| # taz.de -- Missstände in der „24-Stunden-Pflege“: Wer hilft ihnen? | |
| > Hunderttausende Menschen aus Ost- und Mitteleuropa arbeiten in | |
| > Deutschland in der Alten- und Krankenbetreuung. Statt fairer Jobs finden | |
| > sie oft unzumutbare Zustände vor. | |
| Bild: Kochen, aufräumen, Körperpflege, Toilettengang, zum Arzt begleiten und … | |
| Es gibt Momente, da macht für die drei Frauen alles einen Sinn. Die | |
| unruhigen Nächte, die Rückenschmerzen, das Heimweh. Wenn Nadezda Kratinovás | |
| Patientin nach Tagen des gemeinsamen Trainings plötzlich wieder | |
| selbstständig auf die Toilette gehen kann und ihre Kinder von einem | |
| „Wunder“ sprechen. Wenn ein Hausarzt zu Lena Strejčková sagt: „Wow, Sie | |
| kennen sich so gut aus, Sie könnten glatt meinen Job machen.“ Oder wenn | |
| „der Opa“ Soña Hrnčírová einen Roadtrip quer durch Europa vorschlägt, … | |
| es jetzt mal an der Zeit sei, dass er ihre Familie kennenlernt. | |
| Und dann gibt es Momente, da fragen sie sich, was zur Hölle sie da | |
| eigentlich tun. Wenn sie bei Regen das Fenster putzen sollen. Wenn „die | |
| Hexe“ sagt, heute gibt’s nur drei Kartoffeln für dich. Wenn der Kerl schon | |
| wieder absichtlich daneben pinkelt. Wenn man aufs Polizeirevier geladen | |
| wird, obwohl für die Medikamente doch die Tochter zuständig war. Wenn die | |
| einzige Option ist, im Auto zu schlafen, aus Angst, nachts allein mit | |
| diesem Mann zu sein. | |
| Soña Hrnčírová, Lena Strejčková und Nadezda Kratinová kommen aus Tschech… | |
| und arbeiten in der „24-Stunden-Pflege“ in Deutschland. Sie sind drei von | |
| schätzungsweise 400.000 bis 600.000 Menschen aus ost- und | |
| mitteleuropäischen Ländern, die sich hierzulande um die Alten kümmern und | |
| gleichzeitig dafür sorgen, [1][dass das Pflegesystem nicht zusammenbricht.] | |
| Auf dem Papier übernehmen sie Aufgaben, die auch Angehörige übernehmen | |
| könnten. Aufgaben also, für die man keine medizinische Ausbildung braucht: | |
| Hilfe bei der Körperpflege, beim Toilettengang, beim An- und Ausziehen. | |
| Kochen, aufräumen, waschen, zum Arzt fahren, gemeinsam Rommé spielen oder | |
| spazieren gehen. Deswegen ist offiziell auch nicht von Pflegekräften die | |
| Rede, sondern von Betreuer:innen oder sogenannten „Live-ins“. | |
| Denn die Menschen, meist sind es Frauen, leben teils mehrere Monate am | |
| Stück im Haushalt der zu betreuenden Person. Dort müssen sie oft sehr viel | |
| mehr sein als „bloß“ Betreuerin: nämlich Krankenschwestern, die ohne | |
| Vorwarnung mit Magensonden und Blasenkathetern umgehen sollen. Engste | |
| Vertraute, Psychologinnen, Physiotherapeutinnen, Tochterersatz. | |
| Aber wie funktioniert die „24-Stunden-Betreuung“ in Deutschland genau? | |
| Welche Rolle spielen sogenannte Vermittlungsagenturen? Und was erleben | |
| Betreuer:innen tagtäglich in ihren Jobs? | |
| Die Bezeichnung „24-Stunden-Pflege“ gehört in Anführungszeichen, weil in | |
| Deutschland niemand über mehrere Tage hinweg 24 Stunden am Stück arbeiten | |
| darf. Doch obwohl in vielen Verträgen von acht Stunden, freien Tagen und | |
| nur gelegentlichen Nachtbereitschaften die Rede ist, sieht das in der | |
| Realität oft anders aus. Da muss regelmäßig nach der dementen Patientin | |
| geschaut werden, weil sie sonst in die Küche läuft und aus der Blumenvase | |
| trinkt. Da ruft der frisch operierte Patient ständig aus dem Nebenzimmer, | |
| weil er aus Angst, nie mehr aufzuwachen, nicht einschlafen will. Da muss | |
| beim Weg ins Bad geholfen, der Körper in eine andere Schlafposition | |
| manövriert oder einfach die Hand gehalten werden. | |
| Ein Wohnblock in Litvínov in Nordböhmen, nur etwa 15 Kilometer entfernt von | |
| der deutsch-tschechischen Grenze. Lena Strejčková bittet herein, sie ist | |
| ganz offensichtlich im Freizeitmodus, trägt Leggings und einen weiten | |
| Pulli, auf dem Kopf ein Haarreif mit Hasenohren. Sie und ihre Partnerin | |
| Nadezda Kratinová, die im Wohnzimmer wartet, sind gerade erst zurück von | |
| mehrwöchigen Einsätzen in Deutschland und Österreich. Es ist ein Turnus, | |
| der für sie lange gut funktionierte: Ein paar Wochen Betreuerin sein, dann | |
| eine Woche gemeinsam in Litvínov verbringen. Wenn sie Freizeit haben, | |
| werden sie jeweils von einer anderen Frau vertreten. | |
| Das Paar arbeitet schon seit einigen Jahren in der Seniorenbetreuung, | |
| kennengelernt hat es sich über Social Media. Kratinová sitzt im | |
| Holzfällerhemd auf dem Sofa und macht mit ihrer Kurzhaarfrisur und der | |
| tiefen Stimme einen toughen Eindruck. Bevor die 47-Jährige Betreuerin | |
| wurde, hat sie unter anderem als Security in Bankfilialen gearbeitet. In | |
| ihrer Karriere haben die Frauen um die fünfzig Menschen betreut. „Und | |
| einiges gesehen“, sagt Strejčková. „Schönes und Schlimmes“, sagt Krati… | |
| Sie beide finden: „Es muss sich was ändern!“ | |
| Etwa [2][5,7 Millionen Menschen in Deutschland sind derzeit | |
| pflegebedürftig,] nur etwa 900.000 davon werden in Pflegeheimen betreut. Um | |
| den überwiegenden Anteil der pflegebedürftigen Menschen kümmern sich also | |
| ihre Angehörigen – ein Viertel derer holt sich wiederum Unterstützung durch | |
| ambulante Pflegedienste oder nimmt eine „24-Stunden-Betreuung“ in Anspruch. | |
| Die Pflegeversicherung übernimmt je nach Pflegegrad einen Teil der Kosten. | |
| Menschen aus ehemaligen Ostblockstaaten, überwiegend aus Polen, arbeiten | |
| schon seit Jahrzehnten in deutschen Familien. Doch erst durch die | |
| EU-Osterweiterung und der damit einhergehenden Arbeitnehmerfreizügigkeit | |
| ist daraus eine Industrie geworden. EU-Bürger:innen können seitdem ohne | |
| besondere Arbeitserlaubnis von Privathaushalten beschäftigt werden (das | |
| Angestellten-Modell), darin selbstständig tätig sein (das | |
| Selbstständigen-Modell) oder von ausländischen Unternehmen dorthin entsandt | |
| werden (das Entsende-Modell). Letzteres ist in Deutschland am geläufigsten. | |
| Bei allen drei Modellen können sogenannte Vermittlungsagenturen eine Rolle | |
| spielen. Beim Entsende-Modell helfen diese in Deutschland ansässigen | |
| Vermittlungsagenturen den ausländischen Pflegeunternehmen, für deren | |
| Angestellte einen deutschen Haushalt zu finden. Sie führen vorab Gespräche | |
| mit den Familien, die eine Betreuerin suchen, und ermitteln so, welche | |
| Aufgaben übernommen werden müssen. Was hat der oder die Patient:in für | |
| einen Pflegegrad? Ist die Person dement? Wie mobil ist die Person? Wie | |
| schwer? Verbringt sie den Tag größtenteils lieber alleine oder wünscht sie | |
| sich Gesellschaft? | |
| Die Vermittlungsagentur leitet diese Anforderungen an das Pflegeunternehmen | |
| im Ausland weiter, das dann eine Person entsendet. Einen Vertrag schließt | |
| die Familie mit der Vermittlungsagentur ab, die wiederum einen Vertrag mit | |
| dem ausländischen Partnerunternehmen hat. Angestellt ist die | |
| Betreungsperson nicht bei der Vermittlungsagentur, sondern in ihrem | |
| Herkunftsland, dort werden auch ihre Sozialabgaben abgeführt. Trotzdem gilt | |
| deutsches Arbeitsrecht, also Bezahlung nach Mindestlohn, höchstens 48 | |
| Stunden Wochenarbeitszeit und bezahlter Urlaub. Die Live-ins haben bei der | |
| Vermittlungsagentur außerdem eine Ansprechperson, die bei Problemen | |
| zwischen ihnen und der Familie vermitteln kann. | |
| All das gilt in der Theorie. In der Praxis lässt sich nur schwer | |
| überprüfen, ob deutsches Arbeitsrecht tatsächlich eingehalten wird – | |
| Betreuer:innen also ausreichend Pausen machen oder durchschlafen dürfen. | |
| Denn deren Arbeitsplatz befindet sich in einer hoch privaten, isolierten | |
| Umgebung. Das wiederum begünstige missbräuchliches Verhalten und Gewalt | |
| gegenüber den Live-ins, heißt es beispielsweise [3][in einem Bericht des | |
| Sachverständigenrats für Integration und Migration]. | |
| Die Studie kam 2022 außerdem zu dem Schluss, dass Vermittlungs- und | |
| Entsendeagenturen „oft unseriös“ arbeiten. Absprachen würden demnach häu… | |
| nur informell getroffen, Arbeitsverträge nicht eingehalten oder gar nicht | |
| erst ausgestellt. Auch komme es immer wieder vor, dass Live-ins nicht | |
| abgesprochene Aufgaben übernehmen sollen oder nicht über Erkrankungen der | |
| zu betreuenden Personen informiert werden. | |
| Für Vermittlungsagenturen in Deutschland gibt es keinerlei | |
| Qualitätsstandards und Mindestanforderungen. Dass es sich um einen | |
| lukrativen Markt handelt, zeigt allein das Wachstum. Gab es 2009 nur etwa | |
| sechzig Agenturen, sind es mittlerweile viele hundert. | |
| Auf ihren Websites hingegen können viele dieser Agenturen gar nicht stark | |
| genug betonen, dass wirklich alle Beteiligten in den Pflege-Arrangements | |
| auf ihre Kosten kommen. Illustriert mit Agenturfotos, die junge adrette | |
| Frauen zeigen, die sich an glückliche Omis schmiegen, da ist die Rede von | |
| „Hausengeln“, die 100 Prozent legal, fair und sicher beschäftigt sind. | |
| Kompetent, freundlich, zuverlässig und „in nur drei Tagen verfügbar“. | |
| Nachts in Rufbereitschaft, tagsüber stets gut gelaunt. Alles im Einklang | |
| mit geltendem Recht, Kostenpunkt: ab 2.200 Euro im Monat. | |
| ## „Anything goes“ statt klarer Regelungen | |
| In dem Buch [4][„Gute Sorge ohne gute Arbeit?“] kommen mehrere Arbeits-, | |
| Migrations- und Geschlechterforscher:innen zum Ergebnis, dass in | |
| Deutschland in Sachen „24-Stunden-Pflege“ wegen mangelnder gesetzlicher | |
| Regelungen „anything goes“ gelte. Sie attestieren dem Entsende-Modell eine | |
| Unvereinbarkeit mit dem Arbeitszeitrecht und den damit einhergehenden | |
| Mindestlohnregelungen. Über einer selbstständigen Tätigkeit hänge wiederum | |
| das „Damoklesschwert der Scheinselbstständigkeit“. | |
| Das Angestellten-Modell, bei dem die Privathaushalte zu Arbeitgebern werden | |
| und Formalia wie die Anmeldung bei Sozialversicherungsträgern übernehmen | |
| müssen, gilt gemeinhin als für die Familien extrem bürokratisch und | |
| finanziell aufwändig. Da keine Regulierung in Sicht sei, nehme die Politik | |
| dabei eine „komplizenhafte Haltung des Laissez-faire“ ein, schreibt Ewa | |
| Palenga-Möllenbeck, die an der Goethe-Universität Frankfurt am Main zu | |
| Arbeitsmigration im Bereich der Pflege forscht. | |
| Die Ampelkoalition hatte sich zum Ziel gesetzt, eine „rechtssichere | |
| Grundlage“ in der Live-in-Pflege zu gestalten. In einem [5][im November | |
| veröffentlichten Abschlussbericht] einer Arbeitsgruppe heißt es, man sei | |
| zur Überzeugung gelangt, dass es „kein einfach umsetzbares Konzept“ gebe. | |
| An einer Lösung müsse „noch weitergearbeitet werden“. Eines der größten | |
| Probleme laut diesem Papier ist, dass „ein wesentlicher Teil der | |
| bestehenden Live-In-Verhältnisse dem informellen Segment zuzuzählen“ sei. | |
| In anderen Worten: Sehr viele Betreuungskräfte in Deutschland arbeiten | |
| schwarz. | |
| Lena Strejčková ist gerade erst aus Österreich wiedergekehrt. Nur 80 Euro | |
| am Tag sollte sie dort verdienen, denn die zu betreuende Frau brauchte laut | |
| Vermittlungsagentur angeblich nur wenig Unterstützung, könne laufen, könne | |
| alles machen. „Komme ich da hin, ist die Frau palliativ, die ist kurz vorm | |
| Sterben“, sagt Strejčková und lacht auf. „Sie hat Sauerstoff, Sonde, | |
| Katheter, braucht jeden zweiten Tag Dialyse, hat ein operiertes Herz, | |
| regelmäßige Panikattacken.“ Die Familie habe ihr dann netterweise 10 Euro | |
| mehr am Tag gegeben. | |
| Es ist ein Punkt, den die beiden Frauen an diesem Vormittag immer wieder | |
| ansprechen: Viele Vermittlungsagenturen hätten keine Ahnung, wie es der zu | |
| betreuenden Person wirklich gehe und welche Verhältnisse in deren Häusern | |
| und Wohnungen herrschten. „Oder sie wissen es und entscheiden, das zu | |
| ignorieren.“ Strejčková und Kratinová erzählen von völlig verdreckten | |
| Haushalten, in denen Menschen lebten, die seit Wochen nicht richtig | |
| gewaschen worden seien. Von Bettwanzen, die ihnen nachts die Beine | |
| zerbissen. Nicht alle ihre Geschichten lassen sich überprüfen, doch was die | |
| Frauen aus Litvínov erzählen, ähnelt anderen öffentlich gewordenen | |
| Berichten von Betreuerinnen. | |
| Strejčková und Kratinová sagen, Angehörige würden vor den Agenturen | |
| herunterspielen, was vor Ort tatsächlich zu tun sei. „Verständlich, so | |
| wird’s günstiger“, sagt Lena Strejčková. „Und jetzt stellen Sie sich m… | |
| vor, zu der palliativen Frau kommt eine Pflegerin hin, die keine Erfahrung | |
| hat mit Sauerstoff und so weiter. Das ist gefährlich!“ | |
| Dabei sind Betreuerinnen eigentlich nicht einmal befugt, Medikamente in | |
| Tablettenboxen zu sortieren. Die beiden Frauen können darüber nur lachen. | |
| „Ich hatte diese Patientin in Bayern, die wurde von ungefähr vier | |
| verschiedenen Ärzten behandelt, die ihr vier verschiedene Schmerzmittel | |
| verschrieben haben“, erzählt Lena Strejčková. Die Frau sei völlig apathis… | |
| gewesen, habe weder essen noch trinken wollen. Strejčková habe die Familie | |
| darauf aufmerksam gemacht, dass die Frau Medikamente bekomme, die nicht | |
| zusammenpassten. | |
| „Da sagt einer der Ärzte ganz anerkennend zu mir, toll, Sie sind ja ein | |
| Profi“, sagt Strejčková, und man merkt, dass es sie immer noch stolz macht. | |
| Nach der Umstellung habe die Seniorin plötzlich wieder Lust auf Kaffee und | |
| Kuchen gehabt. Für Strejčková sei das einer der schönsten Momente als | |
| Betreuerin gewesen. „Wir haben gelernt, Packungsbeilagen zu studieren und | |
| nachzuprüfen“, sagt auch Nadezda Kratinová. „Sonst können das | |
| Todescocktails werden.“ | |
| Ihnen ist bewusst, dass sie sich strafbar machen könnten, wenn sie mit | |
| Sauerstoffgeräten, Magensonden und Medikamentenpackungen hantieren und | |
| dabei etwas schiefgeht. „Aber was ist die Alternative?“, entgegnet Lena | |
| Strejčková. „Den Leuten ihre Medikamente oder etwas zu essen verweigern?“ | |
| Dabei haben beide in der Vergangenheit die Erfahrung gemacht, dass sich | |
| ihre Ansprechpartner wegducken, wenn es ernst wird. | |
| Nadezda Kratinová zum Beispiel wurde bei einem ihrer ersten Einsätze | |
| vorgeworfen, falsche Medikamente verabreicht zu haben. Der Patient war ins | |
| Krankenhaus eingeliefert worden und sie soll Schuld gewesen sein. Laut | |
| Kratinová habe aber die Tochter Hoheit über die Medikamente gehabt. Sie | |
| suchte Hilfe bei der deutschen Vermittlungsagentur, dort wurde ihr gesagt: | |
| „Nadja, wenn du Probleme mit der Polizei hast, dann nehmen wir die Hände | |
| weg.“ Die Person von der Vermittlungsagentur habe der Polizei gegenüber | |
| später sowohl verneint, eine Nadezda zu kennen, als auch überhaupt eine | |
| Agentur zu haben. | |
| Die Familie habe schlussendlich die Vorwürfe zurückgezogen, ihr Geld für | |
| den letzten der drei Monate habe sie allerdings nie bekommen. Die taz hat | |
| die Agentur mit den Vorwürfen konfrontiert, eine Stellungnahme blieb aus. | |
| ## Entlastung für die Pflegeversicherung | |
| Fragt man Frederic Seebohm, Vorsorgeanwalt und Vorsitzender des | |
| Bundesverbands für häusliche Betreuung und Pflege (VHBP), dann werde im | |
| Bereich der „24-Stunden-Betreuung“ einiges ziemlich aufgebauscht. „Das ist | |
| ganz normale Angehörigenpflege, die die Betreuungspersonen aus Osteuropa | |
| leisten“, sagt er der taz am Telefon. „Dafür braucht es keine langjährige | |
| Ausbildung, das könnten wir beide auch für unsere Eltern tun.“ Seriöse | |
| Vermittler würden unter keinen Umständen medizinische Dienste anbieten, die | |
| Haftungsrisiken seien zu hoch. | |
| Für die „24-Stunden-Betreuung“ seien die Pflegeversicherungen jedenfalls | |
| sehr dankbar, denn sie sparten damit hohe Kosten für stationäre Pflege, | |
| meint Seebohm. Im VHBP sind 41 deutsche Vermittlungsagenturen organisiert, | |
| die sich, so Seebohm, von der deutschen Politik endlich klare Verhältnisse | |
| wünschen. Denn im Bereich der „24-Stunden-Pflege“ habe man es durch die | |
| mangelnde Regulierung mit einem unfairen Wettbewerb zu tun, und das mache | |
| keine Freude. „Die Regierung ist in der Lage, die gesamte | |
| Energieinfrastruktur unseres Landes umzustülpen, aber für die mehreren | |
| Hunderttausend Frauen aus Osteuropa, die im Laufe eines Jahres nach | |
| Deutschland migrieren, Rechtssicherheit herzustellen, das schafft sie | |
| nicht?“ | |
| Entweder müsse man den Mut haben zu akzeptieren, dass das klassische | |
| Arbeitsrecht sich mit der „24-Stunden-Betreuung“ nicht vereinbaren lasse, | |
| „oder man muss sie eben verbieten und sagen, wir bauen jetzt hier große | |
| Hallen auf, da werden die rund 300.000 alten Menschen untergebracht, die | |
| bisher von osteuropäischen Betreuungspersonen versorgt werden“. Seiner | |
| Meinung nach gebe es genug Lösungen, „aber die Regierung will es einfach | |
| nicht regeln“. Weil das System, so wie es ist, für deutsche Haushalte, die | |
| Pflegekassen und die Sozialhilfeträger viel kostengünstiger funktioniere. | |
| Würde man versuchen, es mit geltendem Arbeitsrecht in Einklang zu bringen, | |
| „dann explodiert es“. | |
| Seebohm geht der „Fokus auf die bösen Vermittlungsagenturen“ merklich auf | |
| den Keks. Das Problem seien seiner Meinung nach vielmehr diejenigen, die | |
| sich die Betreuung für ihre Familie über Facebook einfach selbst | |
| organisieren. Wenn es nach ihm ginge, hätte Deutschland längst das | |
| „elegante Modell“ der Österreicher:innen übernommen. Dort wird vor | |
| allem auf Selbstständigkeit der Betreuungspersonen gesetzt. | |
| Natürlich könne man das so machen wie in Österreich, sagt Bernadett Petö. | |
| „Aber dann haben die Betreuerinnen hier eben überhaupt keinen | |
| arbeitsrechtlichen Schutz mehr. Kein Recht auf bezahlten Urlaub, auf | |
| Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, auf Mindestlohn, nicht mal ein Recht auf | |
| begrenzte Arbeitszeiten. Ich finde das nicht gut.“ | |
| Petö arbeitet beim Beratungsnetzwerk Faire Mobilität des Deutschen | |
| Gewerkschaftsbunds und berät dort Menschen aus Ost- und Mitteleuropa, die | |
| in der häuslichen Betreuung arbeiten. Gemeinsam mit ihren Kolleg:innen | |
| veranstaltet sie beispielsweise virtuelle Treffen, in denen | |
| Betreuer:innen über ihre Rechte aufgeklärt werden sollen und | |
| gleichzeitig die Möglichkeit bekommen, sich untereinander zu vernetzen. | |
| Faire Mobilität war außerdem beteiligt [6][am Fall einer bulgarischen | |
| Betreuerin], die vor Gericht gefordert hatte, auch für ihre | |
| Bereitschaftszeiten entlohnt zu werden. Die Frau hatte nachweisen können, | |
| dass sie tatsächlich rund um die Uhr im Einsatz war. Das | |
| Bundesarbeitsgericht gab ihr recht. Für jede ihrer Arbeitsstunden gelte der | |
| Mindestlohn. | |
| „Dobrina hat das Geld aber zwei Jahre später immer noch nicht erhalten“, | |
| sagt Bernadett Petö. Denn auszahlen muss es die ausländische Agentur, bei | |
| der sie angestellt war, und die ist insolvent. Trotzdem hätte das Urteil | |
| Strahlkraft in die Branche gehabt: „Viele Betreuerinnen haben sich im | |
| Anschluss bei uns gemeldet und nachgefragt, was genau das eigentlich | |
| bedeutet, dass sie entsandt sind, worauf sie achten müssen und wie sie ihre | |
| Rechte durchsetzen können.“ | |
| Immer wieder würden sie die Erfahrung machen, dass Ansprechpersonen von | |
| Vermittlungsagenturen sie einfach dauerhaft ignorieren oder die | |
| wahnwitzigsten Begründungen finden, ihnen Vertragsstrafen anzudrohen, sagen | |
| die beiden Frauen im Wohnzimmer in Litvínov. „Erzähl die Geschichte vom | |
| Nazi“, sagt Lena Strejčková in Richtung ihrer Freundin. | |
| Nadezda Kratinová räuspert sich. Noch nicht lange her, da sei sie bei einer | |
| Familie in Süddeutschland im Einsatz gewesen, „sehr reich, sehr | |
| intelligent, sehr großes Haus“, erzählt sie. „Aber es war dort wie im | |
| Knast.“ Jedes Mal, wenn sie an den Kühlschrank wollte, habe sie den Herrn | |
| des Hauses um Erlaubnis bitten müssen. Morgens und abends gab es je nur | |
| eine Scheibe Brot, ohne Butter, weil man das in dieser Familie so machte. | |
| Eigentlich sei sie zur Betreuung der Frau eingestellt worden, aber der Mann | |
| habe sie ständig zur Gartenarbeit aufgefordert oder sie die Küchenschränke | |
| ausräumen lassen. | |
| Während sie erzählt, gibt ihre Lebensgefährtin zu verstehen, dass sie es | |
| nicht fassen kann, dass Kratinová das mit sich hat machen lassen. Einmal, | |
| führt Nadezda Kratinová fort, habe sie Karotten an der Brotschneidemaschine | |
| schneiden sollen und sich dabei am Finger verletzt. Nur ein einziges | |
| Pflaster habe sie von der Familie bekommen, obwohl es im Haushalt mehr | |
| davon gab. „Und dann sollte sie mit der kaputten Hand und im Regen die | |
| Fenster putzen. Was für ein Schmarrn“, sagt Strejčková. | |
| Der Mann habe sie außerdem immer wieder rassistisch und homophob beleidigt. | |
| Andere Betreuerinnen, die in derselben Familie tätig waren und mit denen | |
| sich Kratinová im Anschluss vernetzte, soll er aufgefordert haben, ihre | |
| Brüste zu zeigen. „Nach elf Tagen habe ich der Agentur gesagt, dass ich | |
| gehen will“, sagt Kratinová. „Und ich habe ihnen vorgeworfen, dass sie mich | |
| dahin geschickt haben, obwohl sie von seinen Einstellungen wussten, und | |
| auch wussten, dass ich lesbisch bin.“ Daraufhin habe die Agentur gesagt, | |
| wenn sie gehe, bekomme sie nur einen Bruchteil des Lohns, der ihr | |
| eigentlich für den Zeitraum zustehen würde. | |
| Nadezda Kratinová reiste trotzdem vorzeitig ab, das ausstehende Geld für | |
| den Monat hat sie nie bekommen. Die beiden Frauen hatten überlegt, vors | |
| Arbeitsgericht zu ziehen, es dann aber doch sein lassen. Zeitlich und | |
| finanziell wäre das einfach zu aufwändig. Die taz hat der Agentur | |
| Gelegenheit gegeben, zu diesem Fall Stellung zu nehmen. Eine Rückmeldung | |
| blieb aus. | |
| Eine Frage liegt nahe: Warum tun sie sich das an? | |
| Beide betonen sie, dass ihnen der Job sehr liegt und sie keine | |
| Berührungsängste mit anderen Menschen haben. Nachdem ihr Sohn zur Welt kam, | |
| hat Lena Strejčková eine Physiotherapieausbildung gemacht, eigentlich | |
| wollte sie mal Krankenschwester werden. Die meiste Zeit ihres Lebens hat | |
| sie dann jedoch als Grundschullehrerin gearbeitet, und mit dem Job sehr | |
| viel weniger verdient als in der „24-Stunden-Betreuung“ in Deutschland. | |
| Deswegen beschloss sie vor fünf Jahren, es zu probieren. | |
| Nadezda Kratinová war schon an so manchen Orten beruflich tätig: im | |
| Restaurant, beim Metzger, in einem Security-Unternehmen, beim Bestatter. | |
| „Ich komme mit Krankheiten klar und ich komme mit den Körpern anderer | |
| Menschen klar. Und in Deutschland verdient man einfach schönes Geld.“ Als | |
| sie das erste Mal 1.000 Euro bekommen hätte, habe sie gedacht „Jipppieeeh“. | |
| „Bis mir dann jemand gesagt hat, dass ich diesen Job nicht für unter 2.000 | |
| Euro netto machen sollte.“ | |
| Etwas weniger als 2.000 Euro netto verdient seit ein paar Jahren Soña | |
| Hrnčírová im Haushalt eines wohlhabenden Mannes, den sie nur „den Opa“ | |
| nennt. Aber das sei okay, denn im Grunde würden die beiden wie in einer | |
| gleichberechtigten Wohngemeinschaft zusammenleben. | |
| Die 53-jährige großgewachsene Frau sitzt in einem Café in einer Kleinstadt | |
| am Niederrhein und lässt vor lauter Erzählen ihren Latte Macchiato kalt | |
| werden. Die Gemeinde liegt unweit der niederländischen Grenze und ist über | |
| tausend Kilometer entfernt von Hrnčírovás Geburtsort Modra in der Slowakei. | |
| Dort und in der Nähe von Prag, wo sie die meiste Zeit ihres Lebens | |
| verbrachte, lebt Soña Hrnčírovás Familie. Mittlerweile hat sie aber keinen | |
| Wohnsitz mehr in Tschechien, sie verbringt immer drei Monate am Stück beim | |
| „Opa“, dann zwei Wochen bei ihrem inzwischen erwachsenen Sohn. | |
| ## Es gibt solche und solche Männer | |
| Seit 2015, nachdem sie als Chefin eines Supermarktes einen Burn-out erlitt | |
| und viele Monate krankgeschrieben war, arbeitet sie in der | |
| „24-Stunden-Betreuung“ in Deutschland. Eine Freundin schlug ihr damals vor, | |
| es mal zu probieren. | |
| „Ich habe in den fast zehn Jahren überwiegend gute Erfahrungen gemacht“, | |
| sagt Soña Hrnčírová. Sie hofft, dass ihr 90-jähriger Patient „noch 15 Ja… | |
| lebt“, denn sie genießt es sehr bei ihm und hat sich am Niederrhein ein | |
| eigenes soziales Umfeld aufgebaut. Mit ihren Freundinnen geht sie | |
| regelmäßig in die Sauna, ins Solarium oder macht andere „Frauensachen“. | |
| Für den „Opa“ hat Soña Hrnčírová zwei ihrer eigentlich eisernen Prinzi… | |
| gebrochen. Erstens: Nie wieder einen Mann betreuen. Zweitens: Niemals | |
| Patient:innen auf den Friedhof begleiten. „Ich habe ein großes Problem | |
| damit, mehrmals die Woche die Gräber fremder Angehöriger zu besuchen“, sagt | |
| sie. Ihr Vater sei 2012 gestorben und sie habe so weit von Zuhause entfernt | |
| keine Möglichkeit, zu ihm auf den Friedhof zu gehen. Mit der Frau des | |
| „Opas“, deren Grab sie gemeinsam mit ihm pflegt, ist es aber etwas anderes. | |
| Denn bevor sich Hrnčírová um den Mann kümmerte, war sie für dessen Frau | |
| zuständig. Einer ihrer härtesten Einsätze, denn „Louise hatte die schwerste | |
| Demenz, die ich jemals gesehen habe“, erzählt sie. | |
| Hrnčírová habe ihr nonstop hinterherlaufen müssen, denn die alte Frau habe | |
| so gut wie nie geschlafen, sei ständig zu ihr ins Zimmer gerannt und habe | |
| Zuwendung eingefordert. „Manchmal hat sich das angefühlt, als wäre ich 26 | |
| Stunden am Stück wach gewesen.“ | |
| Soña Hrnčírová schlug der Schlafentzug irgendwann auf die Psyche, sie | |
| fühlte sich unglücklich, fahrig, ließ ständig Dinge fallen. Immerhin | |
| verdiente sie damals noch knapp dreimal so viel wie heute, aber das Geld | |
| tröstete auch nicht hinweg über die Dunkelheit, die sie oft spürte. Damals | |
| vermisste sie ihr Zuhause noch mehr als sonst. Normalerweise weinte sie auf | |
| der Rückfahrt nach Deutschland nur bis zur Grenze, nun auch manchmal | |
| darüber hinaus. | |
| Als Louise starb, sei das trotzdem hart gewesen. Soña Hrnčírová beteuert, | |
| sich trotz allem sehr gerne um sie gekümmert zu haben. Hrnčírová war Teil | |
| der Familie geworden. Und so bat „der Opa“ sie, zu bleiben. Er könne nicht | |
| mehr ohne sie. | |
| Die beiden haben ein so inniges Verhältnis miteinander, dass sie sogar | |
| während Soña Hrnčírovás zweiwöchiger Auszeit jeden zweiten Tag miteinander | |
| telefonieren. Im Juli sind sie gemeinsam in die Slowakei gefahren, weil | |
| „der Opa“ ihre Familie kennenlernen wollte. „Normalerweise kann er maximal | |
| bis 23 Uhr wach bleiben, aber dort … 2 Uhr!“, sagt Hrnčírová. | |
| Auch wenn sie manchmal zanken oder über Politik diskutieren: „Besser als | |
| mit dem Opa geht’s nicht!“ Dabei war sie lange der Überzeugung, dass Männ… | |
| nur von Männern gepflegt werden sollten. Was sie zu ihrem früheren Prinzip | |
| Nummer 1 bringt: „Nie wieder einen Mann betreuen.“ | |
| Vor ein paar Jahren bekam Soña Hrnčírová von ihrer damaligen Agentur einen | |
| Mann vermittelt, der sich ihr gegenüber immer und immer wieder entblößte. | |
| „Er war Anfang 60, nach einem Unfall im Rollstuhl, aber er hatte ein gutes | |
| Gehirn und wusste genau, was er tut.“ Bei jeder Gelegenheit habe er seinen | |
| Penis rausgeholt, und sexuelle Anspielungen gemacht. Auch in der | |
| Öffentlichkeit, eine Decke auf seinem Schoß, darunter die offene Hose. Wenn | |
| sie sich zu ihm runterbeugte, um ihn in den Treppenlift zu verfrachten, | |
| wenn sie sein Abendessen hinstellte, wenn sie ihn durch den Supermarkt | |
| schob. „Und dann musste ich ihn natürlich auch waschen, das war so | |
| peinlich, das war sehr, sehr schwer für mich.“ | |
| Hrnčírová erzählte ihrer Agentur von dem Verhalten des Mannes. Dort hieß | |
| es, man habe da schon Beschwerden gehört, aber der Mann ziehe sich ja nur | |
| die Hose runter, er tue ja nichts. Wenn sie jetzt ginge, sagte man ihr, | |
| müsste sie eine Strafe zahlen. Hrnčírová schlief in dieser Zeit immer | |
| wieder im Auto, sie hatte Angst und sie schämte sich. Nach drei Monaten | |
| warf sie hin. | |
| Dieser Mann und die „Hexe“ seien ihre demütigendsten Einsätze bisher | |
| gewesen. Die Geschichte von der „Hexe“ ähnelt Nadezda Kratinovás Geschich… | |
| vom „Nazi“. Rationiertes Essen, ständige Zurechtweisungen, „Verhalten wie | |
| ein General“. Jedes Mal, wenn Hrnčírová das Wort „Hexe“ sagt, senkt sie | |
| ihren Blick und ihre Stimme, wie aus Sorge, die Leute am Nachbartisch | |
| könnten sie hören. „Aber wenn jemand nicht nett zu mir ist, dann bin ich es | |
| auch nicht.“ Sie habe der „Hexe“ entgegnet, dass sie essen müsse, um | |
| arbeiten zu können, und dass sie nicht fürs Fensterputzen bezahlt werde. | |
| Und dann habe sie eben gekündigt. | |
| Und es sei ja nun mal wirklich so, dass in ihrem Job das Schöne überwiege. | |
| Die alte, feine Dame, die sich immer noch täglich schminkte und so was wie | |
| eine Großmutter für sie wurde. Oder die Familie, die ihr nach dem Tod der | |
| Patientin deren alten Ford Fiesta schenkte. Und jetzt eben der Opa, der | |
| bitte mindestens 105 Jahre alt werden möge. Denn das ist natürlich auch so | |
| ein Thema: Sterben, Tod und Trauer. „Man verbringt teilweise Jahre mit | |
| diesen Menschen, rund um die Uhr, kennt sie in- und auswendig. Wenn die | |
| sterben, dann ist das hart.“ | |
| Da war zum Beispiel diese Frau, bettlägerig seit Jahren, die nicht mehr | |
| sprach, aber noch sang und der bei romantischen Filmen die Tränen kamen. | |
| Die röchelte jede Nacht und dann eines Nachts eben nicht mehr. Soña | |
| Hrnčírová traute sich am nächsten Morgen nicht, ihr ins Gesicht zu schauen, | |
| sie fummelte an den Vorhängen rum, wünschte ihr mit klopfendem Herzen einen | |
| guten Morgen, fragte in die Stille hinein, wie sie denn geschlafen hätte, | |
| und zwang sich dann irgendwann, den Kopf in ihre Richtung zu drehen. „Ich | |
| war fix und fertig.“ | |
| Bei Nadezda Kratinová hätte die Trauer einmal fast dazu geführt, dass sie | |
| das mit der „24-Stunden-Betreuung“ ein für alle mal sein lässt. Und zwar | |
| wegen Inge, Schlaganfallpatientin, die sie oft dick einpackte und zu | |
| Veranstaltungen wie dem Schützenfest schob. „Nadja, du bist der beste | |
| Mensch!“, habe Inge dann immer gesagt. Irgendwann wollte Inge morgens nicht | |
| mehr aufstehen, sie weigerte sich, zu essen und zu trinken. „Einen Monat | |
| lang musste ich täglich raten, was sie braucht“, erzählt Kratinová. Mit | |
| einer Spritze gab sie ihr Flüssigkeit in den Mund, wich ihr nicht von der | |
| Seite. Bis sie dann doch mal ein Wochenende bei ihrer damaligen Partnerin | |
| verbrachte und zur Mittagszeit der Anruf kam. „Ich habe so geweint. Inges | |
| Sohn musste mich trösten.“ | |
| ## Auch Psychologinnen müssen sie sein | |
| Kratinová fuhr zurück zu Inge, saß abends mit Familienmitgliedern zusammen, | |
| die sie immer wieder fragten: „Nadja, erzählst du uns was von unserer | |
| Mutter?“ Als alle weg waren, wusch sie Inge, machte sie fertig für den | |
| Bestatter. „Die Familie hat mich dann noch gefragt, ob ich zwei Wochen | |
| länger bleiben kann, weil sie alle noch mal mit mir über Inge sprechen | |
| wollten. Ich war so erschöpft, so leer“, sagt Kratinová. „Sie musste noch | |
| Psychologin sein!“, ruft Lena Strejčková aus. „Aber das ist normal. Wir | |
| müssen immer auch noch Psychologin sein.“ | |
| Der Wissenschaftlerin Ewa Palenga-Möllenbeck ist es wichtig zu betonen, | |
| dass auch die deutschen Familien es nicht unbedingt leicht haben in diesem | |
| „sehr unübersichtlichen Feld der 24-Stunden-Betreuung“. Es gäbe da „so | |
| viele Akteure, dass keiner den Überblick hat und ganz bestimmt nicht die | |
| Angehörigen, die neben ihrem Job die Betreuung eines Familienmitglieds | |
| organisieren müssen“, sagt sie. | |
| Palenga-Möllenbeck ist aktuell beteiligt an einem Forschungsprojekt, das | |
| sich unter anderem mit Folgen für die Herkunftsländer der Pflegenden | |
| befasst. Denn die Abwanderung von Betreuungspersonen in andere Länder reißt | |
| natürlich Lücken in Pflegesysteme vor Ort. Das kann zu Überlastung von | |
| Familienangehörigen und verfestigten Geschlechterrollen führen und | |
| sogenannte transnationale „Care-Ketten“ zementieren: So übernahmen auch | |
| schon vor dem russischen Angriffskrieg überwiegend ukrainische Frauen | |
| Care-Jobs in Polen, weil vor Ort die einheimischen Betreuungspersonen | |
| fehlen – denn die sind in Deutschland. Die Ukrainerinnen fehlen dann | |
| wiederum in ihrem Heimatland. | |
| Ein Ergebnis des Forschungsprojekts soll auch sein, für deutsche Familien | |
| eine Reihe an Empfehlungen zusammenzustellen, worauf sie bei der Suche nach | |
| einer Betreuerin achten müssen. Ist die Betreuerin selbstständig, sollte | |
| man beispielsweise prüfen, dass sie mehrere Patient:innen hat, weil | |
| sonst eine Nachzahlung von Sozialbeiträgen droht. Ist die Betreuerin | |
| entsendet, sollte sie eine A1-Bescheinigung mit sich führen, die bestätigt, | |
| dass sie im Entsendeland sozialversichert ist. „Außerdem ist wichtig, dass | |
| die Verträge transparent sind. Welche Gebühren fallen für die deutsche und | |
| die ausländische Agentur an, welchen Anteil bekommt die Betreuerin?“ Die | |
| Gesamtkosten müssten sich im Schnitt auf mindestens 2.800 Euro belaufen. | |
| Ewa Palenga-Möllenbeck stößt bei ihrer Forschung immer wieder auf Dinge, | |
| die ihr Hoffnung machen. Beispielsweise sei da diese eine polnische | |
| Agentur, die Betreuerinnen vor ihrer Entsendung Kurse zu | |
| Arbeitnehmerrechten anbietet und nun auch Workshops zu interkultureller | |
| Bildung in ihr Programm aufnehmen wolle. Die versuche, das Maximum an ihre | |
| Angestellten auszubezahlen. „Wir sehen diese Tendenzen oft: Agenturen, die | |
| sich selbst regulieren, sich selbst Standards setzen, weil es sonst niemand | |
| macht.“ | |
| Das haben sich nun auch Lena Strejčková und Nadezda Kratinová vorgenommen. | |
| Sie beide wollen jeweils noch einen Einsatz absolvieren und dann ihr | |
| eigenes Pflegeunternehmen aufmachen. „Ich habe langsam genug davon, nicht | |
| mein eigenes Leben zu leben“, sagt Strejčková. „Ich kann nicht mehr, ich | |
| bin müde“, sagt Kratinová. Beide wollen sie mehr Zeit haben für Strejčkov… | |
| 16-jährigen Sohn. | |
| Was die beiden sich für ihr eigenes Unternehmen vorstellen? „Pflegerinnen, | |
| die nichts können, werde ich nicht einstellen“, sagt Strejčková. Zu oft | |
| habe sie in den vergangenen Jahren unhaltbare Zustände vorgefunden, wenn | |
| sie nach Urlauben in Litvínov an ihren Einsatzort zurückgekehrt sei. Viele | |
| Betreuer:innen würden den Job herzlos erledigen, klauen, alles dreckig | |
| hinterlassen. | |
| Und, am wichtigsten: Strejčková wolle sich vorab unbedingt ein Bild machen | |
| vom Gesundheitszustand des Patienten und den Begebenheiten im Haushalt – | |
| unabhängig von der deutschen Vermittlungsagentur. Keine bösen | |
| Überraschungen mehr. Damit für ihre Angestellten die Momente, in denen | |
| alles einen Sinn ergibt, überwiegen. | |
| Redaktionelle Mitarbeit: Ester Klimecká | |
| 12 Jan 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Leonie Gubela | |
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