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# taz.de -- Nahtoderfahrungen: Ein neuronaler Tsunami
> Was passiert in unserem Gehirn, wenn wir sterben? Und wie prägen Kultur
> und Herkunft, welche Bilder wir sehen? Was Forscher:innen über
> Nahtoderfahrungen wissen.
Bild: Nahtoderfahrung: das originale neuronale Netzwerk zündet ein Feuerwerk
Meistens drängen wir den Tod so gut es geht aus unserem Leben. Und tun so,
als hätten wir ewig Zeit. Doch wahrscheinlich haben die meisten schon mal
darüber nachgedacht, wie es wohl ist, wenn man stirbt: ein helles Licht,
das Leben zieht vorbei. Das Bewusstsein entkoppelt sich vom Körper, schwebt
davon, weg vom Irdischen, irgendwohin. Nicht jeder, der dem Tode nah ist,
erlebt solche oder ähnliche Bilder. Der Kardiologe Pim van Lommel hat
Patienten befragt, die einen Herzstillstand überlebt haben. Nur knapp jeder
Fünfte hatte eins dieser Erlebnisse in Erinnerung, die wir Nahtoderfahrung
nennen.
Eine solche Erfahrung muss man nicht selbst gemacht haben, um die Bilder zu
kennen. Sie sind verankert in unserer Kultur, in Literatur und Film. Doch
so ähnlich seien sich die Erzählungen über Nahtoderlebnisse gar nicht, sagt
Soziologin Ina Schmied-Knittel. Sie hat [1][Berichte über Nahtoderfahrungen
analysiert] und herausgefunden, dass zum einen zwar immer wieder von
paradiesischen Landschaften, allumfassender Liebe und einem Verschmelzen
mit dem Universum die Rede ist. Doch Menschen erzählen auch von Panik und
der Präsenz dämonischer Gestalten.
Die Schilderungen seien häufig beeinflusst von kultureller Prägung wie
Nationalität und Religion, sagt die Soziologin. Selbst zwischen ost- und
westdeutscher Herkunft kann es einen Unterschied geben.
„Menschen, die in der DDR sozialisiert wurden, berichten häufiger von
düsteren, bizarren Szenarios und negativen, teils angstbesetzten
Emotionen“, sagt sie. Aus den alten Bundesländern hingegen werde eher von
Motiven wie Licht und Wärme berichtet.
Ina Schmied-Knittel erklärt sich das so: Die typischen Elemente eines
Nahtoderlebnisses haben ihren Ursprung in religiösen und spirituellen
Erfahrungen. Diese Erzählungen seien in der DDR nicht groß thematisiert und
verbreitet worden. Somit fehlten die „paradiesischen Bilder“, mit denen
sich das Erlebte beschreiben ließe.
Nahtoderfahrungen sagen also auch viel über uns im Diesseits aus. Aber was
ist da noch? Kann das menschliche Gehirn auf der Schwelle zum Sterben mehr
wahrnehmen als im normalen irdischen Alltag?
Diese Schwelle selbst hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verschoben
und vergrößert. Noch in den Fünfzigerjahren galt man als tot, wenn das Herz
nicht mehr schlug. Doch auch wenn das Gehirn nicht länger mit Nährstoffen
versorgt wird, arbeitet es noch eine Zeit lang weiter. Diese Erkenntnisse
veränderten unseren Blick auf den Tod. Seitdem spricht man beim Herztod vom
klinischen Tod, der noch nicht das irdische Ende bedeuten muss.
Tot ist heute der Definition nach, wessen Hirn nicht mehr aktiv ist. Nach
einem Herz-Kreislauf-Stillstand wird das Gehirn nicht mehr durchblutet. In
diesem Zustand nimmt die Hirnaktivität erst einmal zu, und zwar rasant.
Das neuronale Netzwerk zündet ein Feuerwerk, womöglich lebhaft und intensiv
genug, um das ganze Leben noch einmal an sich vorbeiziehen zu lassen.
Das Team um die Neurobiologin Jimo Borjigin von der Universität Michigan
hat starke Hirnaktivitäten bei zwei von vier untersuchten komatösen
Menschen mit Herzstillstand gemessen. Im Augenblick ihres Sterbens und auch
darüber hinaus zeichneten die Hirnforscher mithilfe eines
Elektroenzephalogramms (EEG) [2][hohe Gamma-Werte] auf. In ihrem Bericht
brachte Jimo Borjigin diese Werte mit hoher Gedächtnisleistung, also dem
Abrufen von Erinnerungen, Träumen und tiefer Meditation in Verbindung.
Der Hirnforscherin zufolge stellt unser Gehirn seine Arbeit noch nicht ein,
wenn wir sterben. „Wenn überhaupt, ist es während des Sterbeprozesses viel
aktiver als selbst im Wachzustand.“
Scheint die Hirnaktivität erloschen, folgt ein weiteres messbares Ereignis:
2018 haben [3][Neurologen der Berliner Charité] und der Universität
Cincinnati nachgewiesen, dass im Moment des Todes ein schon länger
bekannter neuronaler Tsunami durch unsere Schaltkreise rauscht und alles
zerstört.
„Diese Entladungswelle im Gehirn entsteht dadurch, dass viele Nervenzellen
einen Kurzschluss entwickeln“, sagt Neurologe Jens Dreier von der Charité.
Dieser Kurzschluss würde sich dann von Zelle zu Zelle ausbreiten. „Von da
an werden Kaskaden in Gang gesetzt, die letztlich zur Vergiftung der Zellen
führen.“ Bis bei dieser Kettenreaktion alle 86 Milliarden Nervenzellen
abgestorben sind, dauere es laut Dreier länger als das bisher vermutet
worden sei. Womöglich lang genug für eine intensive Erfahrung.
Kehrt ein Mensch nach seinem Herzstillstand – aber noch vor der
Entladungswelle – ins Leben zurück, bringt er manchmal die Erinnerung an
ein Nahtoderlebnis mit. Oft werden sie als lebensverändernd beschrieben,
stärker als nach einer außergewöhnlichen Naturerfahrung, einem Klartraum
oder einer Meditation.
Manche Menschen berichten davon, ihren Körper verlassen zu haben, wie etwa
bei einem psychedelischen Trip mit Ayahuasca. Charlotte Martial von der
Coma Science Group in Lüttich hat versucht zu ergründen, was an diesen
Out-of-Body-Erfahrungen dran sein könnte.
Dazu dekorierte sie den Schockraum der Notaufnahme mit ungewöhnlichen
Dingen. In den Ecken des Zimmers, hoch über dem Behandlungstisch,
platzierte sie ein altes Telefon, ein Bild von einer Schildkröte, einen
großen Teddybären und einen rosa Cowboyhut. Ein Patient, der bei der
Wiederbelebung von oben auf sich hinabschauen kann, würde womöglich von
diesen Gegenständen berichten können, so die Annahme. Das Ergebnis: Keine
der wiederbelebten Personen sah Cowboyhut, Teddy oder Telefon.
Trotzdem ist die Nahtoderfahrung für viele Menschen so eindrucksvoll, dass
sie wie eine Art Auferstehung wahrgenommen wird.
„Beim Sterben wird nicht einfach ein Schalter umgelegt“, erklärt Jens
Dreier aus der Charité. Es sei ein individueller Prozess mit mehr
Unterschieden als Gemeinsamkeiten. „Interessant ist, dass bei einer
Nahtoderfahrung das Gefühl entsteht, dass die Zeit stehen bleibt und man
überall gleichzeitig ist. Das könnte man damit erklären, dass sehr viele
Nervenzellen gleichzeitig aktiviert werden.“
Die dabei erzeugten und erinnerten Bilder darf dann jede und jeder für sich
selbst interpretieren.
20 Apr 2025
## LINKS
[1] https://macau.uni-kiel.de/receive/macau_mods_00002820?lang=de
[2] https://www.pnas.org/doi/full/10.1073/pnas.2216268120
[3] https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/ana.25147
## AUTOREN
Philipp Brandstädter
## TAGS
Sterben
Tod
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