| # taz.de -- „All We Imagine as Light“ Regisseurin: „Mumbai ist die Sauce,… | |
| > Die Regisseurin Payal Kapadia porträtiert in ihrem Spielfilm „All We | |
| > Imagine as Light“ drei Frauen in Mumbai. Filmemachen vergleicht sie mit | |
| > Kochen. | |
| Bild: Die Krankenschwestern Prabha (Kani Kusruti, l.) und Anu (Divya Prabha) in… | |
| Gleich mit dem ersten Spielfilm in den [1][Wettbewerb von Cannes eingeladen | |
| zu werden], dort den [2][Großen Preis der Jury zu gewinnen], schließlich | |
| vom Magazin Sight & Sound zum besten Film des Jahres ernannt sowie für den | |
| Golden Globe nominiert zu werden – dieses Kunststück muss der indischen | |
| Regisseurin Payal Kapadia erst einmal jemand nachmachen. Jetzt startet | |
| „All We Imagine as Light“, das feinsinnige und auf unkitschige Weise | |
| poetische Porträt dreier Frauen zwischen weiblicher Autonomie und den | |
| Fesseln der Tradition im modernen Indien, endlich in den deutschen Kinos. | |
| taz: Frau Kapadia, Ihr neuer Film „All We Imagine as Light“ handelt von | |
| Freundschaft und von Sehnsucht, von arbeitenden, auf sich selbst gestellten | |
| Frauen und davon, zum Geldverdienen in eine fremde Großstadt zu kommen. Mit | |
| welchem dieser Themen nahm das Drehbuch ursprünglich seinen Anfang? | |
| Payal Kapadia: Das ist eigentlich unmöglich zu beantworten, denn es gab | |
| nicht diese eine Idee, mit der ich mich hingesetzt habe. Mich treiben immer | |
| die verschiedensten Dinge um, und wenn ich Szenen oder Figuren zu Papier | |
| bringe, dann sind die in der Regel aus den unterschiedlichsten Fragen und | |
| Überlegungen erwachsen, mit denen ich mich beschäftige. Tatsächlich hatte | |
| ich mich schon länger mit Mumbai als Arbeitsort, nicht zuletzt für Frauen, | |
| auseinandergesetzt. | |
| taz: Das klingt nach einer eher theoretischen Herangehensweise. | |
| Aber nicht ausschließlich. Weniger unter intellektuellen als unter | |
| persönlichen Gesichtspunkten war mir auch das Thema Freundschaft wichtig, | |
| gerade unter Frauen in einer Großstadt und möglicherweise als eine Art | |
| Familienersatz. Damit habe ich selbst nämlich viele Erfahrungen und | |
| Berührungspunkte und habe, was etwa den intergenerationellen Aspekt solcher | |
| Freundschaften angeht, nicht immer alles richtig gemacht. Entsprechend | |
| floss in die Entwicklung der Protagonistinnen Prabha und Anu auch viel | |
| Selbstreflexion ein. Und dann kamen über diese Frauen selbstverständlich | |
| noch die abwesenden Männer ins Spiel, die am Ende dann doch irgendwie nie | |
| ganz weg sind. | |
| taz: Prabha und Anu sind beide Krankenschwestern, die aus der Region Kerala | |
| kommen und zusammenwohnen. Erstere ist die Ältere, ernst und ruhig, und | |
| vermisst ihren nach Deutschland ausgewanderten Ehemann. Letztere ist jung | |
| und unbeschwert und hat heimlich eine Affäre mit einem jungen Muslim. Dazu | |
| kommt mit der Krankenhausköchin Parvaty noch eine dritte Frau. Wie früh | |
| legten Sie sich auf diese Konstellation fest? | |
| Kapadia: Zunächst konzentrierte sich meine Geschichte ganz auf Prabha und | |
| Anu und diese Freundschaft zwischen zwei Frauen, die sehr viel gemeinsam | |
| haben, aber nicht zuletzt altersbedingt auch ganz unterschiedlich sind. | |
| Doch dann habe ich angefangen, rund um das Thema Wohnraumverdrängung zu | |
| recherchieren, weil es viele Gebiete in Mumbai gibt, in denen alte | |
| Sozialbauten abgerissen werden, um Platz für neue Hochhäuser und die | |
| Gentrifizierung zu machen. Dabei stieß ich auf viele kurzfristig aus ihren | |
| Wohnungen vertriebene Frauen aus der Hafenstadt Ratnagiri im Bundesstaat | |
| Maharashtra, die mich dazu inspirierten, Parvaty als Figur auszubauen und | |
| in der zweiten Hälfte des Films auch in ebenjene Region zu reisen. Früher | |
| gab es dort große Baumwollfabriken, nach deren Schließungen die Männer | |
| jener Gegend alle arbeitslos wurden. So wurden Frauen wie Parvaty oft zu | |
| Brotverdienerinnen in den Familien, nicht zuletzt, wenn sie bereit waren, | |
| zum Arbeiten nach Mumbai umzusiedeln. Ich merkte, wie reizvoll ich es nicht | |
| nur fand, das Thema Frauen und Arbeit noch aus einer zusätzlichen | |
| Perspektive zu beleuchten, sondern auch eine weitere Facette von Indien zu | |
| zeigen. | |
| taz: So wie Sie die Entstehung von „All We Imagine as Light“ beschreiben, | |
| passt das ganz gut dazu, dass Sie kürzlich Parallelen zogen zwischen dem | |
| Filmemachen und Kochen! | |
| Kapadia: Genau! Man muss bei Rezepten ja auch immer erst einmal die | |
| einzelnen Bestandteile aufeinander abstimmen und immer wieder abschmecken, | |
| bis man ein wirklich gelungenes Gericht vor sich hat. Bei meinen Currys | |
| neige ich dazu, immer ein paar Zutaten zu viel in den Zopf zu werfen. Und | |
| ich glaube, bei meinen Filmen mache ich das genauso. Aber das muss ja nicht | |
| heißen, dass es am Ende nicht schmeckt. | |
| taz: Man könnte nun sagen, dass die Hauptzutat in diesem Fall zumindest | |
| über weiter Strecken das Setting Mumbai ist, oder? | |
| Kapadia: Vielleicht sagen wir lieber, dass Mumbai die Sauce ist, die alles | |
| andere zusammenhält. Ich bin in der Stadt geboren, habe aber durchaus | |
| zwiespältige Gefühle ihr gegenüber. Einerseits bietet eine derart große | |
| Stadt ihren Bewohner*innen viele Freiheiten, und gerade als Frau ist | |
| dort vieles leichter als anderswo in Indien. Die Stadt ist ein bisschen | |
| weniger gefährlich als andere. Man kann auch abends allein nach Hause | |
| gehen, ohne dass die Familie vor Sorge vergehen muss. Und gerade, was | |
| Arbeitsplätze für Frauen angeht, ist vieles hier deutlich professioneller | |
| als anderswo. Aber Mumbai kann auch ein hartes Pflaster sein – und die | |
| Stadt verändert sich nicht nur zum Guten. Es gab hier schon immer | |
| Ungleichheit, aber die Kluft wächst, nicht zuletzt, was Wohnraum und | |
| Architektur angeht. Die Stadt liegt auf einer Insel, deswegen ist der Raum | |
| begrenzt und die Gentrifizierung besonders gnadenlos und brutal. Visuell | |
| habe ich nun versucht, beides in „All We Imagine as Light“ einzufangen. Die | |
| romantische Verklärung, mit der gerade junge Menschen auf die Möglichkeiten | |
| blicken, die die Stadt bietet, aber eben auch das Chaos und die | |
| Verdrängung, die sich hier ereignen. | |
| taz: Ohne überdeutlich politisch zu sein, kritisiert der Film dabei die | |
| herrschenden Zustände. Denken Sie, dass er auch deswegen nicht von | |
| offizieller Seite als indischer Beitrag bei den Oscars eingereicht wurde? | |
| Kapadia: Keine Ahnung. Die offizielle Begründung lautete ja, dass „All We | |
| Imagine as Light“ eher wie ein europäischer als wie ein indischer Film | |
| wirken würde. Das würde ich verstehen, wenn es sich auf | |
| Produktionshintergründe bezieht, denn tatsächlich stammt ein Großteil | |
| unserer Finanzierung aus Frankreich, den Niederlanden, Luxemburg und | |
| Italien. Eine andere Deutung würde mir nicht einleuchten, denn das würde | |
| heißen, dass ich keine Ahnung davon habe, was es heißt, indisch zu sein. | |
| taz: Fühlen Sie sich denn innerhalb der indischen Filmbranche als | |
| Außenseiterin? | |
| Kapadia: Eigentlich nicht. Oder höchstens in dem Sinne, wie man eben | |
| Außenseiterin ist, wenn man nicht Teil des kommerziellen Studiosystems ist. | |
| Meine Filme sind nicht Bollywood, sondern unabhängige Produktionen. Aber da | |
| bin ich ja in Indien längst nicht die Einzige. [3][Chaitanya Tamhane] etwa | |
| gehört zu den bekanntesten indischen Regisseuren und dreht ebenso | |
| Independent-Filme wie Rima Das aus Assam, deren komplett selbst produzierte | |
| Arbeiten bei vielen internationalen Filmfestivals gefeiert werden. | |
| taz: Ihre eigene Mutter Nalini Malani gehört zu den wichtigsten indischen | |
| Malerinnen und Videokünstlerinnen. Ist Ihr Werdegang als Regisseurin auch | |
| ihrer Arbeit und ihren Ambitionen geschuldet? | |
| Kapadia: Keine Frage. Sie hatte selten viel Geld für die Realisierung ihrer | |
| Kunst, deswegen saßen sie und ihr Cutter oft bei uns am Küchentisch, um | |
| stundenlang von Hand alle Filmrollen durchzusehen, die sie für ihre | |
| Videoarbeiten aufgenommen hatte. Einfach weil das Geld zu knapp war, um am | |
| Ende den Schneideraum für mehr als ein paar Stunden zu mieten. Ich fand | |
| diesen Prozess unendlich faszinierend und konnte ihnen ewig dabei zusehen. | |
| Schon als Kind zu lernen, was Filmschnitt ist und wie man das macht, war | |
| wie ein ganz besonderes Geheimnis, das nur ich kannte. Wenn ich mit | |
| Freund*innen im Kino einen Film sah, wusste ich als Einzige, wie die | |
| einzelnen Bilder für die Leinwand montiert worden waren. Tatsächlich wollte | |
| ich dann eigentlich auch Filmschnitt studieren, habe allerdings die | |
| Aufnahmeprüfung nicht bestanden. Das hat mich so frustriert, dass ich es | |
| ein paar Jahre später dann lieber im Fach Regie noch einmal probiert habe. | |
| 17 Dec 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Patrick Heidmann | |
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