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# taz.de -- Bundestagsentscheid zum Finanzpaket: Nur mal kurz Geschichte schrei…
> Das Grundgesetz wird geändert. Wie der Grüne Johannes Kretschmann den Tag
> erlebt hat – seinen letzten dieser Art als
> Kurzzeit-Bundestagsabgeordneter.
Bild: Johannes Kretschmann bei seiner Stippvisite im Bundestag
Gegen 15 Uhr am Dienstagnachmittag ist fast alles vorbei. Die Reden sind
gehalten, die Stimmkarten eingeworfen, die Auszählung läuft. Bald wird die
wirklich letzte Sitzung des 20. Bundestags geschlossen. Auch für Johannes
Kretschmann war es das dann im Plenum, nach insgesamt sechs Sitzungstagen –
zwei mehr als ursprünglich vorgesehen.
Der 46-Jährige setzt sich ins Abgeordnetenrestaurant hinter dem Plenarsaal,
er braucht jetzt einen Kaffee. Am Abend gibt er in der Landesvertretung
Baden-Württemberg noch einen Empfang für Blasmusiker, am Morgen muss er
dann früh aufstehen und für einen Termin als Kreisrat zurück nach
Sigmaringen fahren.
Enges Pensum, aber das passt schon für den Bundestagsabgeordneten. Er hatte
sich ja darauf eingestellt. „Als es im Januar für mich losging, habe ich
direkt gesagt: Das Parlament muss bis zur letzten Stunde arbeitsfähig und
mehrheitsfähig sein.“ Dass am Ende noch etwas kommen könnte, dass es
angesichts der Weltlage nach der Bundestagswahl eine Nachspielzeit gibt: Er
hatte es geahnt.
Die Sitzung an diesem Dienstag ist eine besondere. „Historisch“, wie es
allein SPD-Chef Lars Klingbeil in seiner Rede gleich dreimal sagt. [1][Die
Schuldenbremse im Grundgesetz], die seit 2009 allen Bundesregierungen
wesentliche Vorgaben machte, soll auf Bestreben von Union, SPD und Grünen
massiv gelockert werden. Mindestens skurril ist diese Sitzung aber auch: Im
neuen Bundestag, gewählt im Februar, gäbe es keine Zweidrittelmehrheit für
die Grundgesetzänderung in dieser Form. Noch ein letztes Mal kommt daher
das alte Parlament zusammen, was dazu führt, dass über diese weitreichende
Reform Dutzende Abgeordnete abstimmen, die kein neues Mandat bekommen und
ihre Abschiedsreden längst gehalten haben.
## Ein Mandat auf kurze Zeit
Und, als besonderes Kuriosum: Auch Johannes Kretschmann schreibt in seiner
kurzen Zeit als Abgeordneter an der Geschichte mit. Der Grüne, Sohn des
[2][baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann],
hatte bei der Wahl 2021 auf der Landesliste kandidiert und den Einzug ins
Parlament knapp verpasst. Vor wenigen Wochen rückte er für [3][die
verstorbene Abgeordnete Stephanie Aeffner] nach. Ein Mandat auf kurze Zeit,
das war klar: Für die Wahl 2025 war er nicht mehr angetreten.
Dass es auf Stimmen wie seine ankommt, wollte die Opposition eigentlich
verhindern. Mehrere Fraktionen und Gruppen hatten gegen die Sondersitzung
geklagt, waren aber gescheitert. In der Debatte bringen sie ihre Kritik am
Verfahren noch mal vor. „Zwischen Frühstück und Gänsebraten“ werde „das
größte Aufrüstungsprogramm durchgewunken“, sagt Christian Görke von der
Linken. Seine Partei hatte angeboten, im neuen Bundestag über eine Reform
zu verhandeln, allerdings ohne Akzent auf Militärausgaben.
„Dass der alte Bundestag noch so weitreichende Entscheidungen trifft, hat
politisch einfach ein Geschmäckle“, sagt auch Kretschmann in einem Gespräch
mit der taz am Tag vor der Debatte. Gleich startet die Fraktionssitzung der
Grünen, jetzt trinkt er noch einen Kaffee in der Espresso-Bar des
Bundestags. Friedrich Merz und die Union seien schuld an der Situation,
meint er: Sie hätten das Angebot annehmen können, noch vor der
Bundestagswahl zusammen mit Rot-Grün die Schuldenbremse zu reformieren.
„Sie haben sich geweigert und sehenden Auges Chaos gestiftet.“
Aber deswegen jetzt nicht handeln, sondern darauf vertrauen, dass im neuen
Bundestag mit der Linken eine Reform gelingt? „Das wäre alles im Fiasko
gemündet“, meint Kretschmann, der dem Realo-Flügel seiner Partei angehört.
Die Mehrheiten, so sieht er es, gibt es jetzt oder gar nicht.
Organisatorisch bereitet ihm die Sondersitzung keine großen Probleme.
Erstens ist er Freiberufler, Experte für die schwäbische Mundart.
Berufliche Termine konnte er verschieben. Zweitens hat er Respekt vor dem
Mandat. Von vornherein wollte er nicht nur ein paar Sitzungen mitnehmen,
sondern voll da sein. Selbst seine eiserne Sportregel hat er dafür
unterbrochen: jeden Monat mindestens 100 Kilometer Dauerlauf, ohne
Möglichkeit der Verrechnung mit dem Folgemonat. „Das Zeitfenster als
Abgeordneter schließt sich irgendwann wieder, und ich will es nutzen.“
Sogar eine Abgeordneten-Reise nach Moldau und in die Ukraine hat er sich
kurzfristig organisiert. Einst hat er Rumänistik studiert, den Blick nach
Osten ist er gewohnt. Jetzt sprach er mit Akteuren vor Ort über die
Bedrohung durch Russland. Was so eine Reise bringt, bei einem so kurzen
Mandat? „Der SWR und der Südkurier haben berichtet. Ich konnte wiedergeben,
wie düster die Lage ist.“
An der Stelle schließt sich auch der Kreis zur Grundgesetzänderung.
Ausnahmen von der Schuldenbremse sieht sie unter anderem vor, um Staaten zu
unterstützen, die völkerrechtswidrig angegriffen werden. Auch Deutschlands
Verteidigungsausgaben dürfen künftig maßgeblich durch Kredite finanziert
werden, die Länder dürfen mehr Schulden machen, und 500 Milliarden Euro
extra gibt es für Infrastruktur.
## Sahra Wagenknecht spricht vom „größten Schwachsinn“
Die Debatte im Bundestag verfolgt Kretschmann aus einer der hinteren Reihen
des Plenarsaals. Von dort hört er auch heftige inhaltliche Kritik an dem
Paket. Christian Dürr von der FDP spricht in seiner letzten Bundestagsrede
von einem „Startschuss für hemmungslose Schuldenmacherei“. Sahra
Wagenknecht vom gleichnamigen Bündnis, auch zum letzten Mal hier, spricht
vom „größten Schwachsinn“, von „kriegsverrückten Grünen“ und
„Kriegskrediten mit Klimasiegel“.
Auch der [4][wahrscheinliche künftige Kanzler Friedrich Merz] (CDU)
spricht, er verteidigt die Entscheidung. Man habe sich jahrzehntelang in
„trügerischer Sicherheit“ gewähnt, sagt er. Nicht nur gegen die Ukraine
herrsche Krieg, sondern auch „gegen unser Land“ – deswegen brauche es jet…
das Geld. Einen Dank an die Grünen, die sich mit ihm geeinigt haben und ihm
damit wohl die Kanzlerschaft gerettet haben, gibt es nicht.
Umgekehrt haben die Grünen jede Menge Worte für ihn übrig.
[5][Fraktionschefin Britta Haßelmann] hält, Zustimmung hin oder her, eine
astreine Oppositionsrede. Die Union, so der Vorwurf im Kern, mache jetzt
das, wofür sie die Grünen bislang immer diffamiert habe – „mit solcher
Überheblichkeit und Populismus, dass einem schlecht werden konnte“. Als sie
das sagt, nickt Johannes Kretschmann auf seinem Platz so heftig, dass sein
ganzer Oberkörper mitwackelt. Mit seinen Fraktionschefinnen und deren
Standhaftigkeit ist er zufrieden, was bei Realos aus Baden-Württemberg
sonst nicht immer der Fall ist.
„Sie haben das Finanzpaket stringent und sauber verhandelt“, sagt er am Tag
zuvor in der Espresso-Bar. Anderthalb Wochen lang liefen die Gespräche
zwischen Schwarz-Rot und den Grünen und am Ende, so sieht es Kretschmann,
stand ein vernünftiges Paket.
Dass aber der Erfolg bei Friedrich Merz einzahlen könnte, der als Kanzler
das Geld investieren darf, dass er in der Opposition den Grünen nicht
zugestehen wollte? „Das Paket kann zu einem Stimmungsumschwung im Land
führen, und deshalb muss man der Koalition einfach wünschen, dass sie damit
Erfolg hat. Ich wünsche denen wirklich von ganzem Herzen viel Glück“, sagt
Kretschmann trotz allem. Typisch grün? „So sind wir. Wir kommen in
Höchstform, wenn die Verantwortung am größten ist.“
Man hört da den Vater raus, der ihn in den Neunzigern auch als Ethik-Lehrer
am Gymnasium unterrichtete. Sie nahmen Max Webers Verantwortungsethik
durch, das habe ihn geprägt. Vielleicht kommt daher auch das Arbeitsethos
des Sohnes: In der Fraktion hat er sich freiwillig gemeldet, als ein
Kollege im Familienausschuss vertreten werden musste und als es genügend
Abgeordnete für eine Nachtsitzung im Plenum brauchte. In den
Fraktionssitzungen hat er sich auch zu Wort gemeldet, das macht nicht jeder
Neue, aber Details dazu verrät Kretschmann nicht. „Fraktionssitzungen sind
nichtöffentlich, im Bundestag wie bei uns im Kreistag.“
## Ein „Unikat“
Ein „Unikat“ sei Kretschmann, sagt der Grünen-Abgeordnete Marcel Emmerich,
der seinen Wahlkreis in Ulm hat – von Sigmaringen aus nur ein kleines Stück
die Donau runter. „Er hat sich ohne Scheu und mit kritischem Kopf in die
Debatten gemischt. Er hat sich gut integriert, was ja nicht so leicht ist
in dieser Phase und mit dieser Rolle.“
Gut integriert heißt natürlich auch: Am Ende der Debatte stimmt er den
Grundgesetzänderungen zu, wie der Großteil seiner Fraktion. Nur eine
Grünen-Abgeordnete wollte dagegen stimmen: Canan Bayram, die scheidende
Abgeordnete für Friedrichshain-Kreuzberg. Auch bei Union und SPD stimmen
genügend Abgeordnete für den Antrag. 513 Jastimmen, 207 Neinstimmen, keine
Enthaltungen, wird Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, ebenfalls letztmals in
dieser Funktion, gegen 16 Uhr verkünden. Kurz darauf schließt sie die
Sitzung.
Für Johannes Kretschmann ist die Arbeit damit nicht vorbei. Es ist nicht
nur der Blasmusik-Empfang am Abend, er muss auch bei der
Bundestagsverwaltung nachhaken, weil seine Schreibwaren mit dem Bundesadler
noch nicht geliefert wurden. Um die Visitenkarten ist es so langsam egal,
die Grußkarten braucht er aber – um den Gratulanten zu antworten, die sich
nach seinem Einzug ins Parlament gemeldet hatten.
Was muss, das muss. Und wenn er das Mandat jetzt ordentlich zu Ende führt,
könnte ihm das ja auch 2029 nutzen. Ob er es dann, bei der nächsten Wahl,
vielleicht doch noch mal versucht? „Die Rolle hier liegt mir. Ich denke,
das habe ich in den Wochen gezeigt. Ich habe es effizient gemacht“, sagt
Kretschmann.
18 Mar 2025
## LINKS
[1] /Sondervermoegen-fuer-Infrastruktur/!6072671
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[3] /Tod-von-Gruenen-Politikerin-Aeffner/!6058950
[4] /Nach-der-Bundestagswahl/!6071338
[5] /Sondierungen-von-Union-und-SPD/!6071849
## AUTOREN
Tobias Schulze
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