| # taz.de -- Hannovers Oberbürgermeister hält durch: Last Man Standing | |
| > Seit dem Amtsantritt hat Hannovers grüner Oberbürgermeister Belit Onay | |
| > fast nur mit Krisen und Rückschlägen zu kämpfen. Aufgeben will er aber | |
| > nicht. | |
| Bild: Glaubt felsenfest an die Veränderungsbereitschaft der Bürger:innen: Bel… | |
| Hannover taz | Es hat bestimmt bequemere Jahre gegeben für einen | |
| Oberbürgermeister der Stadt Hannover. Als Belit Onay 2019 in dieses Amt | |
| gewählt wurde, war das aus mehreren Gründen eine Sensation. Er war der | |
| erste grüne Oberbürgermeister mit türkischen Wurzeln einer deutschen | |
| Landeshauptstadt. | |
| In einer Stadt, die zuvor mehr als 70 Jahre lang von der SPD regiert wurde, | |
| bis die [1][elende Rathausaffäre um unzulässige Gehaltszulagen] dem ein | |
| Ende machte. Schon damals deutete sich an, dass das kein leichtes Erbe | |
| würde. Die waidwunde SPD litt am Verlust ihres Machtzentrums, die | |
| Regierungskoalition, die damals noch aus Grünen, SPD und FDP bestand, galt | |
| als wackelig. | |
| Der nicht einmal 40-jährige Onay konnte zwar einiges an politischer, aber | |
| wenig an Verwaltungserfahrung vorweisen. Dann folgten Schlag auf Schlag die | |
| hinlänglich bekannten Großkrisen. Schon kurze Zeit nach der Amtskette bekam | |
| Onay die erste FFP2-Maske überreicht. Jetzt musste er eine ohnehin | |
| aufgeriebene Verwaltung über Videokacheln führen. | |
| Ausnahmezustand folgte auf Ausnahmezustand, die [2][Coronapandemie war kaum | |
| überwunden], da kamen die Ukraineflüchtlinge, die Energiekrise, dazu eine | |
| Haushaltslage, die ständig zu Einsparungen zwang, wo man sie lieber | |
| gelassen hätte. | |
| ## Bemerkenswert resilient | |
| Von der Aufbruchstimmung, die ihn ins Amt befördert hatte, dem historischen | |
| Höhenflug der Grünen, der Phase, in der [3][Fridays for Future noch wie die | |
| größte Jugendbewegung der vergangenen Jahrzehnte aussah], blieb nicht viel | |
| übrig. Genauso wenig wie von dem Projekt, das zu seinen zentralen | |
| Wahlversprechen gehört hatte: der autofreien Innenstadt. | |
| Die benutzte die SPD im November 2023, um die ungeliebte grün-rote | |
| Koalition, auf die man sich nach der Kommunalwahl 2021 eingelassen hatte, | |
| aufzukündigen. Seither scheint es oft, als wäre man hauptsächlich damit | |
| beschäftigt, dem Oberbürgermeister Knüppel zwischen die Beine zu werfen. | |
| Das wären an sich schon genug Gründe, die Brocken hinzuwerfen, sich in den | |
| Burn-out zu verabschieden oder zumindest das Ende der Amtszeit 2026 | |
| herbeizusehnen. Aber Belit Onay macht einfach weiter. Erklärt sogar, er | |
| wolle wieder antreten. Er ist ja noch nicht fertig. Diese bemerkenswerte | |
| Resilienz musste er allerdings von Anfang an mitbringen. Schon die ersten | |
| Tage waren eine emotionale Achterbahnfahrt, wie er das gelegentlich | |
| beschreibt. | |
| Am Sonntagabend steht er noch im warmen Applaus auf der Rathaustreppe und | |
| kann es nicht recht fassen. Als er am nächsten Morgen sein Handy anmacht, | |
| fluten Hassbotschaften herein. Selbst der österreichische | |
| [4][Rechtsextremist Martin Sellner] hat seine Wahl kommentiert, | |
| „Islamisierung und Untergang des Abendlandes“ quakt das Netz, die | |
| virtuellen Trollarmeen marschieren los, wenig später stehen zwei Beamte vom | |
| Staatsschutz vor Onays Wohnungstür. | |
| ## „Machen Sie was draus“ | |
| Als er sich am Dienstag nach der Wahl auf den Weg zu seinem alten | |
| Arbeitsplatz, dem Landtag, macht, spricht ihn an der Fußgängerampel eine | |
| Frau an, erzählt Onay. „Sind Sie nicht der neue Oberbürgermeister?“ Und er | |
| schildert, wie er zögert, versucht sie einzuordnen, sich innerlich wappnet. | |
| Doch als er nickt, sagt sie: „Ich habe Sie zwar nicht gewählt, aber super, | |
| dass Sie es geschafft haben, machen Sie was draus.“ | |
| In dieser Anekdote stecken gleich mehrere Dinge, die für sein Erleben | |
| zentral sind. Da ist zum einen die leidige Frage nach seiner Herkunft. In | |
| seiner Kindheit in Goslar habe die keine große Rolle gespielt, erzählt er. | |
| Klar habe man gewusst, dass in dieser oder jener Familie noch eine andere | |
| Sprache gesprochen wird, andere Gerichte gegessen. Aber das war eher | |
| nebensächlich. | |
| Und dann kam Solingen, der Brandanschlag von Neonazis, der im Mai 1993 fünf | |
| Menschen das Leben kostete. Er erinnere sich genau an die Diskussionen zu | |
| Hause, sagt Onay. Die besorgten Anrufe der Tante aus der Türkei, die Angst | |
| seiner Mutter. Auch damals standen Polizisten in der Tür des elterlichen | |
| Restaurants. Das „Mamaris“ war eine gute Adresse in Goslar, zentral | |
| gelegen, hübsches Fachwerk. Es wäre allerdings vielleicht auch die erste | |
| Adresse gewesen, wenn man einen Brandanschlag plante. Die Familie wohnte | |
| oben drüber. | |
| Auch bei der [5][aktuellen Migrationsdebatte] denkt er immer mal wieder. | |
| „Das hatten wir doch alles schon einmal, in den 1990ern.“ Damals waren es | |
| Gutscheine, heute ist es die Bezahlkarte. Auch deshalb lässt er bei diesem | |
| Thema nicht locker, äußert sich in Talkshows und Nachrichtensendungen, auch | |
| wenn dann jedes Mal wieder eine Hasswelle ins Postfach schwappt. | |
| „Wenn ich mich bei diesem Thema wegducke, habe ich für meine Kinder ja | |
| nichts besser gemacht. Wir wissen doch, dass das nichts bringt, außer | |
| bürokratischem Irrsinn, der Integration erschwert.“ | |
| Aber dann gibt es ja auch noch Menschen wie die unbekannte Frau an der | |
| Ampel. Die sind ein weiteres Leitmotiv, wenn man mit Belit Onay redet. Er | |
| ist felsenfest überzeugt, dass die Menschen in dieser Stadt viel weiter, | |
| klüger, großherziger und veränderungsbereiter sind, als mancher in der | |
| Lokalpolitik ihnen das zutraut. | |
| So erlebt er jedenfalls die Debatten um sein zweites Lieblingsthema, die | |
| Verkehrspolitik, immer wieder. Auch deshalb will er hier weiter ausloten, | |
| was eben gerade noch geht, mit der Deutschlandkoalition aus SPD, CDU und | |
| FDP, die jetzt im Rathaus gegen ihn anregiert. | |
| Die Kraft dazu gebe ihm die Familie, sagt er. Wenn er eine Spielecke im | |
| Dienstzimmer einrichtet, Elternteilzeit nimmt oder Zeiten im Terminkalender | |
| blockt, um die Kinder von der Kita abzuholen oder am Rande eines | |
| Fußballfeldes zu stehen, dann ist das „reiner Egoismus“, behauptet er. | |
| Jedenfalls lässt er sich dabei nicht fotografieren wie andere Politiker. | |
| Familie und Freunde sind sein Gegengewicht, er achtet sorgsam darauf, dass | |
| sich diese beiden Wirkungskreise kaum überschneiden. Wer ihm wirklich Übles | |
| will, streut das Gerücht, seine Frau Derya habe ihn verlassen und die | |
| Kinder mitgenommen. „Alles Quatsch“, sagt er ärgerlich. | |
| Möglicherweise schützt ihn genau dieses klare Rollenverständnis, die | |
| Trennung zwischen dem privaten und dem [6][politischen Ich]. Der betont | |
| ruhige, betont sachliche Onay wirkt wie jemand, der wenig persönlich nimmt | |
| – oder es sich zumindest nicht anmerken lässt. | |
| ## Chef im elterlichen Restaurant | |
| Das habe vielleicht auch mit seinem Aufwachsen zu tun, erklärt er, wenn man | |
| ihn darauf anspricht. Als Sohn des Chefs hat er im elterlichen Restaurant | |
| früh gelernt, Verantwortung zu übernehmen, Entscheidungen zu treffen, bei | |
| unterschiedlichsten Gästen den richtigen Ton zu treffen. Zugleich war immer | |
| klar, wer hier Koch, Kellner, Kunde ist. | |
| Mit regelmäßigen Townhall-Meetings, Bürgerversammlungen in den | |
| unterschiedlichen Stadtbezirken, versucht er immer wieder, Präsenz zu | |
| zeigen, Politik zu erklären, zu zeigen, dass er auch all die anderen | |
| Probleme auf dem Schirm hat und beackert – von der Müllverbrennungsanlage | |
| in Misburg bis zur Jugendarbeit in der Nordstadt. | |
| Doch oft spürt man dabei die wachsende Ungeduld. Kommunale | |
| Entscheidungsprozesse sind zäh, kleinteilig, langwierig. Bürger finden oft, | |
| dass alles, was sie betrifft, schon vorgestern hätte erledigt sein müssen. | |
| Ohne eigene Mehrheit im Rat werden die Spielräume für den Oberbürgermeister | |
| zunehmend enger. | |
| Seine Befürworter beschwören, es bewege sich endlich etwas in der Stadt, | |
| verweisen auf neu bespielte öffentliche Plätze, Kultur- und Sportevents, | |
| die vorangetriebene Digitalisierung der Verwaltung, einen anderen, | |
| moderneren Führungsstil. Seine Gegner zeigen auf die vielen ungelösten | |
| Probleme, das wachsende Elend auf den Straßen der Innenstadt, das sich | |
| verschlechternde Sicherheitsgefühl, immer noch nicht erfolgte | |
| Schulsanierungen. | |
| Schwer zu sagen, was am Ende an der Wahlurne den Ausschlag geben wird. Aber | |
| bis dahin muss er ja auch noch eine ganze Weile durchhalten. Erst 2026 wird | |
| in Hannover wieder gewählt. | |
| 4 Jan 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Nadine Conti | |
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