# taz.de -- Geflüchtete auf Sizilien: Eine Stadt macht sich auf | |
> Eine sizilianische Kleinstadt ist besonders erfolgreich bei der | |
> Integration von Geflücheten – obwohl dort die rechte Fratelli d’Italia | |
> regiert. | |
Bild: Hinter dicken alten Mauern: Stadtzentrum von Piazza Armerina | |
Piazza Armerina taz | Laute Musik schallt durch die geöffnete Glastür des | |
Friseursalons, hinaus in die [1][sizilianische] Kleinstadt Piazza Armerina. | |
Nebenan meint man bei genauem Hinsehen das verstaubte Fensterglas der mit | |
„Zu verkaufen“-Schildern versehenen Altstadtfassaden vom Bass vibrieren zu | |
sehen. Hinter den frisch geputzten Scheiben des Gebäudes mit der Nummer 21 | |
schwingt der Ladenbesitzer, Israel Assien, in schwarzer Jogginghose und | |
caramelfarbenem Polohemd seinen Besen über den gefliesten Boden. Auf einem | |
Bildschirm an der Decke läuft ein Musikvideo à la Afrobeat. Gerade noch so | |
hört man die Ladenklingel. Ein Bekannter des 24-jährigen Friseurs braucht | |
einen neuen Haarschnitt. „Du kannst gleich dableiben“, sagt Assien und | |
weist mit lässiger Geste in Richtung des einzigen Friseurstuhls im Raum. | |
„Ich bin der einzige schwarze Typ mit einem Laden hier“, sagt Assien, als | |
der frisch Frisierte wieder aus der Tür raus ist. Im Juni 2023 hat der | |
junge Nigerianer aus Edo State seinen Laden eröffnet. Noch vor ein paar | |
Jahren wäre das in der Kleinstadt im Landesinneren von Sizilien schwer | |
vorstellbar gewesen. „Piazza Armerina liegt nicht etwa am Meer, es ist eine | |
Enklave im Landesinneren“, erklärt Gaspare Di Stefano. Dort gehörten | |
Migrant*innen, generell Menschen von außerhalb, viel weniger zum Stadtbild, | |
sagt der Psychologe, der seit fünf Jahren in einem | |
Berufsintegrationszentrum arbeitet, das [2][Migranten bei der Arbeitssuche | |
unterstützt]. | |
Vor zehn Jahren hat in Piazza Armerina, einer konservativ-katholischen | |
Stadt, mit malerisch ansteigenden Gassen und einer imposanten Kathedrale, | |
eine langsame Entwicklung begonnen. Seit 2011 gibt es ein Aufnahmezentrum | |
für Geflüchtete und Asylbewerber in der Kleinstadt, das von der Vereinigung | |
Don Bosco 2000 geleitet wird. Dank des unermüdlichen Einsatzes der 17 | |
Mitarbeiter erhalten fast alle Menschen, die dort seither aufgenommen | |
werden, eine Aufenthaltsgenehmigung. Laut den Verantwortlichen gab es seit | |
Bestehen nur einen Fall, bei dem eine Person in Abschiebehaft musste. | |
Das hat Auswirkungen auf die Stadtbevölkerung. Der Ausländeranteil der | |
20.000-Einwohner-Stadt liegt heute bei rund 5 Prozent. Laut einem Bericht | |
des Italienischen Statistikamts (Istat) von 2023 kommen 1.130 Menschen aus | |
dem Ausland, 937 davon aus außereuropäischen Ländern – von ihnen sind 40 | |
Prozent Frauen. | |
Allein an Israel Assiens Kunden zeigt sich, dass die Stadt sich geöffnet | |
hat. Unter anderem Nigerianer, Gambier und Italiener geben sich hier die | |
Klinke in die Hand. Vor Assiens Geschäft mischen sich Sprachfetzen aus | |
aller Herren Länder. Nigerianer sind in Piazza Armerina die zweitgrößte | |
ausländische Gemeinschaft mit 107 Zugehörigen, an erster Stelle stehen | |
Somalier mit 155 und die dritte Gruppe bilden Marokkaner mit 72 Menschen. | |
Das Stadtbild des mittelalterlich geprägten Ortes, seit 1817 Bischofssitz | |
mit Klöstern diverser Ordensgemeinschaften, ist nicht mehr | |
wiederzuerkennen: Auf den öffentlichen Plätzen sitzen nicht mehr nur ältere | |
italienische Herren auf ihren Bänken, sondern gleich nebenan junge Menschen | |
von überall her. | |
## Eine Chance für die Region | |
Für Piazza Armerina und die gesamte Region Sizilien ist diese Entwicklung | |
eine Chance. Der Mittelmeerinsel, die heute eine Bevölkerungszahl von 4,7 | |
Millionen Menschen hat, droht bis zum Jahr 2050 ein Bevölkerungsrückgang | |
auf 3,5 Millionen Einwohner:innen. Vor allem junge Menschen ziehen vom | |
Süden [3][Italiens] weg in Richtung Norden. | |
Die Provinz Enna, zu der auch Piazza Armerina gehört, ist von Abwanderung | |
besonders betroffen. Allein in den vergangenen vier Jahren ist die | |
Bevölkerungszahl in der Provinz um 7.000 Einwohner:innen gesunken. | |
„Durch Abwanderung und eine niedrige Geburtenrate wird die Region sich | |
immer mehr entvölkern, Boden wird nicht mehr kultiviert und sich selbst | |
überlassen. Migration ist eine Chance, weil Migranten die Gebiete | |
übernehmen und beleben können“, sagt di Stefano. | |
Samantha Barresi, Zentrumskoordinatorin bei Don Bosco 2000, teilt die | |
Ansicht des Psychologen: „Durch Migration findet eine Wiederbevölkerung | |
statt. Wenn Häuser im historischen Zentrum, die lange leer standen, | |
angemietet werden, Exilanten in der Gastronomie oder in der Landwirtschaft | |
arbeiten, ist das offensichtlich ein positiver Trend.“ Für die | |
Koordinatorin mache das auch den Unterschied zu anderen Kommunen aus: „In | |
Piazza Armerina gibt es viele Geflüchtete, die bleiben und hier arbeiten.“ | |
In Assiens Haarsalon geht wieder die Ladenklingel. Edith Onome, | |
Verantwortliche für die berufliche Integration bei Don Bosco 2000 und | |
Assiens engste Vertraute, stattet ihrem Schützling einen Besuch ab. „Mama“, | |
sagt Assien bei der Begrüßung, und seine eben noch müden Augen werden wach. | |
Die 45-jährige Nigerianerin, die mindestens einen Kopf kleiner ist, lacht | |
und verdreht kurz ihre freundlichen Augen hinter den runden Brillengläsern. | |
Später in ihrem Büro in den Räumlichkeiten der Vereinigung im Stadtzentrum | |
sagt sie über ihre Rolle als wichtigste Vertrauensperson, die sie für viele | |
der jungen Migranten übernommen hat: „Ich sage ihnen immer, sie sollen mich | |
Edith nennen, nicht Mama. Aber in Afrika ist das auch ein Zeichen des | |
Respekts gegenüber Älteren.“ Ihr 18-jähriger Sohn, der anders als sie in | |
Italien aufgewachsen ist, sei darüber jedenfalls wenig erfreut. | |
Im Jahr 2019 kam Israel Assien ins Zentrum von Don Bosco 2000 und wurde von | |
Edith direkt unter ihre Fittiche genommen. Als Ansprechpartnerin für | |
allerlei Sorgen hilft sie nicht nur bei der Arbeitssuche und bürokratischen | |
Anliegen. Assien erinnert sich: „Wenn ich daran dachte, was mir passiert | |
ist, fühlte ich mich einsam und traurig. Ich war plötzlich wütend, ohne | |
jeden Grund. Edith ist die Einzige, die mich beruhigen konnte.“ | |
Über seine Vergangenheit spricht der auf den ersten Blick schüchterne | |
Friseur wenig. Obwohl er mittlerweile eine Aufenthaltsgenehmigung hat, ist | |
er bislang noch nicht nach Nigeria zurückgereist. „Er hat in seiner Heimat | |
sein Leben riskiert“, verrät Onome, die mit Assien abwechselnd auf | |
Englisch, Italienisch und in Pidgin spricht. Ein Besuch bei der Psychologin | |
des Zentrums habe ihm geholfen, die traumatischen Erlebnisse in seiner | |
Heimat und auf dem Weg über Libyen und das Mittelmeer nach Europa zu | |
verarbeiten. „Am Anfang wollte er nicht hingehen, keiner will das. In | |
Afrika glauben wir nicht daran. Sie sagen: Ich brauche das nicht. Aber | |
schon nach dem ersten Termin dort rief Israel mich an und meinte: Wann | |
gehen wir wieder in die Therapie?“, erzählt Onome und lacht bei der | |
Erinnerung an seinen Anruf laut, und ihr Zopf fliegt durch die Luft. Jetzt | |
lacht auch Assien – heute geht das wieder. | |
Onome schätzt, dass von 95 Zentrumsbewohnern etwa 40 eine Therapie | |
benötigen, ein Jahr wird dafür angesetzt. „Stress, Trauma, Gewalt, in ihrer | |
Heimat und auf der Reise, und keine Möglichkeit, mit jemandem darüber zu | |
sprechen. Für einen jungen Menschen ist es nicht leicht, durch so eine | |
Hölle zu gehen“, sagt sie. Onome erzählt von einem aktuellen Fall: Ein | |
junger Zentrumsbewohner aus Bangladesch, der seit drei Tagen nicht schläft | |
und nachts durch die Gänge geht, „weil er immer, wenn er die Augen | |
schließt, vor sich sieht, was er auf der Reise erlebt hat“. So etwas wie | |
eine Art Alltag wiederzufinden braucht seine Zeit. | |
Neben einer psychologischen Betreuung, falls diese notwendig ist, findet im | |
Zentrum von Don Bosco 2000 vom ersten Tag an drei Monate lang täglich ein | |
Sprachkurs statt, der dann an einer öffentlichen Schule weitergeht. | |
Mindestens genauso wichtig: Schnell wird nach einem Praktikum oder einer | |
Arbeit für die Neuen gesucht. Im zurückliegenden Jahr wurden im Zentrum 65 | |
Arbeits- und 17 Praktikumsverträge unterzeichnet. | |
Für eine Aufenthaltsgenehmigung sei das wesentlich, sagt Giuseppe | |
Birritella, Jurist bei Don Bosco 2000. „Die meisten jungen Menschen | |
erhalten ihre Papiere erst, nachdem sie in Berufung gegangen sind, weil die | |
erste Kommission ihnen keinen Schutz anerkannt hat, zum Beispiel, weil sie | |
aus Ländern kommen, die als,sicher' angesehen werden. In der Zwischenzeit | |
versuchen wir einen Arbeitsvertrag vorzulegen, sodass wir nachweisen | |
können, dass der Integrationsprozess bereits in vollem Gange ist. Das | |
funktioniert fast immer“, so der Jurist. Seine Arbeit wurde allerdings | |
durch ein Dekret [4][der rechtsextremen Regierung von Giorgia Meloni] im | |
Mai 2023 um einiges erschwert, weil die Zeitspanne, in der Geflüchtete in | |
Berufung gehen können, von 30 auf 15 Tage halbiert wurde. | |
Eine solch umfängliche Begleitung für Geflüchtete auf juristischer, | |
psychologischer, beruflicher und bürokratischer Ebene wie im | |
Aufnahmezentrum von Piazza Armerina ist in Italien nicht der Normalfall. | |
Weil die Vereinigung, die sieben Aufnahmezentren auf Sizilien leitet und | |
120 Mitarbeitende hat – 40 davon aus dem Ausland – mehrere wirtschaftliche | |
Standbeine hat, ist das hier möglich. Zu den wirtschaftlichen Aktivitäten | |
des Sozialunternehmens, das seinen Namen dem Heiligen Don Bosco gewidmet | |
hat, gehören ein solidarisches Hotel in Catania, das ausschließlich von | |
Exilanten geführt wird, eine Kulturbar und ein Geschäft, das Kleidung mit | |
afrikanischen Motiven verkauft. Die Gewinne werden unter anderem dazu | |
verwendet, jedem Geflüchteten die gleiche Betreuung zu garantieren. | |
Offiziell beherbergt Don Bosco 2000 zwei Zentren in einer Einrichtung: das | |
Erstaufnahmezentrum CAS, für das pro Tag und Person 26 Euro von den | |
Behörden gezahlt werden, und das Integrationszentrum SAI, das mit 35 Euro | |
pro Tag und Person subventioniert wird. „Das CAS-Geld reicht gerade mal | |
dafür, um den Menschen Essen und Trinken zu geben“, so Agostino Sella. Er | |
ist Salesianer und hat gemeinsam mit seiner Frau Cinzia Vela das Zentrum | |
gegründet. Beide legen Wert darauf, trotz der unterschiedlich hohen | |
Subventionen für alle Geflüchteten gleich viel Mittel bereitzustellen. | |
Diese Philosophie läuft der Politik zuwider: Schon seit 2018, als die | |
extreme Rechte in Italien an die Macht kam, wurden Maßnahmen wie | |
Sprachkurse, juristische, berufliche und psychologische Unterstützung vom | |
damaligen Innenminister Matteo Salvini für die Erstaufnahmezentren, die | |
CAS, abgeschafft. Heute sollen sie als Übergangszentren für einen kurzen | |
Aufenthalt dienen, nehmen in der Realität aber immer häufiger Migranten für | |
längere Zeiträume auf – obwohl dort keinerlei Integrationsarbeit mehr | |
stattfindet. Diese Zentren werden von der Präfektur, der regionalen | |
Vertretung der Zentralregierung, verwaltet und haben häufig hohe | |
Kapazitäten. Mehrere Hundert Geflüchtete kommen darin unter. | |
Die sogenannten Aufnahme- und Integrationszentren (SAI), die von den | |
Gemeinden verwaltet werden, haben hingegen zum Ziel, Migranten bestmöglich | |
bei der Integration zu unterstützen. Aber hierher kommt nur noch, wer | |
bereits Aufenthaltspapiere hat. | |
Die NGO Borderline Europe kritisiert diese Politik in einem Bericht vom | |
Dezember 2022: „Die CAS wurden als außerordentliche Aufnahmezentren | |
geschaffen, sie sollten also nur in Notfällen genutzt werden, stellen heute | |
im Grunde genommen aber das normale, das reguläre Aufnahmesystem dar, | |
zumindest in Sizilien.“ Don-Bosco-2000-Gründer Agostino Sella geht noch | |
einen Schritt weiter: „Auf diese Weise wird die Integration von | |
Flüchtlingen in das Land absichtlich erschwert.“ | |
Die Regierung Meloni verfolgt eine Vielzahl von Maßnahmen mit diesem Ziel, | |
darunter eine sehr kostspielige: Statt Integration sollen in Sizilien bis | |
2025 vier neue Abschiebezentren gebaut werden, in ganz Italien wird von 9 | |
bereits bestehenden auf 23 erhöht – abgeschoben wird unter anderem wegen | |
bürokratischer Hindernisse und mangelnder Kooperation des Heimatlandes aber | |
kaum. | |
Auf der anderen Seite hat das alternde Italien noch nie so viele Menschen | |
mit Arbeitsvisum ins Land geholt wie jetzt – zwischen 2023 und 2025 sind es | |
500.000 ausländische Arbeitskräfte. Agostino Sella reagiert darauf mit | |
Unverständnis: „Um Wählerstimmen zu gewinnen, wiederholen sie, dass man | |
abschieben muss. Auf der anderen Seite aber werden Abkommen mit Tunesien | |
geschlossen, um Arbeiter ins Land zu holen, obwohl wir hier schon Leute | |
haben, die schon Italienisch sprechen, das Gebiet kennen und ausgebildet | |
sind. Es ist absurd.“ | |
Auch auf lokaler Ebene ist in Piazza Armerina wenig Rückhalt zu erwarten. | |
Es ist vor allem der Bedarf an Arbeitskräften, der Migranten unentbehrlich | |
macht. Sella sagt: „Erst sind die Menschen skeptisch, wenn sie dann aber | |
einen Koch in ihrer Küche benötigen und einen afrikanischen Koch finden, | |
sagen sie: Gott sei Dank gibt es einen afrikanischen Koch.“ | |
Aus dem Rathaus gibt es wenig Unterstützung für die Initiative, dort stellt | |
die rechtsextreme Partei Fratelli d’Italia den Bürgermeister. Der reagiert | |
nicht auf Anfragen. Die Mitarbeiter von Don Bosco 2000 sagen, dass eine | |
Kooperation häufig schwierig sei. | |
In einem feindlich gesinnten Umfeld, auf nationaler wie auch auf | |
europäischer Ebene, wo die Asylpolitik zuletzt ebenfalls verschärft wurde, | |
leistet Don Bosco 2000 also Widerstand. Diejenigen, die in den | |
Räumlichkeiten der Vereinigung untergebracht sind, können sich glücklich | |
schätzen. Dazu gehört auch Israel Assien. Nach seiner Ankunft im Zentrum | |
arbeitete er in verschiedenen Jobs – auch in der Landwirtschaft. „Er ist | |
ein guter Arbeiter, das haben die Arbeitgeber gleich gesehen. Später riefen | |
sogar welche bei mir an, um zu fragen, wann Israel wiederkomme“, sagt Edith | |
Onome, die mit über 30 Arbeitgebern in Piazza Armerina in Kontakt steht und | |
von ihrem Netzwerk bei der Arbeitssuche täglich Gebrauch macht. | |
Weil Israel Assien schon in seiner Heimat und später in Libyen Haare | |
schnitt, verschaffte ihm Onome ein Praktikum bei einem Friseur in der | |
Stadt. Luca, so heißt Assiens erster Arbeitgeber, ist inzwischen ein guter | |
Freund des Nigerianers geworden. Assien vergisst seine Schüchternheit, wenn | |
er von ihm spricht. Der Mittvierziger war es auch, der dem jungen | |
Nigerianer ans Herz legte, seinen eigenen Laden zu eröffnen. Jetzt schickt | |
er ihm regelmäßig Kunden rüber ins Geschäft. „Ohne Edith, Samantha und Lu… | |
wäre das alles nicht möglich gewesen. Sie haben mir die ganze Zeit | |
geholfen“, sagt Assien. | |
Das Zentrum stellte für seinen Salon einen Fördermittelantrag beim Staat, | |
sodass Assien für den Beginn seiner Selbstständigkeit mit 5.000 Euro | |
unterstützt wurde. Während der ersten Monate half ihm Don Bosco 2000 | |
außerdem finanziell, da wohnte er schon nicht mehr im Zentrum, sondern in | |
einer eigenen Wohnung in der Innenstadt. Die Hilfe der Vereinigung geht | |
auch über die Dauer des Aufenthalts dort hinaus. „Seit zehn Monaten läuft | |
das Geschäft“, sagt Assien, lässig an den Türrahmen gelehnt, von wo aus er | |
Edith Onome zum Abschied zuwinkt. Die Tage schaue sie mal wieder vorbei, | |
sagt sie noch im Gehen. Seinen Laden schließt er heute, wie so oft, erst | |
nach 20 Uhr. Ein marokkanischer Bekannter, der für einen Haarschnitt | |
zweimal im Monat aus dem 30 Kilometer entfernten Enna nach Piazza Armerina | |
fährt, hat noch einen Termin bei ihm. | |
Nur ein paar Meter weiter füllen sich um dieselbe Zeit die Terrassen der | |
wenigen Restaurants der Stadt. In dem Restaurant Pizzeria Pizza & Core | |
tragen Servicekräfte unter den Blicken ihres Chefs, Danilo Conti, Pizzen | |
nach draußen. Contis Familie betreibt drei Restaurants und einen Club in | |
der Stadt. Seit 20 Jahren arbeiten sie auch mit ausländischen | |
Arbeitskräften. Für die lokale Wirtschaft würden diese seit zehn Jahren | |
eine wichtige Rolle spielen, meint der Restaurantchef und ergänzt: „Ich | |
melde mich ungefähr einmal im Monat bei Edith, weil es immer jemanden gibt, | |
der von hier weggeht.“ | |
Aktuell sei sein Team zu neunt, die Hälfte des Personals stamme aus dem | |
Ausland – alle kamen über Don Bosco 2000. „Viele der jungen Italiener | |
wollen weg, nach London oder nach Spanien. Manche wollen den Job auch | |
einfach nicht machen“, sagt Conti mit leiser Stimme. Dass viele | |
ausländische Arbeitskräfte keine Vorerfahrung im Bereich der Gastronomie | |
mitbrächten, sei nicht weiter schlimm. „Wenn du den Willen hast und etwas | |
Leidenschaft mitbringst, selbst wenn es nur darum geht, eine Zucchini zu | |
schneiden, dann lernst du jeden Tag ein bisschen dazu“, so der italienische | |
Inhaber. | |
Hinter der Theke des Restaurants bearbeitet Saiful seit eineinhalb Jahren | |
Pizzaiolo hier, und konzentriert sich auf den Pizzateig. Der 19-Jährige mit | |
dem kindlichen Gesicht und dem Oberlippenbart kam als Minderjähriger aus | |
Bangladesch nach Sizilien und schließlich ins Zentrum von Don Bosco 2000. | |
„Saiful ist mit Leidenschaft und Herz dabei“, meint Conti. Der junge | |
Pizzabäcker reicht den Pizzaboden an seinen marokkanischen Kollegen weiter. | |
„In meiner Kindheit habe ich viel Zeit mit meiner Mutter in der Küche | |
verbracht. Seither habe ich mir gewünscht, Koch zu werden“, sagt Saiful, | |
seine Finger versinken in Mehl. | |
Am nächsten Morgen an ihrem Schreibtisch in den Räumlichkeiten von Don | |
Bosco 2000 verrät Edith Onome, wie sie bei der Arbeitssuche vorgeht: „Ich | |
setze mich mit der Person zusammen und wir besprechen Wünsche und | |
Fähigkeiten, die er oder sie mitbringt.“ Wer aus Bangladesch kommt – | |
aktuell die größte Migrantengruppe im Zentrum – sagt sie, will fast immer | |
in der Gastronomie arbeiten. So auch Saifuls Mitbewohner Sharif, der in | |
seiner Heimat Näher war. In Piazza Armerina arbeitete er zunächst in seinem | |
Beruf, wechselte dann aber in eines der Restaurants im historischen Zentrum | |
und ließ sich als Koch ausbilden. | |
Vor acht Monaten haben die beiden Jungs aus Bangladesch Don Bosco 2000 | |
verlassen, um mit zwei weiteren Landsleuten in ihre erste eigene Wohnung zu | |
ziehen. Auch hier hilft die Vereinigung. Trotzdem bleibt die Wohnungssuche | |
eine Herausforderung. „Eine Wohnung zu finden, ist sehr, sehr schwierig“, | |
sagt Onome und stützt ihren Kopf auf ihre Hände mit den rot lackierten | |
Fingernägeln. „Viele haben kein Vertrauen, weil es in der Vergangenheit | |
einen Vorfall gab, bei dem afrikanische Mieter aus der Wohnung ausgezogen | |
sind, ohne die Miete, Licht und Wasser zu zahlen“, ergänzt sie. Seither | |
würden viele Mieter ihre Wohnungen lieber leer stehen lassen, statt an | |
Ausländer zu vermieten. Piazza Armerina ist noch weit davon entfernt, frei | |
von Rassismus zu sein. | |
Onome erzählt, dass sie erst vor Kurzem eine ältere Frau angesprochen habe, | |
die Frau habe gesagt: Diese jungen Schwarzen, die da nebenan wohnten, die | |
halte sie nicht mehr aus. „Ich habe sie angeschaut und gefragt: Signora, | |
was meinen Sie, was für eine Hautfarbe ich habe? Sie meinte dann: Aber sie | |
sind doch Italienerin, sie sind mit einem Italiener verheiratet. Ich | |
antwortete: Signora, ich bin schwarz“, erzählt Onome, und ihr freundliches | |
Gesicht mit den offenen Augen verzieht sich vor Wut. | |
Die Nigerianerin kennt die Schwierigkeiten gut, die Migranten erleben, und | |
den Rassismus, dem sie teils ausgesetzt sind: Als sie 1998 mit einem | |
Touristenvisum aus Delta State in Nigeria nach Piazza Armerina kam, war sie | |
„die erste Afrikanerin in der Stadt“, wie sie sagt. „Schlimm, brutal“ s… | |
die Worte, die ihr in den Sinn kommen, wenn sie sich daran erinnert. Sie | |
sei nur auf die Arbeit und wieder nach Hause gegangen, um die ständigen | |
„wenig wohlwollenden“ Blicke zu vermeiden. Seit sieben, acht Jahren, | |
schätzt sie, seien Ausländer auf den Straßen mehr zur Normalität geworden. | |
„Aber wir arbeiten weiter dran“, sagt sie. | |
Keine fünf Sekunden später klopft es an ihrer Bürotür: Isaka, aus einer | |
Region im Norden von Burkina Faso stammend, in der es immer wieder Angriffe | |
von Dschihadisten gibt, schiebt seine Nase durch die einen Spalt geöffnete | |
Tür. Er hat einen Termin mit Onome, die ihn bittet, hereinzukommen. | |
Sichtlich angespannt bleibt der knapp 20-Jährige im Raum stehen, abwartend. | |
„Heute kam die Bestätigung deiner Aufenthaltsgenehmigung – für fünf | |
Jahre“, lässt Onome ihn nicht lange warten. Da sackt Isaka in sich | |
zusammen, als würde man Luft aus einem Ballon lassen, und wirft ungläubig | |
die Hände vors Gesicht. Dann fällt er Edith Onome und ihren Kollegen in die | |
Arme. | |
10 Jan 2025 | |
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