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# taz.de -- Pelicot-Prozess und Rape Culture: Der Vergewaltiger sind wir
> Der Prozess um die Vergewaltigungen an Gisèle Pelicot zeigt menschliche
> Abgründe. Er wirft auch ein Licht auf unsere Verantwortung für Rape
> Culture.
Bild: Die unter anderen Absurditäten häufig vorgebrachte „Argumentation“ …
Einundfünfzig Männer stehen in Südfrankreich vor Gericht, sie alle haben
dieselbe Frau auf dieselbe Art vergewaltigt: Die Rentnerin Gisèle Pélicot
wurde über ein Jahrzehnt von ihrem damaligen Mann mit Schlafmitteln betäubt
und dabei gefilmt, wie etliche Männer sie vergewaltigten. Mindestens 92
Taten fanden so statt. Auch von der bewusstlosen Tochter, in der
Unterwäsche der Mutter gekleidet, fand sich ein Bild auf dem Rechner von
Dominique Pélicot. 51 von mutmaßlich 83 Tätern wurden aufgespürt und
angeklagt. Das Urteil wird Ende Dezember gesprochen.
Bis auf Pélicot, der sich mit den Worten „[1][ich bin ein Vergewaltiger],
genauso wie alle andern im Raum“ zumindest gegenüber seiner mittlerweile
geschiedenen Frau (nicht aber gegenüber seiner Tochter) als schuldig
bekannte, streiten die meisten Angeklagten eine Vergewaltigung ab.
Schließlich, so lautet unter anderen Absurditäten eine häufig vorgebrachte
„Argumentation“, [2][hätte der Ehemann ihnen die Erlaubnis gegeben]. Es ist
egal, ob die Angeklagten ihre Rechtfertigung wirklich selbst glauben oder
nur als Vorwand vorbringen: Offensichtlich halten sie sie für ein gutes
Argument. Dem zugrunde liegt die Annahme: Was mit einer Frau und ihrem
Körper passiert, sei die Entscheidung ihres Ehemanns.
Frauen als Eigentum ihres Partners, als Wesen ohne eigenen Willen: Diese
entmenschlichende Vorstellung hält sich offenbar in der Mitte der
Gesellschaft bei Menschen allen Alters, aller Gesellschaftsschichten und
Berufsgruppen. Sie findet sich auch darin wieder, dass Vergewaltigung in
der Ehe bis vor nicht allzu langer Zeit auch in Deutschland als legal galt:
Über den Körper der Frau konnte der Ehemann frei verfügen.
Viele wollten, dass das so bleibt, und stimmten noch in den Neunzigern
gegen eine Gesetzesänderung. Einer davon könnte bald Bundeskanzler werden.
Friedrich Merz hat seitdem keinerlei Aufarbeitung dieses – ja:
extremistischen Weltbilds unternommen. Im Gegenteil: Er strebt eine Allianz
mit Trump an – jenem US-Präsidenten, dessen Politik der Grund dafür ist,
dass Millionen Frauen das Recht genommen wurde, über ihren Körper zu
bestimmen. Jede Stimme für solche Politiker ist eine Legitimierung auch
solcher Gewalt, wie sie an Gisèle Pélicot passiert ist. Zwischen dieser
Vorstellung von Frauen als Eigentum ihrer Partner und der organisierten
Massenvergewaltigung Pélicots besteht eine ideologische Kontinuität.
## Eine falsche Zweiteilung
Mit den Worten „ich bin ein Vergewaltiger“ wollte Dominique Pélicot ein
Schuldeingeständnis ablegen. Doch für einen gesamtgesellschaftlichen
Prozess der Selbsterkenntnis kann man sich auf dieser Aussage nicht
ausruhen. Darin verstetigt sich die Idee, es gebe „Vergewaltiger“ – und
eben die anderen, die es nicht sind.
Für eine Aufarbeitung der strukturellen Gewalt an Frauen müsste man sich
hingegen der umgekehrten Erkenntnis stellen: „Der Vergewaltiger“ ist keine
abgetrennte Kategorie Mensch, sondern er besteht als Prinzip in zahlreichen
Grundannahmen, Gesten und Erzählungen unserer Kultur. Und wir alle bringen
ihn also auch immer wieder hervor. Die Frage ist deshalb: Wie viele
Vorstellungen, die in dieser Kontinuität zu Vergewaltigung stehen, stecken
in uns? Und natürlich sollte man sich diese Frage vor allem stellen, wenn
man ein Mann ist – aber nicht nur dann.
In ihrem Abschlussplädoyer für den Angeklagten Jérôme V. etwa machte sich
dessen Anwältin für eine Strafminderung stark: Ihr Mandant sei nur ein
„[3][Gelegenheitsvergewaltiger]“. Er sei vorher nie ein Vergewaltiger
gewesen und werde es nachher nie wieder sein, glaubte sie zu wissen. Viele
Täter sowie teilweise deren Partnerinnen äußern sich ganz ähnlich. Die
sprachliche Subjektivierung „Vergewaltiger“ dient vor allem dazu, es
irgendwie nicht zu sein, oder eben nur „gelegentlich“ oder aus Versehen.
Das passiert nicht nur, um die Täter zu schützen. Die Feministin Blandine
Deverlanges [4][sagte im taz-Interview] über die Angeklagten: „Für mich
sind diese Männer keine Menschen mehr.“ Deverlanges sei noch im
Eingangsbereich des Gerichts von einem Angeklagten bedroht worden: Er würde
ihre Mutter auch noch vergewaltigen.
Deverlanges Reaktion mag als Coping-Mechanismus funktionieren, kann aber
nicht der politische Anspruch eines feministischen Kampfs sein, denn in der
Essenz wird in der Absprechung des Menschseins eine sehr ähnliche
sprachliche Abgrenzung betrieben wie in der Täterverteidigung: und damit
eine Auslagerung des Problems. Statt „Vergewaltigung“ als Tat und Produkt
gesellschaftlicher Normen zu reflektieren, wird „der Vergewaltiger“ als
vermeintlich klar abgegrenzte Identitätskategorie abgetan – der man
praktischerweise nicht angehört. Als handele es sich dabei um eine
Blutgruppe.
## Vergewaltiger? Das sind immer die Anderen
„El violador eres tú“, heißt es dagegen konsequenterweise in der
[5][Performance des chilenischen Kollektivs LasTesis] 2019: „Der
Vergewaltiger bist du.“ Die Zeile wird unter anderem ergänzt mit den
Worten: „Es sind die Richter, es ist der Staat.“ Das Systemische zu
erkennen – und damit uns selbst, unsere Sprache, unser aller Weitertragen
der Rape Culture – ist weitaus schwieriger und unangenehmer als die
Verbannung des „Vergewaltigers“ in eine uns ferne Monsterhaftigkeit.
Ein solches „Othering“, nämlich das Abwälzen der Rolle des „Vergewaltig…
auf eine bestimmte Gruppe von Menschen, wird vorneweg natürlich von eben
jenen Frauenfeinden wie den Merzens und Trumps dieser Welt auf die Spitze
getrieben. Vergewaltiger, damit macht man es sich dann noch einfacher, das
sind die „Anderen“, nämlich wahlweise Araber, Latinos oder wer auch sonst
gerade aus der Wundertüte des populistischen Bullshitbingos
hervorgezogen wird. Blödsinn.
Ungestraft tritt Rammstein-Sänger Till Lindemann weiterhin vor
Zehntausenden auf, nachdem bekannt wurde, dass er ein ekelhaftes System zur
Auswahl von Frauen zur sexuellen Befriedigung um sich konstruiert hatte.
Allein detailliert darüber zu schreiben, ist an dieser Stelle nicht
möglich, wenn man nicht von Lindemanns Anwaltsteam drangsaliert werden
will. Statt Reue zu zeigen, inszeniert sich Lindemann hinterher in einem
Musikvideo gar selbst als Vergewaltiger. Die meisten seiner Fans dürften
Deutsche sein.
Der Bundesgerichtshof entschied kürzlich, dass heimlich verabreichte und
potenziell tödliche K.O.-Tropfen [6][nicht als „gefährliches Werkzeug“ zu
bewerten seien], weil es sich um eine Flüssigkeit handele (Säure hingegen
gilt als gefährliches Werkzeug). Im sexualisierten Übergriff sei die
Betäubung mit K.O.-Tropfen deshalb nicht so strafschärfend wie andere
gefährliche Werkzeuge. Man merke sich all das für die nächste
Stammtischdiskussion oder anstrengende Gespräche am Weihnachtstisch.
## Wo Zivilisation sein soll, muss Männlichkeit weichen
Viele der Angeklagten geben an, in ihrer Kindheit sexualisierte Gewalt
erlebt zu haben. Auch [7][Dominique Pélicot] wurde nach eigenen Angaben als
[8][9-Jähriger von einem Krankenpfleger vergewaltigt]; sein Vater habe
Mutter und Kinder geschlagen und eine Adoptivtochter vergewaltigt. [9][Als
14-Jähriger habe Pélicot außerdem] unter Zwang an einer
Massenvergewaltigung teilgenommen. Auch dreizehn andere Angeklagte
berichten [10][von Erfahrungen dieser Art].
Sicherlich sind solche furchtbaren Geschichten in den Biografien vieler
Gewalttäter zu finden. Sicherlich reproduzieren die meisten von ihnen
Dinge, die ihnen selbst in irgendeiner Form widerfahren sind. Die
Aufarbeitung auch solcher Traumata gehört zum Kampf gegen Rape Culture
dazu. Es wäre aber ein fataler Irrtum, daraus zu schlussfolgern, dass Täter
nun mal nicht anders konnten oder dass ihre Taten durch die erlebten
Traumata irgendwie verständlich seien.
Abgesehen von der inakzeptablen ethischen Sackgasse, die sich daraus
ergäbe, wäre das auch sozialwissenschaftlich und statistisch eine
Fehlannahme. Über 70 Prozent der Opfer von häuslicher Gewalt [11][sind
weiblich]; die Täter*innen sind zu 75 Prozent männlich. Frauen schaffen
es statistisch gesehen also häufig, Gewalt zu erleiden und sie nicht zu
reproduzieren. Gisèle Pélicot, deren unfassbare Stärke zu Recht
hochgehalten wird, sagte im Gerichtssaal: „[12][Die Fassade ist stabil,
aber im Innern ist ein Trümmerfeld].“ Doch statt selbst zur Tat zu
schreiten, entschied sie sich zur Aufarbeitung.
Es scheint eine Frage der Sozialisierung zu sein, ob Gewalt tendenziell
eher aufgearbeitet, geschluckt oder reproduziert wird. Männlichkeit kann
man in diesem Sinne als eine angelernte Einschränkung begreifen: Die
angelernte Unfähigkeit zu kommunizieren, sich selbst und seiner tiefen
Verletzungen gewahr zu werden – statt sie an anderen zu wiederholen. Das
sind Dinge, die für ein zivilisatorisches Miteinander ausschlaggebend sind.
Wo Zivilisation sein soll, muss Männlichkeit weichen. Die gute Nachricht
ist: So zäh der Prozess auch ist –was uns eingetrichtert wurde, lässt sich
entlernen. Nicht Männer an sich, sondern ihre Sozialisierung ist das
Problem.
„La honte doit changer de camp“: Die Scham muss die Seiten wechseln – das
ist wiederum eine Absage an eine typisch weibliche Sozialisierung. Für das
Vertuschen von sexualisierter Gewalt ist es nur allzu praktisch, wenn die
Frauen sich anstelle der Täter schämen. Es ist ein Kraftakt, das zu
durchbrechen. Gisèle Pélicot und ihre Anwälte mussten in einer tagelangen
Auseinandersetzung gegen Verteidigung und Richter erst erkämpfen, dass die
Videos der Vergewaltigungen vor Gericht und vor versammelter Presse gezeigt
werden.
Deutsche Medien schreiben den Satz „Die Scham muss die Seiten wechseln“
irrtümlich Gisèle Pélicot selbst zu. In Wirklichkeit ist es ein
feministischer Claim, der in Frankreich zur Zeit der ersten
#MeToo-Veröffentlichungen aufkam und seitdem ein mehr oder weniger
geflügeltes Wort ist. Die Weigerung, sich zu schämen, ist eine enorme
feministische Errungenschaft. Wenn eine bis dahin ahnungslose Rentnerin –
die von ihrer Betroffenheit ja nicht wusste – davon mitbekommen hat und
sich darauf beziehen kann, dann findet eine Diskursverschiebung statt.
Andere wiederum werden sich auf Pélicot beziehen und tun das jetzt schon.
Das Lernen voneinander stärkt den Kampf. Vielleicht lässt sich aus dem
kollektiven inneren Trümmerfeld so etwas Neues errichten.
14 Dec 2024
## LINKS
[1] https://www.20minutes.fr/justice/4110449-20240917-proces-viols-mazan-violeu…
[2] https://www.radiofrance.fr/franceinfo/podcasts/les-documents-franceinfo/vio…
[3] https://www.francebleu.fr/infos/faits-divers-justice/proces-des-viols-de-ma…
[4] /Unterstuetzerin-von-Gisele-Pelicot/!6054045
[5] https://www.youtube.com/watch?v=aB7r6hdo3W4
[6] /Entscheidung-des-Bundesgerichtshofs/!6049395
[7] https://www.francetvinfo.fr/faits-divers/affaire-des-viols-de-mazan/comment…
[8] https://www.francetvinfo.fr/faits-divers/affaire-des-viols-de-mazan/proces-…
[9] https://france3-regions.francetvinfo.fr/provence-alpes-cote-d-azur/vaucluse…
[10] https://rmc.bfmtv.com/actualites/police-justice/proces-des-viols-de-mazan-…
[11] https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/lagebild-haeusliche-gewal…
[12] https://apis.aday.fr/renderers/v1/documents/mediadoc/M%7CMARS%7C2024%7C090…
## AUTOREN
Lea Fauth
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