# taz.de -- Neue Designs für fragile Zeiten: Schönheit bis zum Schluss | |
> Kranke und Sterbende verdienen Besseres als entfremdende Dinge. Bitten | |
> Stetter ist eine der wenigen Designer*innen, die deren Bedürfnisse | |
> mitdenken. | |
Bild: So ist das Handy hübsch verstaut und bleibt auch im Liegen griffbereit | |
Es ist kein Kleidungsstück, das irgendwer freiwillig anziehen würde, | |
keines, das Begehrlichkeiten wecken oder man irgendwie als schön bezeichnen | |
könnte. Das Hemd, in das man im Krankenhaus gesteckt wird, ist vor allem | |
eins: funktional. Kochfest und strapazierfähig, unisex und uniform. So weit | |
geschnitten, dass menschliche Körper jeglichen Umfangs hineinpassen. | |
Zusammengehalten am Rücken lediglich von ein paar Bändern, die einerseits | |
von Pflegekräften leicht auf- und zuzubinden sind, die das Textil | |
andererseits lose und ziemlich unelegant um das Hinterteil der | |
Patient*innen flattern lässt. | |
Das Flügelhemd modisch zu betrachten, ist quasi unmöglich. Es konterkariert | |
[1][all das, was Kleidung über die reine Schutz- und Wärmefunktion hinaus | |
ausmacht]. Weder wirkt es identitätsstiftend, noch befriedigt es das, was | |
Georg Simmel in seiner Modetheorie als „das Unterschiedsbedürfnis, die | |
Tendenz auf Differenzierung, Abwechslung, Sich-Abheben“ bezeichnete. | |
Im Gegenteil: Es eliminiert jegliche Individualität. Wie entfremdend das | |
wirken kann, wie sehr man es vermissen kann, sich vestimentär auszudrücken, | |
weiß wohl jede*r, der oder die so ein Teil schon einmal ein paar Tage | |
länger getragen hat. | |
Bitten Stetters Version des Flügelhemdes ist anders. Die Zürcher Designerin | |
hat für ihr Label finally eines entworfen, das Pflegenden zwar weiterhin | |
die Arbeit erleichtert, das aber vor allem die Bedürfnisse der | |
Träger*innen mitdenkt. Ihr „Turnarounder“ legt den Po nicht frei und | |
lässt sich bequem an der Seite zusammenbinden. | |
Es gibt ihn uni und in zwei aufeinander abgestimmten Farben, in Lila und | |
Eisblau zum Beispiel. Gefertigt ist er aus anschmiegsamer Biobaumwolle, die | |
von Gebrauch zu Gebrauch noch weicher werden soll. Und er hat an den | |
Ärmeln, da wo es nicht drückt, Taschen zum Verstauen von Taschentüchern | |
oder dem Handy. Tragen lässt er sich klassisch mit der Öffnung nach hinten | |
oder andersherum wie ein Kimono. | |
Tragbar auch in anderen Lebenslagen | |
Stetter selbst führt ihren gerne mal am Strand aus – so erzählt sie es bei | |
einem Treffen während der Krebskonvention YesCon! vergangene Woche in | |
Berlin, wo sie ihr Label mit ein paar Produkten vorstellte. Stetter designt | |
Dinge für Kranke, Pflegebedürftige, Sterbende, benutzen kann man diese aber | |
auch in anderen Lebenslagen. | |
Zu ihrem Thema kam die Designerin, als ihre Mutter an Krebs erkrankte und | |
schließlich starb. „Kauf mir doch mal was Schönes“, hatte diese zu ihr | |
gesagt, als es längst dem Ende entgegenging. Aber was schenkt man einer | |
Person, die im Sterben liegt? Stetter fand nichts, begann, zu improvisieren | |
und die Dinge zu designen, die fehlten. | |
Als Professorin für Trends & Identity an der Hochschule der Künste in | |
Zürich erforscht sie mittlerweile Lebensstile am Lebensende mit | |
designethnografischen Methoden. Und mit ihrem [2][Label finally] widmet sie | |
sich dem vielleicht letzten Aspekt menschlichen Daseins, das die materielle | |
Kultur noch ausklammert. | |
[3][Unmengen an hübsch gestalteten Produkten stehen für Neugeborene zur | |
Wahl], obwohl die in der ersten Zeit noch nicht einmal alles sehen können. | |
Auch die Zeit nach dem Tod wurde inzwischen gestalterisch ausdifferenziert. | |
Urnen, Grabsteine, Trauerschmuck gibt es für jeden Geschmack. [4][Nur an | |
die Phase direkt davor traut sich niemand heran.] | |
Was in der Pflege benutzt wird, ist auf pure Effizienz ausgerichtet. Form | |
follows function, als wäre dieses Credo nicht längst überholt. Und als | |
hätte nicht schon Florence Nightingale in ihren „Notes on Nursing“ auf die | |
Bedeutung der Gestaltung von Räumlichkeiten und Dingen für Genesung, | |
Lebensqualität und Wohlbefinden verwiesen. [5][Auf patriarchale wie auch | |
utilitaristische Strukturen unserer Gesellschaft], in denen der Blick auf | |
die Ästhetik weniger relevant erscheine als jener auf die Funktion, ließe | |
sich das zurückführen, so Stetter. | |
Relevanz von Ästhetik | |
Das Bedürfnis, sich mit Schönem zu umgeben und selbst schön zu sein, | |
verschwindet aber nicht einfach, nur weil man schwach und krank ist. | |
Vielleicht wächst es sogar noch, wenn der Lebensraum aufs Bett | |
zusammenschrumpft. | |
Stetter, die mit ihrem Label vom Migros Pionierfonds Schweiz unterstützt | |
wird, hat in ihrem Sortiment neben weiteren Textilien auch Schnabeltassen | |
aus Keramik, die gut in der Hand liegen, schlicht und hübsch aussehen, | |
dennoch aber robust und natürlich spülmaschinenfest sind. Gewissermaßen | |
ruft die Designerin dabei längst vergangene Kurkultur in Erinnerung: | |
Schnabeltassen bestehen heute in der Regel aus Kunststoff, noch im frühen | |
20. Jahrhundert gab es sie passend zum guten Geschirr. | |
Andere Produkte von finally sollen zur Kommunikation über schwere Themen | |
anregen – Würfel, auf denen Begriffe notiert sind wie „Vollmachten“ oder | |
auch „Angst & Wut“ –, oder sie machen das Nichtstun erträglicher, weil es | |
angenehm ist, sie anzufassen. Formen für Eisbonbons und Eislollis, deren | |
Verzehr Schwerkranke Süßigkeiten oft vorziehen, gibt es. Teller | |
ausgerichtet auf den minimalen Appetit von Palliativpatient*innen. | |
Papphalter, mit denen man das Handy am Aufrichtegriff befestigen kann. | |
Berührungsängste beim Thema Sterben | |
Als Design für fragile Zeiten bezeichnet Stetter selbst, was sie tut, | |
versucht so die Berührungsängste zu umschiffen, die [6][das Thema Sterben] | |
oftmals auslöst: „Wir können mittlerweile darüber reden, wie wir beerdigt | |
werden wollen, was wir für Blumen haben wollen. Der Tod ist kein Tabu mehr, | |
aber das Sterben, das Fragilsein, das Kranksein“, sagt sie. Langsam jedoch | |
verändere sich das. Mit dem demografischen Wandel und der fragilen Natur, | |
die uns umgebe, habe das zu tun, glaubt Stetter, und „mit einer fragilen | |
jungen Generation, die sich sehr bewusst ist, dass wir keine Maschinen | |
sind“. | |
Wir werden immer älter und damit wächst auch die Wahrscheinlichkeit einer | |
schweren Erkrankung und Pflegebedürftigkeit. Zur YesCon! hat Stetter eine | |
neue Kollektion mitgebracht, die sie im Dialog mit einer krebskranken | |
Person entwickelt hat: Pullis, T-Shirts und Hosen, die sich an der Brust, | |
an Armen oder Beinen öffnen lassen, um Zugang zum Portkatheter, zu Venen, | |
Narben oder Wunden zu gewähren. | |
Es sind Kleidungsstücke, die praktisch für die Chemotherapie sind, mit | |
denen man sich gleichzeitig aber auch beim Rehasport gut bewegen kann. | |
„Inbetween“ heißt die Kollektion, denn sie „denkt Krankheit, Therapie und | |
Fragilität nicht als Ausnahme, sondern als Teil eines würdevollen Lebens im | |
Wandel“. | |
Nur wenige Designer*innen gehen bislang so weit wie Stetter. Der | |
dänische Möbeltischler Anker Bak hat einen minimalistischen Rollator | |
entworfen, es gibt Anbieter von Pflegebetten, die diese wie Hotelbetten | |
aussehen lassen. Geforscht wird zum Thema seit ein paar Jahren in den | |
Material Care Studies. | |
Bitten Stetter würde sich wünschen, dass man Produkte wie ihre irgendwann | |
im Drogeriemarkt kaufen kann, dass sie ebenso alltäglich werden wie | |
Schnuller und Babywindeln. | |
17 May 2025 | |
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## AUTOREN | |
Beate Scheder | |
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