# taz.de -- Der Kampf um die Wände: Was kostet eine Subkultur? | |
> Die Kommerzialisierung von Graffiti auf Häuserwänden sorgt für Spannungen | |
> in der Szene. Viele lehnen die Vermarktung ab. Und brauchen doch auch | |
> Geld. | |
Bild: Auf dieser Hauswand in der Sonnenallee wird auf jeden Fall Geld verdient | |
Er gilt als Berlins professionellster Vandale, die Stadt als seine | |
Leinwand. Kaum eine Tür in Berlin bleibt Mr. Paradox Paradise verschlossen. | |
Mit selbstgebauten Spezialwerkzeugen manipuliert oder öffnet der | |
Street-Artist Wohnungstüren, flext Dachluken auf und seilt sich nachts von | |
Hausfassaden, Wolkenkratzern und Windrädern ab, um seine Kunst an | |
unerreichbar erscheinenden Orten zu hinterlassen – immer mit der Polizei im | |
Nacken. | |
Was Mr. Paradox Paradise antreibt: [1][auf soziale Missstände aufmerksam zu | |
machen]. Seit den frühen 2010er Jahren – anfangs mit den „Berlin Kidz“, | |
einer der prägendsten Graffiti-Crews Berlins – hinterlässt er Spuren in der | |
Stadt. Sein Markenzeichen: rot-blaue kryptische Schriftzüge, seine | |
„Paraglyphs“, die sich vertikal über ganze Hauswände ziehen – oft mit | |
systemkritischen Botschaften versehen. „Hartz IV essen Seele auf“ steht | |
dann da oder „Moderne Sklaverei“, zu sehen etwa am Kottbusser Tor in | |
Kreuzberg. | |
„Graffiti wird oft als Vandalismus betrachtet. Doch für viele Sprayer ist | |
es mehr als illegale Kunst – es geht darum, eine Haltung zu zeigen“, sagt | |
ein Insider der taz. „Sprayer sind Menschen, die sich mit dem etablierten | |
System auseinandersetzen. Es ist eine Lebenseinstellung – ein Werkzeug, um | |
Sichtbarkeit gegen den Mainstream zu schaffen.“ | |
Doch Graffiti und Mainstream verschmelzen immer mehr. Die einstige | |
Subkultur ist zunehmend von der „Urban Art“ vereinnahmt worden, einer | |
legalisierten und institutionalisierten Form von Graffiti, die | |
Graffitikünstler*innen ermöglicht, in einem organisierten Rahmen zu | |
malen. „Vor allem in gentrifizierten Großstädten entwickelt sich Graffiti | |
in eine kommerzialisierte und instrumentalisierbare Kultur“, sagt | |
Friederike Häuser, Kriminologin, Sozialarbeiterin und Herausgeberin der im | |
Juventa-Verlag erschienenen Sammelbände „Graffiti und Politik“. | |
Die Vermittler bei diesem Prozess sind Agenturen wie Concrete Candy aus | |
Leipzig oder XI-Design aus Berlin. XI ist Marktführer für handgemalte | |
Außenwerbung im Graffiti-Stil und vermietet zu kommerziellen Zwecken Wände | |
an Marken wie Nike und Adidas, Netflix oder Amazon – gegen eine vereinbarte | |
Summe für die Hauseigentümer*innen. | |
Die Agentur bietet deutschlandweit Flächen an, allein in Berlin über 50, | |
darunter an der Oberbaumbrücke in Friedrichshain oder am Hermannplatz in | |
Neukölln. Gegründet wurde das Unternehmen 2012 von den Graffiti-Koryphäen | |
Jörn Reiners, Kimo von Rekowski und Marco Bollenbach. Als „Dixons“ prägten | |
sie schon in den 90er Jahren die Berliner Graffiti-Szene auf der Straße. | |
„Wir sind erwachsen geworden und wollten Geld verdienen mit dem Werkzeug, | |
das wir lieben, und mit den Menschen etwas erreichen, denen wir vertrauen“, | |
erklärt Jörn Reiners den Übergang zur legalen Kunst. | |
Unter Sprüher*innen von der Straße stößt ihr Ansatz auf Widerstand: „In | |
der Szene wird so etwas kritisch betrachtet“, erklärt der Insider. „Es geht | |
nicht darum, dass Wände offiziell gemalt werden – das ist mega –, sondern | |
darum, dass es Werbung ist, an der am Ende nicht die Künstler, sondern | |
Unternehmen verdienen.“ | |
Allein die Miete für eine gut gelegene Wand von XI kann fünfstellige | |
Beträge erreichen. Der Preis für ein Werbe-Wandmotiv variiert je nach | |
Standort, Größe, Motiv und dem Künstlerhonorar. „Wir wollen korrekte | |
Budgets für unsere Leute“, versichert Reiners. Die Künstler*innen würden | |
ihren Preis nennen. | |
## Der Wunsch nach Hyperrealistischem | |
Samuel Walter von der Produktionsfirma YAP, die Fassadenmalereien für | |
Wohnungsbauunternehmen anbietet, kritisiert jedoch, dass die Bezahlung oft | |
in keinem angemessenen Verhältnis zu den Gewinnen der Agenturen stehe. | |
„Viele Künstler können es sich schlicht nicht leisten, Aufträge von großen | |
Agenturen abzulehnen“, sagt Walter. Zudem würden die Kund*innen das Motiv | |
festlegten – meist würden hyperrealistische Wandbilder gewünscht. „Den | |
Malern bleibt kaum kreative Freiheit. Ihre eigenen Styles verschwinden aus | |
dem öffentlichen Raum.“ | |
Auch Graffiti-Expertin Häuser sieht die Rolle von Agenturen wie XI | |
kritisch. Mit ihrer Vermarktung von Wandflächen würden die Agenturen „der | |
Graffitikultur ein Messer in den Rücken rammen“, sagt sie. | |
Graffiti-Künstler*innen der Straße hielten sich an szeneinterne Kodexe und | |
Regeln. Weil die Gründer von XI, die Dixons, zu den „Oldschoolern“ | |
gehörten, hätten sie ein gewisses Ansehen in der Szene. Und der Szenekodex | |
besage nun einmal: Wenn ein etablierter Sprüher gemalt hat, wird nicht | |
drüber gemalt. „Wer es trotzdem tut, bekommt entweder direkt aufs Maul oder | |
muss dem anderen eine bestimmte Anzahl Dosen als Entschädigung geben.“ | |
## Graffiti als Firmenkommunikation | |
Letztlich geht es um eine Machtfrage. Wer entscheidet darüber, was wo ist? | |
Wer profitiert davon? Längst haben auch Immobilienkonzerne wie Vonovia, die | |
Adler Real Estate oder Deutsche Wohnen Graffiti in ihre Firmenkommunikation | |
integriert. Unter dem Slogan „Kunst für den Kiez“ organisiert die Deutsche | |
Wohnen bundesweit seit Jahren medienwirksame Street-Art- und | |
Graffiti-Projekte. Laut eigenen Angaben möchte sich der Konzern so für eine | |
„lebendige und abwechslungsreiche Kiezkultur“ einsetzen. Das bringe Farbe | |
in die Kieze „und lässt sie zu einzigartigen Orten werden“. | |
Gegen ein solches „Artwashing“, [2][also die Imageaufwertung von | |
Immobilienkonzernen], die sich als selbstlose Förderer von Urban Art | |
inszenieren, setzt sich auch die Graffiti-Szene inzwischen zur Wehr. So | |
etwa beim Berlin Mural Fest, das von 2018 bis 2021 von XI-Design kuratiert | |
wurde. Dabei wurden Urban-Art-Künstler*innen berlinweit Häuserfassaden zur | |
Verfügung gestellt – hauptsächlich aus dem Bestand der Deutsche Wohnen, die | |
das Festival sowohl finanziell als auch mit Wandflächen unterstützte. Im | |
Rahmen des Festivals hatte XI-Design Sprüher*innen mit der Anfertigung | |
eines Memorial-Murals für Attila Murat Aydın, alias Maxim, an einer | |
Hauswand in der Kreuzberger Naunynstraße beauftragt. Die Ikone der Berliner | |
Graffiti-Szene und Gründer der Kreuzberger 36 Boys war Anfang der 2000er | |
Jahre ermordet worden. | |
Kurz nach der Fertigstellung des Murals kritisierten beteiligte | |
Maler*innen, dass sie nicht darüber informiert worden waren, dass die | |
Aktion von Deutsche Wohnen als „PR-Veranstaltung“ finanziert wurde. Sie | |
kritisierten außerdem, dass Maxims Freundes- und Familienkreis nicht in die | |
Planung einbezogen und nicht zu einer Gedenkveranstaltung vor der Wand | |
eingeladen wurden. In Reaktion darauf schwärzten sie das Memorial – eine | |
gängige Praxis in der Szene. Die schwarze Wand steht symbolisch für den | |
Widerstand gegen den Ausverkauf und die Gentrifizierung der Stadt. | |
Zeitgleich machte die [3][Kampagne „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“] auf | |
die Auswirkungen der Unternehmensstrategie des Immobilienkonzerns | |
aufmerksam, die viele Mieter*innen durch explodierende Mieten und | |
drohende Zwangsräumungen in Not brachte. In einem offenen Brief warfen | |
Künstler*innen und Aktivist*innen der Deutsche Wohnen vor, „den | |
Anschein zu erwecken, dass Sie sich um die Stadt, die Menschen und | |
bezahlbaren Wohnraum kümmern, während sie seit Jahren genau das Gegenteil | |
tun“. | |
Die Kritik richtete sich auch an XI-Design: „Genauso wie die | |
Kollaborateure, die ihnen helfen und dabei schlussendlich gegen die Kultur | |
arbeiten, zu der sie sich vermeintlich zugehörig fühlen“, heißt es in dem | |
Brief weiter. | |
„Wir können die Kritik verstehen“, sagt Jörn Reiners von XI-Design der ta… | |
Sie hätten aber „mit Politik nichts am Hut“. Der Fokus der Agentur liege | |
darauf, Wände zu bemalen und den Künstler*innen faire Budgets zu bieten. | |
Die Verbindungen zur Graffiti-Szene seien nach wie vor stark, für ihre | |
Non-Profit-Aktionen nähmen sie Kontakt zu allen Mitgliedern ihrer Community | |
auf und fragen, wer sich beteiligen möchte, so Reiners. | |
## Temporäre Streetart-Galerie | |
Tatsächlich engagiert sich XI-Design schon länger auch in unkommerziellen | |
Wandmalereien sowie in Soli- und Non-Profit-Projekten. Mit „The Haus“ | |
[4][starteten sie 2017 ein temporäres Kunstprojekt] in einer ehemaligen | |
Bank in Charlottenburg, bevor das Gebäude in Luxus-Apartments umgewandelt | |
wurde. Über Monate hinweg ermöglichte die Agentur damals mehr als 100 | |
Künstler*innen, das leerstehende Gebäude mit fünf Etagen und 12.000 | |
Quadratmetern Fläche zu gestalten. Der Ort firmierte für acht Wochen als | |
„die größte temporäre Street-Art-Galerie der Welt“. | |
Zum „Portfolio“ der Agentur gehört derzeit auch die „Fleischfassade“ a… | |
Bernauer Straße in Berlin-Mitte, die an die Teilung Berlins erinnert. | |
XI-Design hat außerdem auf eigene Kosten eines der ersten Wandbilder | |
Berlins von Ben Wagin aus dem Jahr 1975 am S-Bahnhof Tiergarten in Mitte | |
saniert. | |
Bei Graffiti ist eine einfache Einteilung der Akteure in die Kategorien | |
legal oder illegal, kommerziell oder antikapitalistisch nicht so einfach | |
möglich. Es existieren zahlreiche Grauzonen: Es gibt Auftraggeber*innen, | |
die Inhalt und Form vorgeben, andere, die Künstler*innen freien Lauf | |
lassen. Ebenso gibt es Künstler*innen, die stark moralisch orientiert sind, | |
und solche, die es sich leisten können, Aufträge abzulehnen – oder eben | |
nicht. | |
Letztlich können sich selbst Systemkritiker*innen nicht vollständig | |
dem kapitalistischen System entziehen. So kooperierten auch schon die | |
Berlin Kidz mit dem Urban Nation Museum an einem Wandprojekt in der | |
Bülowstraße in Schöneberg. Und auch Mr. Paradox Paradise hat sich zunehmend | |
dem legalen Markt zugewandt und verkauft seine Skulpturen, die inzwischen | |
sein Markenkennzeichen sind, in Galerien, auch wenn er sie weiterhin an | |
Hausfassaden im urbanen Raum inszeniert. Dieser bleibe seine bevorzugte | |
Leinwand, so der Künstler. | |
„Kommerz und Kunst müssen sich nicht zwangsläufig ausschließen“, meint | |
Graffiti-Expertin Häuser. Auftragsarbeiten und „echtes“ Graffiti könnten | |
nebeneinander bestehen, doch es bleibe ein Kampf um Flächen und | |
Sichtbarkeit. Daher müsse immer wieder neu ausgehandelt werden: Wem gehört | |
die Stadt, und wer gestaltet sie? | |
Sie habe jedoch Vertrauen in die Szene, sagt Häuser. „Da ist genug | |
Widerstandskraft.“ | |
5 Mar 2025 | |
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