# taz.de -- Nach dem Tabubruch im Bundestag: Schwingungen am linken Rand | |
> Wie macht die Union nach Merz‵ Entgleisung weiter? Reicht die CDU im | |
> Osten der AfD die Hand? Und gibt es jetzt ein Momentum für die Linke? | |
Bild: Plötzlich hip: Linke Spitzenkandidat:innen Jan van Aken und Heidi Reichi… | |
Union: Bleibt die Tür zur AfD jetzt wirklich zu? | |
Am Montagnachmittag brandet in einer Berliner Messehalle donnernder Applaus | |
auf. Friedrich Merz hat auf der Bühne gerade eine Koalition mit der AfD | |
ausgeschlossen: „Es gibt keine Zusammenarbeit, es gibt keine Duldung, es | |
gibt keine Minderheitsregierung, gar nichts.“ Die Delegierten des | |
CDU-Bundesparteitags klatschen begeistert – das wollten sie von ihrem | |
Kanzlerkandidaten hören. Vor zwei Wochen noch wäre dieser Satz weniger | |
bedeutend gewesen. | |
Merz meint, was er sagt, davon kann man ausgehen. Er ist Demokrat, | |
Transatlantiker und Europäer. Er verachtet die extrem rechte AfD und will | |
sie bekämpfen. Nur: Überzeugend war einst auch seine Ankündigung, im | |
Bundestag keine Zufallsmehrheit mit der AfD einzugehen. Dann kam | |
Aschaffenburg, und Merz’ Worte vom November galten nicht mehr. | |
Aschaffenburg habe einen Notfall erzeugt, die Sachlage verändert, so die | |
Rechtfertigung der CDU. | |
Was aber, wenn der nächste vermeintliche Notfall auftritt? Merz’ | |
Glaubwürdigkeit ist erschüttert. Die Drohung, mit der AfD zu stimmen, | |
sollte Druck auf die anderen demokratischen Parteien ausüben. Er wollte | |
seinen Willen durchsetzen. Doch Merz hat damit eine Tür zu den extrem | |
Rechten aufgemacht – und ganz bekommt er die nicht mehr zu. Jüngsten | |
Umfragen zufolge scheint dieser Kurs der Union jedoch weder besonders zu | |
nutzen noch zu schaden. | |
SPD: Kann man Friedrich Merz noch glauben? | |
Die SPD ist wegen Merz’ Tabubruch leise verunsichert und laut empört. Wie | |
empört, das war zu hören, als SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich die Union im | |
Bundestag aufrief, „das Tor zur Hölle wieder zu schließen“. Die Antwort w… | |
Gelächter bei der Union. SPD-Kanzler Olaf Scholz verkörpert derweil wie | |
kein Zweiter die Devise „Pragmatismus statt Panik“. Bloß nicht übertreibe… | |
außer beim Pensum des Aktenstudiums. Doch auch Scholz donnerte im | |
Bundestag, dass „uns eine schwarz-blaue Regierung droht“, eine | |
Vizekanzlerin Alice Weidel. In einem Podcast legte er nach: Die Union werde | |
nach einem Wahlsieg pro forma mit SPD und Grünen verhandeln und im Oktober | |
mit der AfD regieren. Ein kühne Prognose, ungewöhnlich für den sonst so | |
vorsichtigen Kanzler. | |
Den Merz-Move Richtung AfD hat die SPD nicht kommen sehen. Nicht nur Jusos | |
sagen nun: Wir können nicht mit Merz regieren. Eine Groko können sich viele | |
GenossInnen aus demokratischer Verantwortung vorstellen – aber nicht mit | |
dem unzuverlässigen Merz. Warum sollte die SPD ihm noch glauben, dass der | |
demnächst nicht die Wirtschaftskrise zum Notfall erklärt, um dann mit | |
AfD-Stimmen Steuersenkungen durchzubringen? Die Empörung der SPD ist echt, | |
die Ratlosigkeit auch. | |
Scholz und seine Partei betonen, dass sie beim Asylrecht extrem viel | |
verschärft haben, die Grenzen kontrollieren und auf Geas setzen, das | |
EU-Abschreckungsprogramm gegen „illegale“ Migration. Aber all das klingt | |
immer komplizierter als die Jetzt-reicht-es-Sätze eines Friedrich Merz. Und | |
es klingt wie nachholende Anpassung. Mit ihrem harten Migrationskurs hat | |
die Union ein Mittel in der Hand, das der SPD wehtut – und zwar mehr als | |
den Grünen. Denn die SPD-Anhängerschaft hat Sympathien für | |
Tabula-rasa-Rhetorik. Im Willy-Brandt-Haus hatte man gehofft, dass Merz’ | |
Tabubruch und [1][die von Hunderttausenden unterstützten Proteste] auf den | |
Straßen den Sozialdemokraten zugutekommen. Doch die Umfragen sehen nicht | |
danach aus. Daher rührt, weniger sichtbar, die Unsicherheit der SPD. | |
Grüne: Koalieren mit einem Wortbrecher? | |
Drei Tage nach dem Knall im Bundestag hat sich der Pulverdampf verzogen. Im | |
Erdgeschoss der Grünen-Zentrale warten nur ein paar JournalistInnen auf | |
Parteichefin Franziska Brantner. Es ist die Pressekonferenz nach der | |
Vorstandssitzung, wie jeden Montag. Zuletzt war immer viel los, wegen | |
Habecks Kapitalerträgen oder der Causa Gelbhaar. Diesmal sind viele Stühle | |
leer. Was folgt aus den Großdemos vom Wochenende, so die Frage. Brantner | |
glaubt, dass die Leute demokratische Mehrheiten wollen. Und „in vielen | |
Städten“ habe es auch die Einladung an die CDU gegeben: „Kommt zurück in | |
die Mitte.“ Die Tür für Merz bleibt also offen. Die Grünen haben zwar flink | |
neue Plakate entworfen, Friedrich Merz werfen sie darauf „Wortbruch“ vor. | |
Aber: Eine Koalition mit dem Wortbrecher bleibt eine Option. | |
Was sich allerdings verändert hat: Niemand schwärmt mehr von Schwarz-Grün | |
als Projekt. Viele Realos hatten sich schon 2021 eine Kiwi-Koalition | |
gewünscht, mit vertrauenswürdigen Partnern, durch die sich neue | |
gesellschaftliche Mehrheiten erzeugen lassen. Davon reden nach Merz’ | |
Wortbruch auch überzeugte Realos nicht mehr. Es geht jetzt um etwas | |
anderes, die demokratischen Parteien müssen in den nächsten Jahren noch in | |
der Lage sein, Mehrheiten zu bilden. Schwarz-Grün wäre also eher „betreutes | |
Regieren“ mit einer Union, die man in der Mitte festnageln will. | |
Die linken Grünen, die immer skeptisch auf Schwarz-Grün blickten, sind für | |
diese Vorstellung durchaus empfänglich. Die Demokratie retten und das | |
Wegrutschen der Union Richtung AfD verhindern – das passt in ihren | |
Wertekanon. | |
Und das, obwohl Ausschlüsse gerade in Mode sind. Die FDP schließt eine | |
Koalition mit den Grünen aus, Merz eine Minderheitsregierung mit der FDP. | |
Die Grünen schließen, schwindelig vom jüngsten Blick in den Abgrund, nichts | |
aus. Ob aber nach dem 23. Februar etwas mit der Union geht, menschlich, | |
programmatisch? Puh. | |
CDU Ost: Fällt die Brandmauer hier endgültig? | |
Am Freitag vor zwei Wochen lud Sven Eppinger ein Video bei TikTok hoch. | |
Darin sieht man, wie sich der sächsische CDU-Landtagsabgeordnete über die | |
gemeinsame Abstimmung mit der AfD im Bundestag freut. Eppinger ist für | |
seine Offenheit Richtung AfD bekannt. Neben Eppinger sitzt sein | |
Parteifreund Geert Mackenroth, früherer Justizminister in Sachsen. Die | |
beiden fühlen sich vom Verhalten der Unionsfraktion im Bundestag sichtlich | |
bestätigt. Und das gilt wohl nicht nur für sie. | |
Wenn Parteichef Merz eine Mehrheitsbildung mit der AfD im Bundestag für | |
okay erklärt, warum sollte man es dann in Bautzen, Cottbus oder Stendal | |
anders machen? Und wie viel ist dann der Passus im Koalitionsvertrag der | |
schwarz-roten Minderheitsregierung in Sachsen noch wert, in dem es heißt: | |
„Eine Zusammenarbeit oder eine Suche nach Mehrheiten mit der AfD wird es | |
nicht geben“? Für Merz fällt die gemeinsame Mehrheitsbildung im Bundestag | |
weder in die eine noch die andere Kategorie. | |
Die Kräfte in der Ost-CDU, die die Abgrenzung schleifen wollen, dürften | |
sich jedenfalls gestärkt fühlen. Sven Eppinger träumt in seinem Video schon | |
von einer Minderheitsregierung, in der die CDU nicht mehr an SPD oder Grüne | |
gebunden ist. Ob er damit wechselnde Mehrheiten meint oder gleich eine | |
Tolerierung durch die AfD, sagt er nicht. | |
Linkspartei: Plötzlich wieder voll im Trend? | |
Die Linkspartei wirkte bis vor ein paar Wochen noch wie ein blasses Relikt. | |
Die Partei taumelte – lange heillos zerstritten in TraditionalistInnen und | |
Bewegungsfraktion – in die Bedeutungslosigkeit. Sie wirkte wie übrig | |
geblieben, funktionslos. Die neuen Ostprotestparteien sind AfD und Bündnis | |
Sahra Wagenknecht. „Alle wollen regieren. Wir wollen verändern“, steht nun | |
trotzköpfig auf den Wahlplakaten der Linken. Eine Partei, die in den | |
Umfragen bei 3 Prozent rangiert und nicht regieren will, beantwortet eine | |
Frage, die niemand gestellt hat. An das Rot-Rot-Grün-Projekt erinnern sich | |
kaum noch Ältere. | |
Und jetzt plötzlich hip? Bei den Namen Jan van Aken und Heidi Reichinnek | |
nickten bislang nur Politikinsider. Jetzt strömen hunderte JungwählerInnen | |
zu stinknormalen Wahlkampfevents. Parteichef van Aken erzählte am Dienstag | |
in Stuttgart, dass bei seinem letzten Auftritt dort nur 8 Leute kamen – | |
[2][diesmal waren es rund 800]. Reichinneks „Auf die Barrikaden“-Video aus | |
dem Bundestag wurde 29-Millionen-mal angeklickt. 11.000 neue GenossInnen | |
sind in den letzten vier Wochen in die Partei eingetreten. | |
Die Linkspartei erfüllt eine um sich greifende Sehnsucht nach | |
entschlossenem Protest in finsteren Zeiten, gerade bei Jüngeren. In manchen | |
Umfragen ist die Linkspartei [3][bei den 18- bis 29-Jährigen genauso | |
beliebt wie die Grünen]. SPD und Grüne können diese Protest-Stimmung nur | |
bedingt bedienen – sie sind ja Merz’ Koalitionspartner in spe. | |
So bringt das politische Beben in der Mitte den linken Rand in Schwingung. | |
Das Momentum ist bei der Linkspartei. Oder ist das doch nur eine | |
Momentaufnahme? Vielleicht hilft Merz’ Kumpanei mit der AfD der Linkspartei | |
über die Fünfprozenthürde. Das Karl-Liebknecht-Haus müsste dem Unionschef | |
eine Dankeskarte schicken. | |
7 Feb 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Karte-der-Demos-gegen-Rechts/!6067645 | |
[2] https://www.staatsanzeiger.de/nachrichten/politik-und-verwaltung/bundestags… | |
[3] https://www.presseportal.de/pm/154530/5963936 | |
## AUTOREN | |
Sabine am Orde | |
Tobias Schulze | |
Stefan Reinecke | |
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brüchig. |