# taz.de -- Ein Bürgermeister gibt auf: Politischer Burn-out | |
> Torsten Pötzsch war 14 Jahre lang Oberbürgermeister in der Lausitz. Er | |
> hat versucht, sich nicht von Rechten einschüchtern zu lassen. Jetzt geht | |
> er. | |
Bild: Torsten Pötzsch auf dem Gelände einer alten Glasfabrik, jetzt ein sozio… | |
Weißwasser/Oberlausitz Am Martinstag hat Torsten Pötzsch begriffen, dass | |
seine Amtszeit abgelaufen ist. Fünf Tage zuvor hatte er sein | |
Bürgermeisterbüro im Rathaus von Weißwasser geräumt. An jenem Nachmittag | |
lief Pötzsch über den Markt, sah im Ratssaal Licht brennen und wusste, dass | |
sich dort der Haupt- und Sozialausschuss versammelt. „Jetzt würdest du da | |
oben sitzen“, sei es ihm durch den Kopf geschossen, wie er erzählt. Wie oft | |
hat er dort gesessen? Hundertmal? Zweihundertmal? „Ist echt schwierig, | |
loszulassen“, murmelt er. Das alte Leben ist vorbei. Pötzsch ist 53 Jahre | |
alt. Eine halbe Stunde nachdem er an dem erleuchteten Ratssaal vorbei ist, | |
findet er sich in seinem neuen Leben wieder: Da mischt er sich mit seinen | |
beiden Söhnen in den Martinsumzug der Stadt. | |
Völlig überraschend hatte Pötzsch, seit 2010 Oberbürgermeister der | |
15.000-Einwohner-Stadt Weißwasser in Ostsachsen, im Juni die Kandidatur für | |
seine dritte Amtszeit zurückgezogen. Zuvor hatten ihn Freunde bekniet | |
weiterzumachen. Und falls er doch hinschmeißen sollte, hatten sie ihn davor | |
gewarnt, die wahren Beweggründe offenzulegen. | |
An einem Morgen im Juni aber schickt Torsten Pötzsch eine E-Mail in die | |
Welt, in der er seinen Verzicht bekannt gibt und persönlich wird. Kurz | |
darauf fragt ihn ein Journalist in einer SMS, ob er gerade „Fake News“ | |
aufgesessen sei. Nein, klärt Pötzsch auf, alles richtig, alles wahr. Auch | |
dass ihn seine Lebensgefährtin mit den beiden Kindern von heute auf morgen | |
verlassen habe und ihm den Rückhalt aufkündigte. Den aber brauche er für | |
sein Amt, und auch, um die Anfeindungen auszuhalten, den ganzen Müll in den | |
digitalen und analogen Postkästen, die Angriffe von rechts – alles, was | |
Pötzsch in 14 Jahren Amtszeit ertragen hatte. Die Krücken, an denen er | |
damals gehen muss, sind nur ein äußeres Zeichen dafür, dass der | |
Bürgermeister innerlich zerbrochen ist. | |
Im August stand nach alter Planung der Wahlkampf um das Bürgermeisteramt | |
an. Aber in seinem neuen Leben muss sich Pötzsch mit dem Sorgerecht für | |
seine Kinder herumschlagen, und sich mit seiner nunmehr ehemaligen | |
Lebensgefährtin auf Unterhaltszahlungen einigen. Außerdem erwartet ihn eine | |
Bandscheiben-OP. | |
Als der Herbst in den Winter übergeht und der Nebel alles in einen trüben | |
Schleier taucht, steht Torsten Pötzsch, eingemummelt in eine | |
Holzfällerjacke, vor dem Bahnhof von Weißwasser. Die Krücken sind weg. Er | |
scheint festen Halt gefunden zu haben, nicht nur physisch. Wie er so | |
dasteht mit seiner Lockenpracht wirkt er wie ein Naturbursche aus den | |
umliegenden Wäldern. Doch als er zu reden beginnt, spricht der | |
Kommunalpolitiker. | |
Pötzsch redet über das alte Bahnhofsgebäude, das er vor Jahren ersteigern | |
ließ. Es wird umgebaut. Lärm von Bohrhämmern dringt nach außen. Der Bau ist | |
eingerüstet. Die Touristen-Info, der Ticketverkauf und die Stadtbibliothek | |
sollen dort hinein. Die Stadt soll ein ansprechendes Entree bekommen. | |
Plötzlich ruft es hell: „Guten Morgen!“ Im Vorbeigehen grüßt ein Mann. | |
„Ach, hallo!“, gibt Pötzsch zurück und ist angetan. Man kennt ihn in | |
Weißwasser. „Das wird einem fehlen“, sagt er. „Aber wer weiß, wie lange… | |
noch anhält“, schiebt er nach. Das klingt distanzierter. „Ist ein komisches | |
Gefühl jetzt“, sagt er noch und redet schon weiter über die älteste | |
Glashütte der Stadt von 1873, die als Ruine in Sichtweite steht und damals | |
nach einer anfänglichen Pleite von erfahrenen Glasmachern aus Schlesien | |
profitabel gemacht wurde. | |
So profitabel, dass binnen 30 Jahren zehn weitere Glashütten in Betrieb | |
gehen und aus dem Dorf im Niemandsland an der Neiße einen der größten | |
Glasstandorte weltweit machen. Die Grundstoffe – Sand, Holz, Ton und | |
Braunkohle – sind im Überfluss vorhanden. Die unzähligen Schornsteine | |
künden vom Aufschwung. Glas aus Weißwasser erobert die Welt – als Vasen, | |
Lampen, Weinkelche, Einweckgläser, Gärballons, aber auch als Glühbirnen, | |
Elektronen- und Bildröhren. Zur Erinnerung erhebt sich vor dem Bahnhof der | |
Glasmacherbrunnen, der vier Glasbläser konzentriert bei der Arbeit zeigt. | |
Hinter dem Bahnhofsgelände ragt die Ruine der legendären Glashütte auf. Die | |
neuen Pläne für das alte Gelände hat Torsten Pötzsch als Oberbürgermeister | |
eingetütet. Sie erzählen viel von der Art, wie der Seiteneinsteiger | |
Kommunalpolitik betreibt. | |
Hinter die Ruine wird die Bafa, eine Bundesbehörde, derzeit noch verteilt | |
über die Stadt, in einen Neubau ziehen. Die Bafa, das Bundesamt für | |
Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle aus dem hessischen Eschborn, hat 2020 eine | |
Außenstelle in Weißwasser eröffnet. Mit insgesamt 5.000 | |
Behördenarbeitsplätzen will der Bund den Strukturwandel in den | |
Kohlerevieren unterstützen. 300 von ihnen arbeiten schon in Weißwasser. | |
Es ist ein Coup, den Pötzsch und seine Freunde von der Wählervereinigung | |
Klartext und mit Unterstützung von Abgeordneten eingefädelt haben. Es war | |
die Zeit, als die PKW-Maut, das Lieblingsprojekt von CSU-Verkehrsminister | |
Andreas Scheuer, die Nachrichten beherrschte. Irgendwo muss doch die Maut | |
dann auch abgerechnet werden, fragte sich einer aus Pötzschs Umkreis. Warum | |
nicht in Weißwasser? | |
Aus der Frage wurde eine Idee, aus der Idee ein Antrag. Nach dem Antrag | |
kamen Besuche, dann folgte die Entscheidung. Und dann beerdigt der | |
Europäische Gerichtshof sang- und klanglos die Maut. Der Traum von der | |
Bundesbehörde in Weißwasser schien vorbei. Inzwischen aber setzt die Bafa | |
von hier aus unter anderem Förderprogramme für effiziente Gebäude und für | |
Elektromobilität um, Nachhaltigkeitsprojekte. Auf ihrer Homepage macht sie | |
Werbung für Weißwasser mit seinem Zoo, dem Glasmuseum und der | |
Waldeisenbahn. | |
Hinter der Industrieruine wird sich in fünf Jahren der neue Bafa-Bau | |
erheben. Und wenn man schon über die Zukunft redet, dann will Pötzsch auch | |
von den Karbon-Yachten erzählen. Ein deutscher Unternehmer ist dabei, seine | |
Ideenschmiede von Dubai nach Weißwasser zu verlegen. Dubai? „Ja, klar“, | |
sagt Pötzsch trocken. „Er hat derzeit ein altes Autohaus angemietet, will | |
aber hier nebenan Boote aus Karbon bauen, die nur ein Drittel so schwer | |
sind wie andere Bootsrümpfe. Passt doch prima zur Nachhaltigkeit. „Das ist | |
das, was wir wollen.“ | |
## Den Umbrüchen zum Trotz | |
Der Bootsbauer, erklärt Pötzsch, ist ein Ururenkel der ersten | |
Glasfabrikanten aus Schlesien. Ein Familientreffen der Nachkommen führte | |
ihn 2008 erstmals nach Weißwasser. Die Ruine der Glashütte soll erhalten | |
bleiben, erklärt Pötzsch, soll begehbar und beleuchtet werden, sodass man | |
die Kulisse auch vom ICE aus erblicken könnte, der irgendwann von Berlin | |
ins polnische Breslau rauschen soll. Die zwei Jahrhunderte Industriekultur | |
sollen von einer Stadt künden, die sich, aller Umbrüche zum Trotz, nicht | |
aufgegeben hat. So schließt sich der Kreis. | |
Nichts ist für immer. Vieles in Weißwasser kündet davon, nicht nur das | |
Glas, auch die Braunkohle. Im nahen Boxberg ging 1979 das damals größte | |
Braunkohlekraftwerk Europas ans Netz, gleich nebenan klafft der Tagebau. | |
Weißwasser schwoll bis zum Ende der DDR auf 38.000 Einwohner an. Heute sind | |
es weniger als die Hälfte, rund 15.000. Ganze Neubauviertel wurden | |
abgerissen. Wo früher Stadt war, wachsen heute Kiefern. Ein | |
Shopping-Center, einst mitten im Wohngebiet, steht nun im Wald – ein | |
Sinnbild für den Strukturbruch. | |
Dieser permanente Umbau kann Menschen, selbst wenn sie Gestaltungswillen | |
haben, irgendwann aus der Bahn werfen. Gilt das auch für Torsten Pötzsch? | |
Was war das eigentlich in diesem Jahr? Es war eine große Ehre, als er im | |
Januar nach Washington eingeladen wurde zur United States Conference of | |
Mayors, der 92. Konferenz der US-Bürgermeister, einer Institution der | |
US-Kommunalpolitik. Pötzsch, der Optimist, berichtete zum Thema Demokratie | |
und Kommune aus der Perspektive von Weißwasser. | |
Pötzschs Werdegang dürfte den Amerikanern gefallen haben: Da wird 2010 der | |
Geschäftsführer der örtlichen Wohnungsgesellschaft, der auch als DJ | |
auftritt und als Eventmanager erfolgreich war, mit 39 Jahren | |
Oberbürgermeister in seiner Heimatstadt. Ein paar Jahre zuvor hat er mit | |
Freunden Klartext gegründet. Ihr Credo: Einmischen, gestalten, auch kämpfen | |
– für ein lebenswertes Weißwasser. Pötzsch, so viel ist sicher, ist ein | |
politischer Selfmademan. | |
Bereits im Dezember 2023 hatte Pötzsch angekündigt, am 1. September 2024 | |
erneut als Oberbürgermeister anzutreten. Schließlich wolle er seine Ideen | |
und Projekte fortsetzen, die er angeschoben hat, etwa den Bahnhof und die | |
Industriebrache Glashütte. Und jetzt steht er da mit den Händen in der | |
Jackentasche, erzählt, unverkennbar mit Wehmut in der Stimme, von seinen | |
Projekten, die nun andere vollenden und für die sie sich vielleicht auch | |
feiern lassen. | |
Pötzschs Nachfolgerin ist eine 44 Jahre alte Wirtschaftsgeografin, die vor | |
zwei Jahren nach Weißwasser kam, in die SPD eintrat und eine steile | |
kommunalpolitische Karriere hinlegte. Die Kandidatin von Pötzschs | |
Wählervereinigung Klartext, Kämmerin im Rathaus, unterlag ihr ebenso wie | |
der Bewerber der AfD, ein Musiklehrer. Recherchen des MDR legen nahe, dass | |
der Lehrer ein Reichsbürger und Parteigänger des „Königreichs Deutschland�… | |
ist und stützen dies mit einer Initiativbewerbung des Mannes beim | |
„Königreich Deutschland“. Anhänger dieses Fantasiekönigs mit Namen Peter | |
Fitzek haben sich 2022 [1][in einem Schloss nahe Weißwasser] eingenistet. | |
Wenn man Torsten Pötzsch reden hört, kann man schnell vergessen, dass sich | |
die Oberlausitz nicht unbedingt als Ort für offene und liberale | |
Kommunalpolitik hervorgetan hat. Wie etwa in Pötzsch’ erstem Wahlkampf | |
2010, als ihn ein unbekannter Malermeister auf der Webseite der | |
Regionalzeitung denunzierte, dass er als Geschäftsführer der | |
Wohnungsgesellschaft bei Vergabe von Aufträgen Freunde bevorzugen würde. | |
Pötzsch ließ das nicht auf sich sitzen und erstattete Anzeige, der Name des | |
Meisters aus dem Dörfchen Gablenz vor den Toren Weißwassers: Tino | |
Chrupalla, seit September 2021 gemeinsam mit Alice Weidel AfD-Vorsitzender. | |
14 Jahre, Dutzende Dienstaufsichtsbeschwerden und zwei Amtszeiten später | |
ist Pötzsch so etwas wie ein Seismograf für politische Verschiebungen, die | |
sich im Aufstieg des Gablenzer Malermeisters und seiner AfD manifestieren. | |
Und dann sind da auch noch andere Sachen: Im Stadtrat von Weißwasser | |
tuschelt man über eine Bestechung von Mitarbeitern. Gerüchte kursieren über | |
angebliche Affären des Oberbürgermeisters. Es blieb ja nicht unbemerkt, | |
dass Pötzsch ganze Nächte im Rathausbüro verbrachte. | |
Man muss ein dickes Fell haben in der Politik. Oder in die Offensive gehen. | |
Oder beides. 2019 hat sich Pötzsch auf den Marktplatz gestellt und die | |
„Gerüchteküche“ eröffnet, ein neues Gesprächsformat. Jeder, der will, k… | |
ihn fragen, auch zu den Rathausnächten. In einer jener vielen Nächte, | |
erzählt Pötzsch dort, habe er mit einer Mitarbeiterin die | |
Bewerbungsunterlagen für ein Astroforschungszentrum zusammengestellt, das | |
als Strukturwandelprojekt in die Lausitz kommen wird. Die Großinvestition | |
geht dann aber nach Görlitz. | |
Am Rande einer „Gerüchteküche“ erwähnte Pötzsch gegenüber einem | |
Journalisten, dass sich an seinem Bus neulich Radmuttern gelöst hätten. | |
Dass bereits zwei fehlten, sei erst in der Werkstatt aufgefallen. Er habe | |
der Sache keine allzu große Bedeutung beigemessen, sagt Pötzsch. Zuvor habe | |
er einen NPD-Treff in einer alten Gaststätte am Rande der Stadt schließen | |
lassen. Ihm war es gelungen, das Gebäude für die Stadt zu kaufen. Danach | |
bestellt der Oberbürgermeister Bagger. Nach dem Abriss verzogen sich die | |
Nazis. Ja, es habe Drohungen gegeben, erzählt Pötzsch. | |
Eine Zeitung berichtet darüber, die Geschichte mit den Radmuttern erreicht | |
daraufhin höchste zivilgesellschaftliche Kreise. Torsten Pötzsch, der | |
unerschrockene Bürgermeister, der gegen Hass und Spaltung antritt. Sehnt | |
sich die Politik nicht nach solchen Vorbildern? Wenig später wird Pötzsch | |
mit dem Nationalpreis der Deutschen Nationalstiftung geehrt, einer privaten | |
Initiative, die auf Ex-Kanzler Helmut Schmidt zurückgeht. Demokratie lebe | |
vom Gemeinsinn und der Kultur des Einanderzuhörens, „Torsten Pötzsch lebt | |
genau das vor“, lobt der Laudator, der damalige Bundestagspräsident | |
Wolfgang Schäuble, den Oberbürgermeister bei der Verleihung im Juni 2020. | |
In Weißwasser selbst melden sich auch andere Stimmen. Zweifel werden gesät | |
an der Geschichte mit den Radmuttern. Frühere Rathausmitarbeiter, die im | |
Streit mit dem Oberbürgermeister gegangen sind, treten als Kronzeugen auf, | |
bekräftigen, dass es Pötzsch selbst sei, der dem Gemeinsinn im Wege stehe. | |
So harmonisch, wie es Schäuble ausmalte, dürfte es in Weißwasser unter | |
Torsten Pötzsch nie gewesen sein, auch nicht im Rathaus. | |
Wie auch? Man kann als Bürgermeister Ideen haben – aber der Stadtrat muss | |
diesen Ideen zustimmen: bei Stellenbesetzungen, beim Haushalt, bei | |
Bebauungsplänen. Der Stadtrat ist das Abbild der politischen Stimmung in | |
der Stadt, nicht der Oberbürgermeister. Und die Stimmung verschiebt sich | |
nach rechts. | |
Im Oktober hat Silvio Witt, der parteilose Oberbürgermeister in | |
Neubrandenburg, seinen Rücktritt angekündigt. Letzter Anstoß war das Verbot | |
des Stadtrats, weiterhin die Regenbogenfahne am Bahnhof zu hissen. Witt, | |
mit einem Mann verheiratet, wird, enttäuscht von dem Beschluss, im Mai sein | |
Amt aufgeben. | |
„Wenn so ein starker Mensch wie Torsten Pötzsch hinschmeißt, dann zieht das | |
nach unten“, sagt Thomas Zenker, Oberbürgermeister von Zittau, am Telefon. | |
Pötzsch war nicht nur wie Zenker Seiteneinsteiger in die Kommunalpolitik, | |
beide waren Oberbürgermeister im Landkreis Görlitz. Beide sitzen in | |
derselben Kreistagsfraktion. Pötzsch hatte wohl noch größere Kämpfe | |
auszufechten als andere Bürgermeister, sucht Zenker nach Erklärungen – das | |
fehlende Geld, der Kampf für Personal. Und dann der zermürbende Wettlauf um | |
die Millionen aus dem Strukturwandelfonds der Europäischen Union – in einer | |
Phase, in der sich etablierte Parteien aus dem ländlichen Raum | |
zurückziehen, die SPD mehr als die CDU. Was dann bleibt, sind die blauen | |
Gespenster. | |
Und bei den Kommunalwahlen vom 9. Juni 2024 ist die AfD erheblich stärker | |
geworden, auch in Weißwasser. Klartext, zwar immer noch zweitstärkste | |
Kraft, wurde gerupft. Alte Gegenspieler eroberten neue Mandate und mit | |
sieben Sitzen triumphierte die AfD, die inzwischen mit den anderen Parteien | |
durchaus auch mal gemeinsame Sache macht. Es wirkt, als wollten sie Pötzsch | |
nachträglich einen Hieb versetzen. | |
Pötzsch lenkt sein Auto zu den Orten, wo er sich uneingeschränkt entspannen | |
kann, die neue Eis-Arena etwa. Weißwasser, die Kleinstadt, hat einen | |
Eishockey-Profiklub mit langer Tradition und großer Ausstrahlung, der | |
derzeit in der 2. Bundesliga spielt. Richtig zu Hause ist Pötzsch aber auf | |
dem Telux-Gelände unweit vom Markt, ein soziokulturelles Zentrum auf dem | |
weitläufigen Areal der alten Glasfabrik Telux mit ihren Ziegelbauten. Kaum | |
angekommen, winkt Pötzsch durch das Fenster einer Designwerkstatt, die sich | |
auf Lasergravuren spezialisiert hat. | |
Etwas weiter hinten surrt ein 3D-Drucker, Schulklassen haben Tanzkurse und | |
in der Hafenstube, einer Mischung aus Café, Bar und Kneipe, ist Gedränge, | |
denn eine Gewerkschaftsgruppe hat Mittagspause. Das ist das Weißwasser, vom | |
dem Pötzsch träumt: offen, kreativ, traditionsbewusst. Wie es für ihn | |
beruflich weitergeht, lässt Pötzsch offen. Hier aber wird er sich auf jeden | |
Fall weiterhin engagieren. | |
Doch einen Tag vor der Eröffnung des Zentrums hat die AfD-Fraktion im | |
Stadtrat den Antrag gestellt, die Zuschüsse für Vereine der Wohlfahrt und | |
der Jugendhilfe um 30 Prozent zu kürzen, rückwirkend für ganz 2024. Das hat | |
auch das Zentrum getroffen. Die knappe Mehrheit für den AfD-Antrag haben | |
zwei Stadträte erst möglich gemacht, die Pötzsch als Rathausmitarbeiter | |
geschasst hatte, einer davon mit SPD-Parteibuch. Nun hat sich das | |
finanzielle Risiko für das Soziokulturelle Zentrum Telux erheblich erhöht. | |
Solche Zentren sind für Tino Chrupalla nichts als linksgrüne Biotope, die | |
er trocken legen will. Bei einem Wahlkampfauftritt in Weißwasser hat der | |
AfD-Chef das nochmals betont. | |
Torsten Pötzsch weiß an jenem Tag im November noch nicht, dass das Jahr mit | |
dieser Niederlage ausklingen wird. Er steuert seinen Bus auf das Gelände | |
einer anderen Glasfabrik. Zwar liefert sie nur noch die Zutaten an andere | |
Glashersteller, aber immerhin. Etwas abseits, hinter Werkshallen und | |
Förderbändern, sucht Pötzsch in einer großen Halde etwas Bestimmtes. Die | |
filigranen, bauchigen Glaskolben, die zu Hunderten unversehrt herumliegen, | |
beachtet er nicht. Dann endlich hebt er etwas in die Höhe. Es ist ein | |
faustgroßer Klumpen erstarrtes Glas, der leuchtet wie Eis. „Damit habe ich | |
als Kind gespielt.“ | |
Wer in der Glasmacherstadt geboren ist, weiß, Glas ist nicht bloß fragil. | |
Es kann auch unglaublich fest sein. | |
11 Jan 2025 | |
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Thomas Gerlach | |
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