |
werben, dass man nicht bis zum Sankt Nimmerleinstag in Leuten, die hier | |
geboren sind, deren Eltern aber einmal als Gastarbeiter in deutschen | |
Provinzen oder Vorstädten strandeten, immer weiter nur Türken, Griechen | |
oder Italiener sieht. "Kümmere dich um die Politik in deinem Land", wurde | |
ihm entgegengeschleudert. "Das tue ich." Um den fremdenfeindlichen Dreck | |
auszuhalten, legt er sich eine Regenmantelhaut zu. Daran perlt alles ab. | |
Für manchen Deutschen war seine Präsenz in der Politik eine Provokation. | |
Für Migranten aber wird er zum Vorbild. "Er ist sehr wichtig für uns", sagt | |
der türkischstämmige Schaffner im ICE von Stuttgart nach Berlin. "Ich kenne | |
keinen, der so wie er zeigt, dass wir dazu gehören." Gestenreich fährt er | |
fort. "Als Özdemir damals wegen der Affäre aufhörte mit der Politik, hat er | |
es für unsere Glaubwürdigkeit getan." | |
Mit der Affäre sind Bonusmeilen gemeint, die Özdemir privat verflog, und | |
ein Kredit, den ihm ein Lobbyist antrug. Deshalb trat er 2002 von allen | |
Ämtern zurück. Wenngleich nicht lange. 2004 wurde er ins Europaparlament | |
gewählt. Özdemir glaubt, sein Rückzug war schlecht für ihn. "Hätte ich das | |
ausgesessen, würden alle sagen: Er ist ein harter Kerl. Der ist für Höheres | |
berufen." | |
Über Jahre hat Özdemir die repräsentativen Rollen als Buhmann von Deutschen | |
und als Frontmann von Migranten angenommen. Letztere bieten ihm emotionalen | |
Rückhalt. Auf dem Fest zur Veröffentlichung seines neuen Buches in einem | |
Kreuzberger Festsaal waren viele Freunde. Sie heißen Sen oder Hajar oder | |
Nilgür. Seine Schwiegermutter, eine Fernsehjournalistin aus Buenos Aires, | |
war auch da. Als sie gefragt wird, ob man ihrem gut aussehenden | |
Schwiegersohn je richtig nahe kommt, meint sie, eigentlich sei er | |
"impermeable" - undurchdringlich. Aber in Argentinien öffne er sich. | |
Buhmann und Frontmann ist längst nicht alles. Als deutscher Politiker mit | |
türkischem Hintergrund mischt er sich ebenso in die Politik in der Türkei | |
ein und prangert Menschenrechtsverletzungen, Staudammprojekte und die | |
dortige Kurdenpolitik an. Umgekehrt scheut er den Ärger mit Kurden in | |
Berlin auch nicht. Im Haus in Kreuzberg, wo er wohnt, ist eine von | |
Kurdischstämmigen betriebene Moschee samt Männercafé. Die sorgen für Unmut. | |
Özdemir gilt nun als Rädelsführer, der sie zum Umzug zwingt. "Ein | |
Schauspieler ist er", schimpfen Männer im Café. | |
Eine Rolle aber, die Özdemir ebenfalls besetzen muss, wird in den | |
Vordergrund rücken, wenn er Grünen-Chef wird: die als deutscher Politiker, | |
der die Politik in Deutschland mitgestaltet. Und wie macht ers? Mit Worten | |
natürlich. Klimapolitik, Gerechtigkeit und Freiheit sind die Themen, mit | |
denen er dabei hausieren geht. Zuerst markiert er die Katastrophe, dann | |
trifft er mitten ins Herz. "Der DAX kann sich wieder erholen, der | |
abgeholzte Regenwald nicht." Oder: "Gerechtigkeit - die dürfen wir nicht | |
Lafontaine überlassen." Auch: "Früher hat man gesagt, Frauen müssen nicht | |
studieren. Jetzt sagt man es von Arbeiterkindern." Und: "Da, wo ich wohne, | |
stellen die Eltern den Kindern nicht die Sojabratlinge auf den Tisch." | |
Starke Gestik inbegriffen. Das kommt gut an. Obwohl es nicht lange wirkt. | |
Von sich selbst aber sagt er: "Ich bin Realo." Soll heißen? "Ich bin | |
Realpolitiker, weil ich Strukturen ändern will." Welche? "In Deutschland | |
ist man ergebnisorientiert, ich aber will Prozesse in Gang setzen." Wie | |
damals, als er das Pendeln zwischen Wohnzimmern lernte, nicht das | |
Sich-Einrichten in einem. | |
Özdemirs Kunst ist die Repräsentation. In mehreren Rollen - parallel. Das | |
ist seine Stärke und Schwäche zugleich. Denn Repräsentation ist wichtig. | |
Aber nicht verbindlich. Deshalb ist er so schwer zu fassen. Und deshalb | |
wird er immer wieder gern in handliche Schlagwörter gepackt: Politpopstar, | |
Bindestrich-Deutscher, Dressmann, Vegetarier, Meilenflieger, Spätzletürke. | |
Letzteres hat ihn verletzt. "Wer will ein Leben lang so genannt werden?" | |
Die Alternative "anatolischer Schwabe" hat er selbst in die Welt gesetzt. | |
"Linkshänder" passt auch noch in die Aufzählung. "Etwas von links ist | |
geblieben", lacht Özdemirs Frau. | |
13 Nov 2008 | |
## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |