# taz.de -- Prekäre Arbeitsbedingungen an Unis: Ein Institut probt den Aufstand | |
> An der Universität Göttingen legen wissenschaftliche | |
> Mitarbeiter:innen einen Teil ihrer Arbeit nieder – aus Protest gegen | |
> die Befristungspraxis. | |
Bild: Die „Initiative Göttingen Unbefristet“ protestiert seit Jahren gegen… | |
Berlin taz | Die Georg-August-Universität Göttingen hat schon ruhigere Tage | |
erlebt. Im vergangenen Frühling musste die größte niedersächsische | |
Hochschule ihre Hoffnungen begraben, den 2012 verlorenen Titel | |
„Exzellenz-Universität“ zurückzugewinnen, der neben Prestige großzügige | |
Fördermittel gebracht hätte. Auch deshalb eskalierte im Sommer und Herbst | |
2024 dann [1][ein Streit zwischen Senat, Stiftung und Präsidium], der in | |
der Abwahl des Präsidenten endete. Der Interimsnachfolger, der die Wogen | |
glätten soll, kommt erst im März. Und nun wagen auch noch die Angestellten | |
den Aufstand. | |
Ab Freitag dieser Woche lassen die wissenschaftlichen | |
Mitarbeiter:innen am Institut für Soziologie einen Teil ihrer Arbeit | |
ruhen: Sie betreuen dann auf unbestimmte Zeit keine neuen Abschlussarbeiten | |
von Studierenden mehr. Mit diesem Streik wollen sie auf ihre prekären | |
Arbeitsbedingungen aufmerksam machen. Von den 25 wissenschaftlichen | |
Mitarbeiter:innen am Institut haben nach eigenen Angaben nur zwei | |
einen unbefristeten Vertrag, damit liegt die Quote weit unter dem ohnehin | |
schon niedrigen Entfristungsschnitt der Uni von gerade einmal 15 Prozent. | |
„Diese Befristungspraxis widerspricht dem selbst gesteckten Ziel, eine | |
familienfreundliche Uni zu sein“, sagt Thorsten Bartels, einer der | |
Mitarbeiter:innen am betroffenen Institut, zur taz. Seitdem Bartels | |
als Wissenschaftler arbeitet, hatte er „auf jeden Fall schon über zehn | |
Verträge“. Sein aktueller Kontrakt endet nach diesem Semester. Ob er danach | |
weiter als Soziologe in Göttingen bleiben kann, ist wie bei einigen seiner | |
Kolleg:innen unklar. Wegen ihrer unsicheren Arbeitsplätze möchten | |
Bartels und die anderen Streikenden nicht ihre richtigen Namen in der | |
Zeitung lesen. | |
Die [2][hohe Befristungsquote] ist deutschlandweit ein Kritikpunkt am | |
Arbeitgeber Hochschule. Seit 2007 erlaubt das | |
Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG), Forscher:innen insgesamt | |
zwölf Jahre befristet anzustellen. Begründet wird das damit, dass sie sich | |
mit ihrer Arbeit für spätere – dann unbefristete – Jobs | |
weiterqualifizierten. In der Praxis gibt es einen enormen Wettbewerb von | |
prekär angestellten Nachwuchswissenschaftler:innen, die um die wenigen | |
unbefristeten Stellen konkurrieren. Auch nach erfolgreicher Promotion | |
bleiben nach jüngsten Zahlen neun von zehn Forscher:innen befristet | |
angestellt. | |
## Welche Qualifizierung? | |
Kritiker:innen halten vor allem das Qualifizierungsargument für | |
vorgeschoben. Schließlich übernehmen wissenschaftliche | |
Mitarbeiter:innen häufig Daueraufgaben – auch am Institut für | |
Soziologie in Göttingen. Einige Stellen seien etwa für erhöhte Lehre oder | |
Studienkoordination zuständig und böten daher keine | |
Qualifizierungsmöglichkeiten, kritisieren die Mitarbeiter:innen [3][in | |
einer Erklärung]. Sie fordern, alle entsprechenden Stellen zu entfristen. | |
Zudem soll die Uni eine generelle „Entfristungsstrategie“ für Stellen neben | |
der Professur entwickeln, wie sie in anderen Hochschulen längst üblich ist. | |
In Niedersachsen etwa gibt es an den Unis in Hannover und Hildesheim | |
bereits seit Jahren Dauerstellenkonzepte. Auch die | |
Hochschulrektorenkonferenz (HRK) ist im Prinzip für mehr entfristete | |
Stellen speziell für Forschung oder eigens für die Lehre – wenn Bund und | |
Länder dafür die Grundfinanzierung erhöhen. Die Aussichten dafür sind bei | |
der aktuellen Haushaltslage jedoch gering. | |
Eigentlich wollte die Ampel-Regierung die Arbeitsbedingungen an Hochschulen | |
verbessern und unter anderem Mindestvertragslaufzeiten für Promovierende | |
und promovierte Wissenschaftler:innen (den sogenannten Postdocs) | |
einführen. Die entsprechende Reform des WissZeitVG schaffte es zwar noch | |
für die erste Lesung in den Bundestag – mit dem Ampel-Aus war [4][das | |
Gesetz aber vom Tisch]. | |
Dass die neue Bundesregierung einen neuen Anlauf startet, darf bezweifelt | |
werden. Die in Umfragen führende Union verspricht zwar, den akademischen | |
Mittelbau stärken zu wollen. Im Wahlprogramm ist das Ganze jedoch unter dem | |
Punkt „Mit Exzellenz in die Zukunft gehen“ gefasst – das klingt nicht nach | |
Verbesserungen in der Breite. Der bildungspolitische Sprecher von CDU/CSU | |
im Bundestag, Thomas Jarzombek, hat kürzlich in einer Veranstaltung zur | |
Hochschulpolitik im Wahlkampf die Prioritäten der Union genannt: mehr | |
Gründermut an Unis, weniger Bürokratie, mehr Härte bei Antisemitismus – | |
prekäre Arbeitsbedingungen war nicht dabei. | |
## Willkürliche Quoten | |
In die neue Bundesregierung setzen die Forscher:innen in Göttingen keine | |
großen Hoffnungen. Sie glauben, dass ihre Universität auch ohne neues | |
Gesetz vieles anders machen könnte. Zum Beispiel jene Stellen zu | |
entfristen, die über den Zukunftsvertrag „Studium und Lehre stärken“ (ZVL) | |
finanziert werden. | |
Tatsächlich ist es ein ausdrückliches Ziel des mittlerweile verstetigten | |
Bund-Länder-Programms, damit den „Ausbau unbefristeter | |
Beschäftigungsverhältnisse des mit Studium und Lehre befassten Personals an | |
den Hochschulen“ zu ermöglichen – trotzdem entfristet die Uni Göttingen | |
nach einer internen Regelung gerade mal 40 Prozent dieser Stellen. Das | |
Präsidium begründet dies auf taz-Nachfrage damit, dass es „ein ausgewogenes | |
Verhältnis zwischen unbefristeten Stellen mit Daueraufgaben und befristeten | |
Stellen zur wissenschaftlichen Qualifizierung“ brauche. | |
Für die wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen ist dies wenig | |
stichhaltig. „Das ist eine total willkürliche Quote“, sagt Bartels. Sie | |
belege, dass die Universität ihre Spielräume schlicht nicht voll im Sinne | |
der Angestellten nutzen wolle. Diesen Eindruck hätten die Angestellten | |
bereits vor knapp zwei Jahren gewonnen. Damals überreichte die „Initiative | |
Göttingen Unbefristet“, die den Streik der Soziolog:innen unterstützt, | |
dem Präsidium eine Petition mit mehr als 1.000 Unterschriften. Auf ihre | |
Forderung ist die Hochschulleitung laut der Initiative bis heute nicht | |
eingegangen. | |
Auch die GEW Niedersachsen bezeichnet die Befristungspraxis in Göttingen | |
als „Missstand“, den Streik hält die Gewerkschaft für eine | |
„nachvollziehbare Reaktion“. Sogar die Soziologie-Studierenden in | |
Göttingen, die von dem Streik betroffen sind, haben sich mit den | |
Forscher:innen solidarisiert. Mitte Januar forderten Vertreter:innen | |
der Fachrichtungen Soziologie und Sozialwissenschaften in einer | |
studentischen Vollversammlung das Präsidium auf, endlich für bessere | |
Arbeitsbedingungen zu sorgen. | |
## Permanente Überlastung | |
Aus Sicht der streikenden Angestellten gehören dazu nicht nur entfristete | |
Verträge. „Wir alle versuchen, neben unserer eigenen Forschung auch gute | |
Seminare zu geben und die Studierenden gut zu betreuen“, so Bartels. | |
Allerdings sei das mit den üblichen Teilzeitstellen kaum zu schaffen. „Wir | |
arbeiten alle deutlich mehr, als in unseren Verträgen steht“. Mit dem | |
Streik wollten die wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen auch ein | |
Zeichen gegen die permanente Überlastung setzen. | |
Wer die Arbeitsbedingungen am Institut verbessern könnte, darüber gehen die | |
Meinungen auseinander. Das Präsidium sieht sich auf taz-Anfrage nicht in | |
der Verantwortung: „Im Rahmen der Fakultätsautonomie an der Universität | |
Göttingen ist für die Begründung von Beschäftigungsverhältnissen in erster | |
Linie die Sozialwissenschaftliche Fakultät zuständig.“ Das Gleiche gelte | |
für die Personalverantwortung. Die für die Fakultät verantwortliche Dekanin | |
Andrea Bührmann wiederum verweist auf die Zuständigkeit der | |
Hochschulleitung: „Die Entscheidung über die dauerhafte Neueinrichtung | |
sowie über die konkrete Besetzung unbefristeter Stellen im | |
wissenschaftlichen Dienst obliegt dem Präsidium“, teilt Bührmann der taz | |
mit. | |
Wahr ist aber auch: Die Fakultäten können bei der Hochschulleitung Anträge | |
auf Entfristung stellen. Warum dies nicht häufiger geschieht, begründet die | |
Dekanin damit, dass die im WissZeitVG festgeschriebenen Ziele | |
berücksichtigt werden müssten. Soll heißen: Für Forscher:innen, die sich | |
noch qualifizieren, greift die Befristungsregelung. | |
Für die Mitarbeitenden am Institut sind das Ausflüchte. Schließlich | |
schreibt das WissZeitVG den Hochschulen nicht vor, dass sie befristen | |
müssen. „Andere Universitäten sind da schon weiter“, sagt Bartels und | |
verweist auf hessische Hochschulen. Tatsächlich hat beispielsweise die | |
Universität Frankfurt Stellen für Researcher und Lecturer eingeführt. Damit | |
bietet sie neue Karrierewege neben der Professur – und weicht vom | |
traditionellen Lehrstuhlprinzip ab. Eine Entwicklung, die das Land Hessen | |
unterstützt. | |
## Vorbild Hessen | |
In einem bundesweit einzigartigen Schritt haben sich Gewerkschaften und | |
Landesregierung aus CDU und SPD auf eine verpflichtende Erhöhung der | |
Dauerstellen im Mittelbau geeinigt: Bis 2030 muss die Zahl um rund 400 auf | |
1.850 Vollzeitstellen steigen. Damit hätten rund 40 Prozent der vom Land | |
finanzierten Wissenschaftler:innen eine Dauerstelle. | |
In Niedersachsen sind das im akademischen Mittelbau aktuell 37 Prozent, | |
teilt das Wissenschaftsministerium in Hannover auf taz-Anfrage mit. | |
Gemeinsam mit den Hochschulen soll zudem ein Kodex für „Gute Arbeit“ | |
entstehen, der „insbesondere auch auf die Verbesserung der | |
Karriereperspektiven für den akademischen Arbeitsbedingungen an | |
UnisMittelbau ausgerichtet ist“. Dafür soll demnächst auch das | |
Landeshochschulgesetz geändert werden. | |
Bis es so weit ist, bauen die wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen in | |
Göttingen auf folgendes Szenario: Die Professor:innen unterstützen die | |
Anliegen des Mittelbaus und verzichten darauf, die eigenen | |
Mitarbeiter:innen zu sanktionieren. Andere Institute schließen sich | |
dem Protest an. Irgendwann ist der Druck so hoch, dass die Uni das Anliegen | |
nicht länger ignorieren kann. Und wenn die Georg-August-Universität | |
Göttingen eines Tages dann noch einen Präsidenten bekommt, dem an guten | |
Arbeitsbedingungen gelegen ist, könnte das was werden mit einer neuen | |
Entfristungspraxis. | |
5 Feb 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Personalquerelen-an-der-Uni-Goettingen/!6041511 | |
[2] /Prekaere-Verhaeltnisse-in-der-Wissenschaft/!5997410 | |
[3] https://www.uni-goettingen-unbefristet.de/protest-der-wissenschaftlichen-mi… | |
[4] /Bildungsversprechen-nach-Ampel-Aus/!6055809 | |
## AUTOREN | |
Ralf Pauli | |
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