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# taz.de -- Aktivistin über Umweltverbundenheit: „Wir haben eine gemeinsame …
> Joan Carling setzt sich seit Jahrzehnten für die Rechte indigener
> Menschen in Südostasien ein. Sie fordert eine Abkehr vom Kapitalismus.
Bild: Die indigene Aktivistin Joan Carling bei einem Interview mit einer Nachri…
taz: Frau Carling, müssten wir im Westen wieder indigener werden?
Joan Carling: Es würde helfen. Rechtspopulismus, Ungleichheit, Überkonsum,
Klimakrise – im Zentrum all dieser Probleme sehe ich ein fehlendes
Verständnis für unsere Lebensgrundlagen als Menschen.
taz: Was meinen Sie damit?
Carling: Ich bin gerade in Dänemark. Wenn ich ein kleines Kind hier frage:
„Woher kommt dein Essen?“, dann sagt es …
taz: … aus dem Supermarkt.
Carling: Genau. Das ist das Problem. Dieses Abgetrenntsein von der eigenen
Umwelt, von dem Land und den Menschen um einen herum.
taz: Was bedeutet Indigensein für Sie?
Carling: Eine indigene Person lebt in Verbundenheit. Verbundenheit mit der
eigenen Kultur, dem eigenen Land, den Mitmenschen. Und diese Verbundenheit
führt zu einer gegenseitigen Beziehung, einem respektvollen Geben und
Nehmen. Wir nehmen von der Natur und gleichzeitig pflegen und schützen wir
sie. Ich selbst bin vom Volk der Kankanaey im Norden der Philippinen. Wir
haben zum Beispiel eine besondere Verbindung zur Süßkartoffel. Sie ist für
uns ein Lebensmittel, dessen Frucht wir essen, dessen Blätter wir an die
Schweine verfüttern, aus dem meine Großmutter Mehl machte. Als Kind habe
ich Lieder gesungen, die die Lebenskraft, die uns die Süßkartoffel gibt,
feiern und ihr danken.
taz: Es geht also um ein besseres Verständnis dafür, wie wir in unsere
Umwelt eingebettet sind?
Carling: Ja, und gleichzeitig geht es um viel mehr. Ein Grundpfeiler
indigenen Denkens ist, dass wir nicht alleine existieren. Wir existieren
als Teil einer Gemeinschaft, als Teil eines Clans. Unsere Tänze, unsere
Musik, unser Ressourcenmanagement: Sie funktionieren nur im Kollektiv.
taz: Wie war Ihre Kindheit? Sicherlich ganz anders bei jemandem, der in
einer deutschen Großstadt aufwächst.
Carling: Na ja, erst einmal bin ich jeden Tag 3 Kilometer zur Schule
gelaufen. Das mag hart klingen, aber wir waren immer mit mehreren Kindern
unterwegs und meistens hat es Spaß gemacht. An den Wochenenden haben wir im
Wald Kiefernzapfen gesammelt und sie an die Gärtnerei verkauft, um
Taschengeld für Süßigkeiten zu haben. Und wenn es gedonnert hat, sind wir
wieder in den Wald, um Pilze zu ernten. Im Sommer haben wir Guaven geerntet
und am Fluss gespielt. Diese innere Freiheit, die ich als Kind mit meinen
Freunden in der Natur erlebt habe, begleitet mich noch heute.
taz: Wann wurde Ihnen bewusst, dass dieser Lebensstil unter Druck steht?
Carling: Politisiert hat mich der Kampf der indigenen Stämme gegen den
Chico-Damm auf der Nordinsel der [1][Philippinen]. Damals wollte die
Regierung sie vertreiben, um einen Staudamm zur Elektrizitätsgewinnung zu
bauen. Der Damm hätte ihre Reisfelder und Dörfer geflutet. Indigene
Menschen von ihrem Land zu vertreiben ist aber so, wie Fische aus dem
Wasser zu nehmen. Ohne ihr Land verlieren sie ihre Identität, können nicht
mehr als die Menschen überleben, die sie sind.
taz: Wie hat die Bevölkerung auf die Pläne reagiert?
Carling: Die betroffenen Stämme haben damals ihre jahrelangen Konflikte
beiseitegelegt und gemeinsam gegen das Projekt demonstriert. Von einem
anderen Dammprojekt in der Nähe wussten sie, dass hier ihre Zukunft auf dem
Spiel stand. Denn bei dem vorherigen Projekt war die indigene Bevölkerung
auf eine Insel umgesiedelt worden, auf der viele von ihnen an Malaria
starben. Und von der Elektrizität kam auch nichts bei den umliegenden
Stämmen an.
taz: Wie ging der Konflikt am Ende aus?
Carling: Am Ende einer monatelangen Kampagne haben sie sich durchgesetzt:
Die Weltbank zog ihre Finanzierung für den Damm zurück und die Menschen
konnten weiter auf ihrem Land leben. Sie haben sich trotz Drohungen von
Firmen und Regierung gewehrt und für ihre Kultur und ihr Überleben
gekämpft. Das hat mich inspiriert.
taz: Im Grunde klingt das nach einem Konflikt, der auch heute noch überall
auf der Welt ausgetragen wird. Es geht um Solarfarmen, Minen …
Carling: … Windparks, Tourismus, Agribusiness.
taz: Das Dilemma: Gerade seltene Erden und erneuerbare Energien werden für
die Energiewende dringend benötigt.
Carling: Ich verstehe, dass Rohstoffe und Flächen gebraucht werden.
Weltweit liegen mehr als 50 Prozent der für Techprodukte dringend
benötigten kritischen Mineralien auf dem Territorium indigener Menschen. Es
kann nicht sein, dass wir kein Mitspracherecht dabei haben, wie diese
Rohstoffe abgebaut und wie sie verwendet werden. [2][Zum Beispiel in
Norwegen]. Dort hat die Regierung auf dem traditionellen Rentierweideland
der Samen 2010 Windparkkonzessionen erteilt. Die Samen haben sich gewehrt
und gefragt: Warum baut ihr die Windparks nicht außerhalb von Oslo? Aber
große Windparks in der Nähe der Hauptstadt: Das wollte man den Menschen
dort nicht zumuten. Die Anlagen wurden gebaut. 2021 erklärte der Oberste
Gerichtshof sie dann für illegal. Aber erst nachdem junge Samen ein Jahr
lang vor dem Parlament protestiert hatten, konnten sie einen Kompromiss mit
der Regierung erkämpfen. Die Geschichte zeigt: Die Interessen indigener
Menschen opfern Regierungen oft als Erstes. Das ist für mich Ausdruck eines
tief sitzenden Rassismus.
taz: Was könnten westliche Gesellschaften von indigenen Denkweisen lernen?
Carling: Als erstes, nur die Ressourcen von der Natur zu nehmen, die man
tatsächlich braucht. Wir fällen auch Holz in unseren Wäldern, um unsere
Häuser und Möbel zu bauen. Aber wir nehmen nicht mehr, als wir tatsächlich
brauchen. Und vor allem pflanzen wir für jeden Baum, den wir fällen, drei
neue Bäume. Was auch immer du nimmst, du füllst es wieder auf. Allein
dieses Prinzip würde bei Produktion und Konsum schon viel verändern. Im
Kern geht es um die Frage, ob wir wirtschaften, um Profit zu machen oder um
uns gut zu versorgen. Massentierhaltung, Kurzstreckenflüge, Kryptowährungen
– worum geht es da wirklich? Ein indigener Weg wäre am Ende wohl auch
einer, der mit einem einfacheren Leben einhergeht.
taz: Aus unserer heutigen Konsumgesellschaft heraus scheint ein solcher Weg
schwer vorstellbar.
Carling: Menschen in Deutschland verbrauchen dreimal so viele Ressourcen,
wie die Erde Kapazitäten hätte, um zu regenerieren. Ganz ohne Verzicht
kommen wir da nicht in Richtung Nachhaltigkeit. Insbesondere im globalen
Norden, wo die Ober- und Mittelschicht mit Privilegien lebt, die auf der
Ausbeutung des globalen Südens beruhen. Letztens habe ich bei einem Vortrag
gefragt: „Wer von Ihnen trägt einen Goldring?“
taz: Und dann?
Carling: Fast alle verheirateten Menschen haben sich stolz gemeldet. Aber
niemand von ihnen wusste, dass ein Goldring fast acht Tonnen toxischen Müll
verursacht. Dass die meisten [3][Goldminen] von Kinderarbeit oder der
Vertreibung indigener Völker profitieren. Aber wenn wir diese Zusammenhänge
wirklich verstehen, können wir echte Solidarität miteinander aufbauen.
taz: Geht es hier denn wirklich nur ums Verstehen? Fast Fashion, Handys,
Laptops – die meisten Menschen wissen, dass solche Dinge unter
ausbeuterischen Bedingungen hergestellt werden. Das eigene Verhalten zu
ändern, fällt trotzdem schwer.
Carling: Es geht nicht nur um individuellen Verzicht, es geht auch darum,
dass Menschen ihre Regierungen und Firmen hinterfragen: Haltet ihr euch an
Menschenrechte? Arbeitet ihr innerhalb der Belastungsgrenzen unserer Erde?
Und wenn wir uns die Geschichte anschauen, finde ich es noch absurder, dass
die wohlhabenden Mittelschichten in Europa keine Bereitschaft haben, auch
ein wenig zu verzichten. Ihr Reichtum beruht auf Jahrhunderten von
kolonialer Ausbeutung.
taz: Derzeit befinden wir uns auf einem langsamen Pfad hin zu einem grünen
Kapitalismus, der Wirtschaftswachstum und Profitorientierung beibehält,
dabei aber versucht, klimaneutral zu werden. Angesichts des Zeitdrucks der
Klimakrise: Ist dieser Weg nicht realistischer, als das gesamte System
umbauen zu wollen?
Carling: Für mich ist das kein nachhaltiger Weg. Mit ihm halten wir an
Ausbeutung, Landraub und Ungleichheit fest. Wenn wir nur von fossilen auf
erneuerbare Energien umsteigen, lassen wir die vielen Menschen im Stich,
die unter diesen Ungerechtigkeiten leiden. Wir haben eine gemeinsame
Verantwortung, dieses System zu ändern.
taz: In den Naturschutzkonzepten von westlichen Ländern wie Deutschland
ging man lange davon aus, dass die Natur sich ohne Menschen am besten
entwickelt. Was halten Sie von dieser Idee?
Carling: Ich halte das für gefährlichen Blödsinn. Wohin er führt, sehen wir
in Tansania, wo 82.000 indigene Maasai aus der Ngorongoro Crater
Conservation Area vertrieben werden sollen. Angeblich, um die Natur dort zu
schützen. Dabei zeigen Studien, dass ihre nomadische Viehzucht zu einer
höheren Biodiversität führt, weil sie invasive Arten in Schach halten.
Ähnliche Prozesse sehen wir in Kambodscha, Thailand und Indonesien, wo
indigene Menschen kriminalisiert werden, weil sie in ihren angestammten
Wäldern Holz schlagen oder jagen. Anstatt das eigene Wirtschaften zu
hinterfragen, wird hier angeblicher Naturschutz auf Kosten marginalisierter
Gruppen gemacht.
taz: Auf Konferenzen der Vereinten Nationen werden indigene Personen
manchmal „Federn“ genannt …
Carling: … oh, wie ich dieses Wort hasse.
taz: Gemeint ist, dass man indigene Menschen gerne auf Panels sprechen
lässt, sich mit ihnen schmückt. Aber dass die Entscheidungen doch woanders
gefällt werden.
Carling: Es gibt diese Art von Tokenism, bei dem Einzelne von uns auf die
Bühne geholt werden, um sich als inklusiv zu präsentieren, während unsere
Interessen ignoriert werden. Aber über die vergangenen Jahre haben wir uns
auf internationaler Ebene auch Räume erkämpfen können, in denen wir den Ton
angeben. Letztlich misst sich der Erfolg unserer Bewegung daran, was wir
vor Ort durchsetzen. Wir wollen ein gutes Leben im Einklang mit der Natur
und unseren Mitmenschen. Erst wenn dieses Recht für uns alle realisiert
ist, haben wir unser Ziel erreicht.
26 Apr 2025
## LINKS
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[3] /Umstrittene-Geschaefte-in-Zentralafrika/!5693175
## AUTOREN
Mitsuo Iwamoto
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