# taz.de -- Vom Leben und Sterben: Dem Tod so nah | |
> Ostern ist das Fest der Auferstehung. Vier Menschen berichten von ihren | |
> Nahtoderfahrungen – und wie sie ihre Haltung zum Leben bis heute prägen. | |
Bild: Die wohl bekannteste Erzählung handelt von verheißungsvollem Licht | |
„Es war eine Kraft oder eine Macht, die mir Stärke gab“ | |
Seyran Ateş, 61, Juristin, Autorin und Geschäftsführerin in der | |
Ibn-Rushd-Goethe-Moschee, Berlin | |
Mit 17 bin ich von zu Hause weggelaufen. Ich komme aus einer | |
türkisch-kurdischen Familie und wurde sehr traditionell erzogen. Als | |
Tochter durfte ich kaum das Haus verlassen. Anfangs hatte ich große Angst, | |
dass sie mich zurückholen, aber mit der Zeit hat sich meine Familie mit der | |
Situation arrangiert. Ich habe Jura studiert und mit meinem deutschen | |
Freund in einer WG in Berlin-Kreuzberg gelebt. Neben dem Studium arbeitete | |
ich in einem Frauenladen. Ich habe dort für türkische Frauen übersetzt und | |
sie in Alltagsfragen beraten. | |
Um mich ganz auf das Studium zu konzentrieren, kündigte ich den Job. Weil | |
ich meine Nachfolgerin einarbeiten sollte, war ich an einem Dienstag im | |
Herbst 1984 noch mal dort. Ich kümmerte mich gerade um eine Frau, die Post | |
vom Arbeitsamt bekommen hatte, als ein älterer türkischer Mann in der Tür | |
stand. Meine Kolleginnen versuchten, ihn abzuwimmeln. Da schob er die Hand | |
in die Brusttasche seines Trenchcoats. Er zog tatsächlich eine Pistole und | |
zielte auf mich und die Frau. Ich sah in den Lauf und dachte: Scheiße, der | |
erschießt dich jetzt. Das kann doch nicht sein. | |
Ich hörte drei Schüsse und hatte unmittelbar danach das Gefühl zu schweben. | |
Es war, als säße ich auf einem Thron. Ich fühlte mich leicht und klar. | |
Unter mir sah ich mich selbst auf dem Boden liegen, in einer Blutlache, die | |
sich um meinen Hals herum ausbreitete. Dann wechselten die Bilder: Mal saß | |
ich auf dem Thron, mal spürte ich, wie ich auf dem Boden lag. | |
Ich dachte: Ich sterbe jetzt. Wenn mein ganzes Leben wie ein Film vor mir | |
abläuft, dann sterbe ich. Oft hatte ich davon gehört. Ich wartete kurz, | |
aber der Film kam nicht. Also hatte ich vielleicht eine Chance. Ich dachte | |
an meine Eltern, an meinen Freund und daran, wie traurig sie wären, wenn | |
ich sterben würde. Außerdem dachte ich an unseren Kater, der war kurz zuvor | |
weggelaufen. Ich kann doch nicht sterben, bevor ich ihn wiedergefunden | |
habe, dachte ich. Im Hals spürte ich, wie mir langsam die Luft wegblieb. | |
Ich wurde bewusstlos. Danach sah ich, wie meine Kollegin verzweifelt | |
versuchte, den Notruf anzurufen, sie wählte kopflos irgendwelche Nummern. | |
„Du musst 110 oder 112 wählen“, sagte ich, aber sie hörte mich nicht. | |
Wir haben später darüber gesprochen. Was ich gesehen hatte, stimmte. Aber | |
von da, wo ich lag, auf dem Boden, mit dem Gesicht zur Tür, hätte ich das | |
Telefon unmöglich sehen können. | |
Nach einer Weile kam eine Ärztin aus einem benachbarten Krankenhaus, dann | |
die Feuerwehr. Ich beobachtete von oben, was passierte. Ich hatte Kontakt | |
mit etwas außerhalb unseres Bewusstseins. Es war eine Kraft oder eine | |
Macht, die mir Stärke gab. Mein Kopf war klar, und ich fühlte mich | |
glücklich wie noch nie in meinem Leben, vollständig getragen und geborgen. | |
Ich verstand, dass ich dieses Glück behalten konnte, wenn ich mich | |
entschied zu sterben. Ich würde dem Licht entgegenschweben und nie | |
wiederkommen. Die Verlockung war sehr groß, denn das Gefühl war | |
unbeschreiblich schön. | |
Aber ich durfte abwägen, ob ich schon genug hatte von diesem Leben hier. | |
Ich wollte nicht davonschweben. Ich wollte noch bleiben. Es war nicht nur | |
mein Kater, an den ich absurderweise dachte. Der Grund, warum ich nicht | |
sterben wollte, war ich selbst. Ich war noch zu jung. | |
Ich glitt aus den höheren Gefilden langsam wieder hinunter. Das Licht, das | |
ich von Weitem gesehen hatte, verschwand. Ich überlebte. Die Frau, die ich | |
beraten hatte, starb. | |
Der Attentäter kam aus dem Umfeld der [1][Grauen Wölfe]. Doch weil bei der | |
Beweisaufnahme Fehler gemacht wurden, sprach das Gericht ihn frei. | |
Als ich damals beinahe gestorben wäre, habe ich selbst erlebt, dass es eine | |
Kraft, einen Gott gibt. Ich weiß jetzt, dass ein Teil meines Ichs auch | |
außerhalb meines Körpers existiert, meine Seele oder wie man das | |
bezeichnet. Das hat mich in meinem Glauben bestärkt, es trägt mich bis | |
heute. Ich bin dankbar und demütig und ich freue mich über jeden Tag. | |
Protokoll: Antje Lang-Lendorff | |
„Meine Mutter war bei mir, umarmte und tröstete mich“ | |
Sven Hansen, 63, taz-Redakteur, Berlin | |
Etwas war aus dem Lot geraten. Das spürte ich deutlich. Es war unangenehm | |
und irritierend. Aber letztlich war es nicht schlimm, schließlich nahm | |
mich meine Mutter in den Arm und tröstete mich. Alles war gut. | |
Es war ein Sonntagnachmittag im September 1967 in Hamburg, als meine | |
Kleinfamilie wenige Wochen nach meiner Einschulung die Unterelbe rauf in | |
Richtung unseres Heimathafens Finkenwerder segelte. Ein schöner Tag. | |
Doch vor Blankenese kam plötzlich eine Bö den Berg runter und warf das Boot | |
um, einen selbst gebauten Jollenkreuzer aus Stahl. Ich spielte gerade in | |
der Kajüte und knallte mit dem Kopf irgendwo gegen, vielleicht traf mich | |
auch ein Gegenstand, das weiß ich nicht. Ich war sofort bewusstlos. | |
Glücklicherweise bildete sich in der schnell voll Wasser laufenden Kajüte | |
eine Luftblase. Ich konnte atmen, sonst wäre ich ertrunken. | |
Ich war bewusstlos und bekam doch mit, dass etwas nicht stimmte. | |
Gleichzeitig war ich ganz ruhig, denn meine Mutter war bei mir, umarmte und | |
tröstete mich. | |
In Wirklichkeit tauchte plötzlich mein Vater in die Kajüte, er herrschte | |
mich panisch an: „Raus hier, schnell, bevor das Boot sinkt!“ Ein böses | |
Erwachen. Da merkte ich auch erst, dass ich ganz nass war. Entsetzt über | |
den rüden Ton meines besorgten Vaters fing ich an zu weinen. „Raus hier!“, | |
brüllte er erneut. | |
Aus Protest krallte ich mich irgendwo fest, mein Vater bekam mich nicht | |
los. Geistesgegenwärtig gab er mir eine Ohrfeige, ich ließ los. So konnte | |
er mit mir zum Ausgang tauchen. Draußen hielt sich meine Mutter schon auf | |
dem umgekippten Rumpf fest und nahm mich in den Arm. Anders als in meiner | |
Bewusstlosigkeit war die Umarmung nass und kalt. | |
Bald nahm eine Elbfähre meine Mutter und mich auf. Die Mannschaft steckte | |
uns in den Maschinenraum, an den wärmsten Ort im Schiff. Mein Vater hat | |
das Boot mit fremder Hilfe zum Ufer schleppen und dort am Laternenmast des | |
Blankeneser Fähranlegers wieder aufrichten können. Segler brachten uns | |
Gegenstände, die bei der Kenterung davon getrieben waren. Nur mein | |
Fotoapparat, das Hauptgeschenk zur Einschulung mit seinem allerersten | |
Film, den ich gerade vollgeknipst hatte, ist in der Elbe versunken. | |
Die Kenterung hat bei mir merkwürdigerweise kaum Spuren hinterlassen. Als | |
Kind vertraute ich beim Segeln weiter meinen Eltern. Ängste entwickelte ich | |
erst, als mein Vater mir als Achtjährigem ein eigenes Boot baute und ich | |
plötzlich allein verantwortlich sein sollte. Es dauerte einige Jahre, bis | |
mir auch Starkwind nichts mehr anhaben konnte. | |
Als ich nach langer Segelpause Jahrzehnte später mit meiner sechsjährigen | |
Tochter bei auffrischendem Wind erstmals auf dem [2][Berliner Wannsee] | |
segelte und sie sich in die Kajüte des Jollenkreuzers zurückziehen wollte, | |
weil ihr kalt war, kam bei mir Panik auf: „Du bleibst draußen“, sagte ich | |
mit Nachdruck. Sobald ich es mir leisten konnte, habe ich mir ein | |
sichereres Kielboot gekauft. Wenn das umkippt, richtet es sich von allein | |
wieder auf. | |
„Seitdem ist da ein Grundvertrauen“ | |
Katharina H., 54, früher Trainerin für Personalentwicklung, heute | |
Gastwirtin in Franken | |
Vor 15 Jahren musste ich am Gehirn operiert werden. Ich hatte einen | |
gutartigen [3][Tumor], der gewachsen war. Bei der Operation gab es | |
Komplikationen, ich hatte zwei Schlaganfälle, die Ärzte mussten mich in ein | |
künstliches Koma verlegen. | |
In dieser Zeit kam ich dem Tod sehr nahe. Ich war schon auf dem Weg rüber. | |
Da bin ich in Zwiesprache gekommen mit, ja, ich will nicht „lieber Gott“ | |
sagen, aber da war eine Autorität. Das kann alles Mögliche gewesen sein. | |
Wir haben darüber geredet, dass ich noch nicht sterben will, weil da ja | |
noch der Jörn ist, der sich so wahnsinnig um mich bemüht, der immer da ist, | |
der sich wirklich um mich kümmert. Er wäre verzweifelt, wenn ich jetzt | |
einfach ginge. Deshalb habe ich gesagt: Ich muss doch noch ein bisschen | |
leben. | |
Ich kann mich an nichts Bildliches erinnern, da war nur dieses Gespräch. | |
Das war total unsentimental. Es war auch nicht wie geträumt, sondern ganz | |
authentisch, authentischer und wahrer als mein jetziges Dasein. Als hätte | |
ich einen Moment lang meine Rolle als Katharina H. verlassen, als hätte ich | |
dieses Gespräch geführt und gesagt, ich muss doch noch mal zurück in diese | |
Rolle der Katharina H. | |
Ich hatte dabei keine Angst vor dem Tod. Im Gegenteil, ich habe bedauert, | |
dass ich jetzt leider noch nicht gehen kann. Wegen Jörn wollte ich zurück. | |
Dem ist dann stattgegeben worden. Das heißt: Nein, ich selbst habe | |
entschieden, nicht zu sterben. Dadurch bin ich wiedergekommen. | |
Hätte mir vorher jemand so etwas erzählt, ich hätte nicht daran geglaubt. | |
Diese Erfahrung hat meine Haltung zur Welt grundsätzlich verändert. Ich | |
lebe jetzt mit der Gewissheit, dass da noch etwas ist nach dem Tod. Ich | |
habe immer noch Angst, dass das Sterben wehtut. Aber ich bin mir sicher, | |
dass man sich vor dem Tod selbst überhaupt nicht fürchten muss. | |
Die Krankheit und diese Erfahrung haben mich als Person verändert. Früher | |
war ich sehr leistungsorientiert, Karriere war mir wichtig, ich war wie | |
besessen von der Idee, dass ich etwas aus meinem Leben machen muss. Heute | |
finde ich es wunderschön, wenn ich einfach nur die Blumen gieße, wenn ich | |
spüle oder den Garten umgrabe. | |
Ich könnte auch nicht mehr so viel leisten. Die Folgen der Krankheit | |
schränken mich ein Stück weit ein, ich habe zum Beispiel Schwierigkeiten | |
mit dem Gedächtnis. | |
Was genau mich verändert hat, ob es mehr die Krankheit war oder diese | |
Jenseitserfahrung, kann ich nicht sagen. Ich habe seitdem ein | |
Grundvertrauen, das ist einfach da. Ich bin friedlich mit der Welt. | |
Protokoll: Antje Lang-Lendorff | |
„Der Saal war hell erleuchtet und warm“ | |
Heidrun Mauder, 79, Verlagssekretärin, Mellrichstadt | |
Offenbar habe ich nicht nur einen Schutzengel, sondern gleich mehrere. Mein | |
schwaches Herz hat mich schon mehrfach fast umgebracht. Gleich zweimal bin | |
ich nur knapp dem Tod von der Schippe gesprungen. | |
Vor zehn Jahren wurde ich abends mit schrecklichen Herzschmerzen | |
ohnmächtig. Im Krankenhaus erkannte man rechtzeitig, dass es weder ein | |
Infarkt, noch ein Schlaganfall war, sondern ein Riss in der Aorta. Ich | |
wurde sofort operiert, meine Überlebenschance lag bei fünf Prozent. Während | |
mich die Ärzte retteten, hatte ich ein besonderes Erlebnis. | |
Ich fand mich in einem Wald wieder, ein lichter Tannenwald, mit großen, | |
moosbewachsenen Steinen. Überall brannten weiße Kerzen, die den Wald golden | |
schimmern ließen. Dort saß ich eine Weile, bis eine junge Frau auf mich | |
zukam. Sie war schlank, groß gewachsen und wunderschön. Ihre langen, | |
lockigen Haare wehten über ihr schwarzes Gewand. Sie lächelte mich | |
freundlich an und wollte mich ins Jenseits geleiten. Doch ich wollte nicht | |
mitgehen. Vielleicht, weil ich mich in dem paradiesischen Wald so | |
wohlfühlte. Vielleicht, weil ich wusste, dass mich das Diesseits noch | |
braucht. Also lehnte ich ihr Angebot mit einem Kopfschütteln ab. | |
Dann wachte ich im Krankenhausbett auf. Mein Mann und meine Kinder saßen um | |
mich herum. Ich hatte das Gefühl, nur kurz fort gewesen zu sein. Später | |
erfuhr ich, dass ich fünf Wochen im Koma lag. Mühsam musste ich lernen, | |
wieder alleine zu atmen, zu schlucken, zu sprechen, zu laufen. Doch ich | |
kämpfte mich zurück. | |
Ein Jahr später musste ich am Herzen operiert werden. Es gab | |
Komplikationen, das Herz blieb stehen. Ich war sechs Minuten lang tot – bis | |
ich wiederbelebt wurde. Wieder hatte ich ein Nahtoderlebnis. Diesmal wachte | |
ich in einem großen Saal auf. Er war hell erleuchtet und warm, die Decke | |
leuchtete goldfarben, ich konnte Musik hören. Ich hätte dort für immer | |
bleiben können. Doch außerhalb der Halle konnte ich meine Familie sehen. | |
Meine Tochter saß dort und wartete. Ich spürte, dass es noch nicht an der | |
Zeit für mich ist. Ich wollte zurück. Und ging. | |
Seit diesen Erfahrungen weiß ich, dass der Tod nichts Schlimmes ist. Ich | |
weiß auch, dass es danach nicht zu Ende ist. Ich bin überzeugt, dass wir | |
auf Erden geführt und im Jenseits erwartet werden. | |
Vor ein paar Wochen ist mein Mann gestorben. Vor 65 Jahren haben wir uns im | |
Schwimmbad kennengelernt. Damals sagte ich zu meiner Freundin: Den heirate | |
ich mal. Und so kam es auch. Seit ein paar Wochen muss ich ohne Rudolf | |
zurechtkommen. Doch bei aller Trauer um ihn weiß ich: Er ist da oben und | |
wartet auf mich. Bis dahin passt er auf mich auf. Mit ihm habe ich nun noch | |
einen Schutzengel mehr. | |
Protokoll: Philipp Brandstädter | |
20 Apr 2025 | |
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