# taz.de -- SPD-Basis und der Koalitionsvertrag: Zwischen Resignation und Pragm… | |
> Die rund 360.000 SPD-Mitglieder sind aufgerufen, über den | |
> Koalitionsvertrag abzustimmen. Viele werden wohl Ja sagen – mit der Faust | |
> in der Tasche. | |
Bild: Oliver Kaczmarek informiert die SPD Basis über die Koalitionsverhandlung… | |
Güstrow/Schwerte taz | Paul Kruse hat sich schnell entschieden. „Am Tag, | |
als der Brief ankam, habe ich abgestimmt. Mit Nein“, sagt der 25-jährige | |
stellvertretende Juso-Landesvorsitzende von Mecklenburg-Vorpommern. Im | |
jüngst ausgehandelten Koalitionsvertrag sei von gerechter Steuerpolitik | |
keine Spur zu finden, die Formulierung beim Mindestlohn zu vage und die | |
Erhöhung der Pendlerpauschale das falsche Signal für den Umweltschutz. | |
Im Juso-Alter ist auch Maik Ritter, aber nicht bei den Jungsozialisten | |
aktiv. Der jüngste Bürgermeister Mecklenburgs wirbt voller Überzeugung für | |
den Koalitionsvertrag – aus Pragmatismus. „Ohne Regierung gibt es keinen | |
Haushalt, ohne Haushalt keine Investitionen“, rattert er runter. Das Geld | |
aus dem 500 Milliarden Euro schweren Investitionspaket brauche die | |
8.000-Einwohner-Gemeinde Tessin dringend für Straßen, Schienen, Kitas und | |
Schulen. „Wir haben allein in meiner Gemeinde einen Investitionsstau von | |
über 11 Millionen Euro.“ | |
Zwei Genossen, zwei Meinungen zum Koalitionsvertrag. Bis Dienstag sind die | |
rund 360.000 SPD-Mitglieder bundesweit aufgerufen, [1][sich ein Urteil zu | |
bilden und abzustimmen]. Das Ergebnis entscheidet darüber, ob die SPD in | |
eine Koalition mit der Union eintritt und ob 83 Millionen Menschen in | |
Deutschland demnächst wieder eine stabile Regierung haben werden. Kruse und | |
Ritter sind am Mittwoch ins Bürgerhaus in Güstrow gekommen, wo die SPD zur | |
Dialogkonferenz geladen hat. Manuela Schwesig, Landesvorsitzende und | |
Mitverhandlerin, werde „Rede und Antwort stehen“, verspricht der Moderator. | |
50 Genoss:innen haben an diesem Abend den Weg hierher gefunden. | |
Eingeladen wurde für ganz Ostdeutschland, außer Brandenburg. Von | |
Enthusiasmus kann nicht die Rede sein – eher von müder Resignation, | |
gepaart mit Pragmatismus. | |
## Schlechtestes Ergebnis der Geschichte | |
Die SPD hat 16,4 Prozent bei der Bundestagswahl bekommen, das schlechteste | |
Ergebnis der Geschichte. Da sei eben nicht viel zu erwarten, finden die | |
Genoss:innen. Und Alternativen zur ungeliebten Verpartnerung mit der | |
Union? Gibt es nicht, jedenfalls keine, die die in Teilen rechtsextreme AfD | |
außen vor lässt. Schwesig, ganz in Rot, versucht in Güstrow nichts zu | |
beschönigen. | |
„Der 23. Februar war ein wirklich bitterer Abend. Eine Niederlage mit | |
Ansage“, sagt die Ministerpräsidentin, die im nächsten Jahr wiedergewählt | |
werden will, und setzt sich so gleich zu Beginn ihrer Rede von der | |
Parteiführung ab. „Alle wussten, dass es so kommt. Die Bevölkerung hat ganz | |
klar Olaf Scholz und der SPD kein Vertrauen mehr geschenkt.“ Umso wichtiger | |
sei es, dieses Ergebnis jetzt aufzuarbeiten. | |
Einen ähnlichen Programmprozess wie in den 1950er und Anfang der 2000er | |
Jahre brauche es heute auch, meint der Politikwissenschaftler Wolfgang | |
Schroeder. Das Wähler:innenspektrum der SPD sei heute „dramatisch | |
reduziert“ auf akademisch gebildete Staatsbedienstete und Rentner:innen. | |
„Die SPD hat die Arbeiter und unteren Mittelschichten verloren, sie | |
konkurriert heute um ähnliche Wähler:innen wie Grüne, Linke und | |
teilweise die CDU.“ | |
Wenn es der Partei gelänge, ein Bündnis der sogenannten kleinen Leute mit | |
den aufgeklärten Mittelschichten zu schmieden, in dem sie stärker die | |
Lebenswirklichkeit in den Blick nähme und sicherstelle, dass Arbeit sich | |
lohne, dann wäre das ein konkurrenzfähiges Angebot im Parteienwettstreit. | |
Dass die Neuerfindung als Partei der Arbeit kurzfristig gelingt, denkt | |
Schroeder nicht. Zudem werde es schwierig, beides gleichzeitig | |
hinzukriegen: Neuaufstellung und loyale Regierungsarbeit. Das aber wird | |
darüber entscheiden, ob die SPD Volkspartei bleibt. | |
## 2018 haben nur 66 Prozent mit Ja gestimmt | |
Doch die Aufarbeitung ist vertagt – auf den Parteitag im Juni. Zunächst | |
geht es darum, die Basis hinter dem Koalitionsvertrag zu versammeln. | |
Deshalb verlegt sich Schwesig in Güstrow von der Kritik aufs Konstruktive. | |
Sie lobt das Milliardenpaket für die Infrastruktur, hofft, dass der | |
Bürokratieabbau endlich vorankommt und die Wirtschaft wieder Fahrt | |
aufnimmt. Für die Menschen im Osten, die überwiegend auf die gesetzliche | |
Rente angewiesen sind, sei die Sicherung des Rentenniveaus wichtig. Themen | |
wie Migration oder Bürgergeld – Punkte, bei denen die Union der SPD harte | |
Verschärfungen abgehandelt hat –, lässt sie weg. | |
Am selben Abend kämpft südlich von Dortmund auch der Bundestagsabgeordnete | |
Oliver Kaczmarek für den Vertrag, nüchtern, ohne Pathos. „Wir machen keine | |
Liebesheirat“, sagt der 54-Jährige im Ladenlokal Freundschaft im | |
Stadtzentrum von Schwerte. „Wir machen diese Koalition, wenn die | |
SPD-Mitglieder zustimmen, weil wir sie machen müssen.“ 26 Genoss:innen | |
sind der Einladung des Stadtverbands gefolgt. | |
Sicher kann sich die Parteiführung nicht sein, dass die Genoss:innen | |
auch den dritten Koalitionsvertrag mit CDU und CSU problemlos durchwinken. | |
Gaben beim Mitgliedervotum 2013 noch knapp 76 Prozent ihr Okay, waren es | |
2018 nur noch 66 Prozent. | |
Kaczmarek, im Bundestag Sprecher der SPD für Bildung und Forschung, hat den | |
Koalitionsvertrag für seinen Bereich mitverhandelt. Der an die allgemeine | |
Lohnentwicklung gekoppelte Mindestlohn komme, argumentiert er und wirbt mit | |
dem 500 Milliarden schweren Investitionsprogramm. Vor allem aber appelliert | |
er an die Verantwortung seiner Leute: Die erfolgreiche Bekämpfung der | |
Rechtsextremen, darauf komme es jetzt an. | |
## Koalitionsvertrag „ziemlich furchtbar“, findet Genossin | |
Quasi alternativlos sei die Wahl von CDU-Chef Friedrich Merz zum Kanzler, | |
erklärt der im benachbarten Kamen geborene Sohn einer Bergmannsfamilie. Die | |
Bundestagswahl sei ein „historischer Einschnitt“ für die Demokratie in | |
Deutschland gewesen. „Wir müssen uns vor Augen führen, in welcher | |
politischen Lage wir sind“, mahnt Kaczmarek: Die SPD-Bundestagsfraktion | |
habe nur noch 120, die der AfD dagegen 152 Mitglieder. „Wir können jetzt | |
nicht weglaufen.“ | |
Die Angst vor dem weiteren Aufstieg der AfD treibt die SPD im Osten wie im | |
Westen. In seinem Wahlkreis Unna hat sich Kaczmarek als direkt gewählter | |
Abgeordneter erneut durchgesetzt. Doch die AfD hat ihr Ergebnis mit 18,8 | |
Prozent fast verdreifacht. Die Direktmandate in den ostdeutschen | |
Flächenländern gingen mit wenigen Ausnahmen an die AfD, der rote Teppich | |
von 2021 ist nun komplett braun. Die extrem Rechten sind in | |
Mecklenburg-Vorpommern mit 35 Prozent stärkste Kraft. Für die regierende | |
SPD blieben magere 12,4 Prozent. | |
Auch im Freundschaft in Schwerte wird schnell klar: Die meisten | |
Genoss:innen gehen mit geballter Faust in das Bündnis mit der Union. Am | |
Koalitionsvertrag gibt es viel Kritik. Ob es so etwas wie sozialen | |
Wohnungsbau überhaupt noch gäbe, fragt etwa eine 60 Jahre alte Genossin. | |
Als Sozialarbeiterin diskutiere sie mittlerweile darüber, „mit welchem Zelt | |
man am besten über den Winter kommt“, schildert sie ihre Arbeit mit | |
Obdachlosen. „Mein Vertrauen in diese CDU ist äußerst begrenzt“, erklärt | |
die Schwerter Co-Parteichefin Sigrid Reihs. | |
Gerade „als Frauenpolitikerin“ finde sie den Koalitionsvertrag | |
„ziemlich furchtbar“. „Wenn es nicht einmal gelingt, im Jahr 2025 den | |
Paragrafen 218 abzuschaffen – dann frage ich mich, welches Frauen- und | |
Familienbild da produziert wird.“ Der Bundesvorstand der Jusos hat den | |
Vertrag bereits abgelehnt, auch die Jusos in Schwerte sind überwiegend | |
kritisch. | |
## Verhandlungen „kein Demütigungstrip“ | |
Die Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission Gesine Schwan sieht hingegen | |
viel sozialdemokratisches Gedankengut im [2][Koalitionsvertrag] und lobt | |
die Verhandler:innen: „Für die SPD waren diese Verhandlungen kein | |
Demütigungstrip, das galt wohl eher für Friedrich Merz.“ | |
Einen massiven Verlust an Glaubwürdigkeit attestiert sie ihrer Partei, wie | |
allen demokratischen Parteien, gleichwohl. Die Ursache sieht die | |
Politikwissenschaftlerin vor allem in einem Modell von Politik, das | |
Wähler:innen seit den Nullerjahren wie Kunden behandele. „Die SPD hat in | |
den letzten Jahren immer mehr Lobbypolitik zugunsten einzelner Gruppen | |
gemacht. Das muss aufhören, wir müssen wieder Politik für die ganze | |
Gesellschaft machen.“ Es brauche eine neue Vorstellung von Gemeinsinn und | |
Teilhabe, etwa bei der Energiewende. „Denn Bürger:innen sind keine | |
Kunden, sondern verantwortlich Mitwirkende.“ | |
In Güstrow geht die Dialogkonferenz zu Ende. Was passiert, wenn der Vertrag | |
keine Mehrheit findet, will jemand zum Schluss noch wissen. „Wenn es keine | |
Mehrheit gibt, kommt die Koalition nicht zustande. Es wird auch keine | |
Nachverhandlungen geben“, sagt Schwesig. Es ist eine nüchterne, harte | |
Ansage. Bürgermeister Ritter hofft, dass es nicht schon am Quorum | |
scheitert. Mindestens 20 Prozent der Parteimitglieder müssen bundesweit | |
abstimmen, damit der Entscheid gültig ist. | |
Scheitern kommt zumindest für Schwesig nicht infrage. „Ich hätte nie | |
gedacht, dass ich diesen Satz mal sage, aber ich wünsche mir wirklich, dass | |
Friedrich Merz und die künftige Koalition Erfolg haben.“ | |
26 Apr 2025 | |
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## AUTOREN | |
Anna Lehmann | |
Andreas Wyputta | |
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