# taz.de -- Archäologe über neuen Forschungsansatz: „Archäologie sah Elite… | |
> Ein Kieler Projekt befragt frühe Großsiedlungen nach individuellen | |
> Möglichkeiten im Gemeinwesen. Die Erkenntnis: Zusammenhalt ging ohne | |
> Hierarchien. | |
Bild: Profitierte von Möglichkeitsräumen: Cucuteni-Trypillia-Siedlung, hier c… | |
taz: Herr Arponen, Ihre Forschungsgruppe hat mit dem „Capability Approach“ | |
neue Erkenntnisse zu frühgeschichtlichen Gesellschaften erlangt. Was für | |
ein Ansatz ist das? | |
Vesa Arponen: Ursprünglich hat der Philosoph und Ökonom Amartya Sen den | |
Ansatz Ende der 1970er-Jahre entwickelt. Die Idee ist, dass es bei | |
menschlicher Entwicklung nicht nur um wirtschaftliches Wachstum geht, | |
sondern auch um „Capabilities“ – also darum, welche Möglichkeiten, | |
Fähigkeiten und Perspektiven Menschen haben. Unsere Forschungsgruppe hat | |
diesen Ansatz in die Archäologie eingeführt. | |
taz: Wie sinnvoll ist es, ein modernes Konzept wie „Entwicklung“ auf | |
archäologische Funde anzuwenden? | |
Arponen: Ich sehe es so, dass es gar nicht zu vermeiden ist, und es kann | |
uns neue Perspektiven eröffnen. Aber die Frage, ob wir die Vergangenheit | |
nur durch unsere heutige Brille sehen, bleibt in der archäologischen | |
Theorie wichtig. Deshalb vergleichen und reflektieren wir unsere | |
Interpretationen der Geschichte. Das ist dann meine Aufgabe als Philosoph, | |
ich bin ja von Haus aus kein Archäologe. | |
taz: Welche Blickwinkel eröffnet der Capability-Ansatz? | |
Arponen: Amartya Sens Arbeit hat wesentlich dazu beigetragen, dass wir bei | |
Entwicklung heute nicht nur den materiellen Wohlstand, sondern auch die | |
Gestaltungs- und Teilhabemöglichkeiten sehen. Er bietet uns ein | |
alternatives Bild davon an, was [1][Gesellschaft zusammenhält]. Das sind | |
sicher auch gemeinsame Werte und Vorstellungen, aber anhand des | |
Capability-Ansatzes kann man weiter fragen: Welche Möglichkeiten öffnet | |
eine Gesellschaft den Menschen, wozu befähigt sie sie? Dieser Ansatz | |
versteht Gesellschaft so, dass Menschen sich gegenseitig diese | |
Möglichkeitsräume öffnen, und macht das zum Maßstab menschlichen | |
Wohlbefindens. | |
taz: Wie haben Sie diesen Ansatz auf Ihre archäologische Forschung | |
angewendet? | |
Arponen: Wir forschen zu den Cucuteni-Trypillia-Gesellschaften, die von | |
5.050 bis 2.950 vor unserer Zeitrechnung im heutigen Osteuropa nördlich des | |
Schwarzen Meers lebten. Diese Siedlungen waren für ihre Zeit wirklich | |
riesig. Es waren die ersten urban aussehenden Ansiedlungen von Menschen, | |
von denen wir wissen. | |
taz: Wie liest man aus so alten Siedlungsresten etwas heraus, auf das sich | |
ein philosophisches Konzept anwenden lässt? | |
Arponen: Archäologie basiert auf materieller Kultur: auf Töpfen, Waffen, | |
architektonischen Resten. Das sind alles statische Funde, und man schaut | |
besonders auf ihre Verteilung. Lange war es in der Archäologie üblich, sich | |
auf die Eliten zu konzentrieren, weil sie außergewöhnliche Objekte wie | |
Goldschmuck hinterlassen haben und archäologisch am sichtbarsten waren. | |
Dadurch entsteht fast automatisch eine Verbindung mit kapitalistischen | |
Vorstellungen von materiellem Wohlstand und von Eliten als treibende Kraft. | |
Der Capability-Ansatz schaut hinter diese materielle Hinterlassenschaft und | |
fragt: Was könnte diese Art der Verteilung materieller Güter für | |
Handlungsspielräume und Perspektiven bedeutet haben? | |
taz: Was sagt die Verteilung der Güter über die | |
Cucuteni-Trypillia-Gesellschaften? | |
Arponen: In der Archäologie ist traditionell die Vorstellung verbreitet, | |
dass größere Menschenmengen sich nur mit hierarchischer Kontrolle | |
organisieren ließen. Unsere Cucuteni-Trypillia-Gesellschaften sind das | |
Gegenbeispiel: Sie sind zu ihrer Zeit die wohl größten Siedlungen, aber | |
ihre egalitären Strukturen haben sehr wohl große Menschenmengen als | |
Gesellschaft zusammengehalten. Die Vorstellung, [2][Hierarchie] sei immer | |
notwendig, ist also anscheinend nicht richtig. | |
taz: Was haben Sie über die Möglichkeitsräume dieser Menschen | |
herausgefunden? | |
Arponen: Traditionell hat man gedacht, gesellschaftliche Entwicklung folge | |
aus technologischer Entwicklung. Zum Beispiel: Durch günstigere klimatische | |
Bedingungen und technische Innovation wird die Ernährungslage besser, die | |
Bevölkerung wächst, und wegen der größeren Gesellschaft braucht es neue | |
politische, oft zentralisierte, hierarchische Organisationsformen. Unsere | |
Forschung zeigt ein komplexeres Bild: Die Siedlungen wachsen mit den | |
Innovationen, die Teilhabemöglichkeiten verbessern sich, aber es entstehen | |
keine Hierarchien. Das ist [3][so spannend am Capability-Ansatz]: dass er | |
diese Interpretation ermöglicht. | |
taz: Lässt sich daraus etwas für heute lernen? | |
Arponen: Auch bei gegenwärtigen technologischen Entwicklungen wie [4][KI] | |
oder „grünen“ Technologien ist die Frage: Treibt die Technologie | |
menschliche Entwicklung weiter? Oder müssen wir gesellschaftlich erst | |
Möglichkeitsräume schaffen, in denen technische Innovation entstehen | |
können? Das hat politische Implikationen, und da kann eine philosophisch | |
reflektierte [5][Archäologie] einen Beitrag leisten. | |
16 Mar 2025 | |
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## AUTOREN | |
Selma Hornbacher-Schönleber | |
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