# taz.de -- Gefangenentheater aufBruch zeigt „1984“: Ein körperlich spürb… | |
> aufBruch bringt George Orwells dystopischen Roman „1984“ in der JVA | |
> Plötzensee auf die Bühne. Die Zukunft des Gefangenentheaterprojekts ist | |
> ungewiss. | |
Bild: Ungeschönte Darstellung eines Diktaturalltags. Szene aus „1984“ vom … | |
„Jetzt bin ich frei und will alles!“ Mit Verve röhrt Steven Mädel den | |
Gitte-Haenning-Hit ins Mikrofon. In bester Rampensaumanier beackert er das | |
Publikum in der ersten Reihe, und er ist eine Augenweide: Keck sitzt die | |
rote Baskenmütze auf der braunen Langhaarperücke. In Kombination mit | |
Jeans-Latzhose und schwarz-weiß-gestreiftem Shirt (Kostüm: Haemin Jung) | |
sieht das extrem süß aus. Mädel übernimmt [1][beim Gefangenentheater | |
aufBruch] oft die Frauenrollen. In „1984“ hat er einen Kurzauftritt als | |
Drill-Turnlehrerin und einen langen als Julia. | |
Julia liebt Winston. Sie will diese Liebe leben und beharrt also darauf, | |
als Individuum zu existieren. Das ist Widerstand in dem totalitären Staat, | |
den George Orwell in seinem dystopischen Roman „1984“ skizziert. Mit dem | |
ganzen Empowerment, das Gittes 80er-Jahre-Schlager transportiert, wird das | |
Publikum nach 90 Minuten beängstigender Simulation eines | |
24/7-Überwachungsstaates aus dem Kultursaal der JVA Plötzensee entlassen. | |
Thomas Brasch, der widerspenstig-widerständige, aus der DDR gezwungene | |
Schriftsteller, sitzt kurz vor Schluss auf der Bühnentreppe, die zur | |
Überwachungsplattform führt. Mike Herrmann ist Brasch und zitiert aus | |
dessen 1977 erschienenem Buch „Kargo“ eine fiktive Pionierleiterin, die | |
glaubt, ihren Vater umgebracht zu haben: „Ich habe nie an das geglaubt, was | |
ich den Kindern erzählt habe. Von wegen der schönen Zukunft und so. Ich war | |
nie mit dem Herzen dabei.“ | |
„1984“, die Horrorvision eines totalen Überwachungsstaates, kurz nach dem | |
Zweiten Weltkrieg verfasst, ist Orwells Reaktion auf die Etablierung | |
diktatorischer Regime im Europa des 20. Jahrhunderts, mit Fokus auf den | |
Stalinismus. Die Szene „2x2=5“ bringt die Gedankendiktatur, die in den | |
späten 30er Jahren in der UdSSR umgesetzt wurde, auf den Punkt: Winston | |
soll die offensichtliche Lüge nicht nur aussprechen. Ziel ist: Er soll | |
daran wirklich glauben. | |
Bei den Verhören mit Winston, einem Mitarbeiter des | |
Informations-Ministeriums, der ein verbotenes Tagebuch führt, sind | |
Parallelen zu den Vernehmungsmethoden der Stasi unübersehbar. | |
In Orwells Überwachungsstaat ist auch Liebe verboten, weil sie nicht | |
kontrolliert werden kann. Die wie Tupfer zwischen Drill, Kontrolle und | |
Verhör eingestreuten Liebesszenen entwickeln vor der ungeschönten | |
Darstellung eines Diktaturalltags einen immensen Charme und berühren tief. | |
Auf der Bühnenrückwand rast ein Zug in die Ferne und eine Wiese poppt auf. | |
Davor stehen Harun und Steven Mädel einander zugewandt. Ihr | |
vorsichtig-neugierig-witziger Dialog, in dem Winston und Julia sich | |
einander annähern, ist auf der Zuschauerbank ein verbales Ausruhen zwischen | |
all dem Kommando-und Neusprech-Vokabular („doppelplusgut“). | |
Und dann bleibt Alain Taylor auf der Treppe stehen und das Keyboard | |
(Vsevolod Silkin) intoniert die ersten Takte von „E lucevan le stelle“. Es | |
sind die letzten Worte eines zum Tode Verurteilten an seine Geliebte, die | |
Puccini in eine einzigartige Sehnsuchtsmelodie packt. Taylor singt die | |
weltbekannte Arie aus der Oper „Tosca“ und erobert dabei die | |
Überwachungsplattform. | |
## Die Haushaltskürzungen treffen aufBruch hart | |
Die Luft steht still und ein Gänsehautmoment von unwirklicher Schönheit | |
entsteht, der im Kontext der Inszenierung extreme Kraft entwickelt: Hier | |
findet ein körperlich spürbares Aufbäumen statt. Es ist dieser spezielle | |
Theaterort, das Gefängnis, der solche Schwingungen wahrhaftig macht und das | |
Publikum dafür sensibel. | |
Die langjährige Produktionsleiterin Sibylle Arndt steht nach der Premiere | |
mit dem ganzen Team auf der Bühne und erzählt, [2][dass aufBruch dieses | |
Jahr mit der Hälfte der Zuwendungen auskommen muss]: insgesamt 170.000 | |
Euro. Es reicht noch für die Sommerproduktion in der JVA Tegel. | |
Findet sich keine andere Finanzierung, müssen die dritte | |
Gefängnisproduktion und die Open-Air-Inszenierung mit ehemaligen Gefangenen | |
und Freigängern abgesagt werden. Im Premierenpublikum sitzen auch ehemalige | |
Häftlinge, die im Gefängnis ihre Faszination fürs Theaterspiel entdeckt | |
haben und draußen mit aufBruch weiterspielen. Einer sitzt hinter mir und | |
sagt, dass er beim Theaterspielen im Gefängnis sein gutes, gewähltes | |
Deutsch gelernt habe. | |
Die Texte bei „1984“ sind oft komplex, auch die von Regisseur Peter | |
Atanassow eingebauten Sprechchöre. Die Kraftanstrengung ist den Spielenden | |
anzusehen. Beim „Ich will alles“-Schmettern vergisst Steven Mädel einmal | |
kurz seinen Text. Mit einem leisen Lächeln steigt er beim Refrain wieder | |
ein. | |
31 Jan 2025 | |
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## AUTOREN | |
Katja Kollmann | |
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