| # taz.de -- Antje Schrupp über Differenzfeminismus: „Man sollte sich vom Sta… | |
| > Der Differenzfeminismus ist eine einflussreiche feministische Strömung in | |
| > Italien. Deutschland könnte davon lernen, sagt die | |
| > Politikwissenschaftlerin. | |
| Bild: Gegen die Assimilation der Frau ans Patriarchat: Der Differenzfeminismus … | |
| taz: Frau Schrupp, was meinen die Italienerinnen, wenn sie von „Differenz“ | |
| sprechen? | |
| Antje Schrupp: Sie meinen nicht die Differenz zwischen Frauen und Männern | |
| als Wesen, obwohl natürlich auch körperliche Unterschiede existieren. | |
| Sondern die Differenz zwischen Frauen und Männern in ihrer historischen und | |
| sozialen Situation. | |
| taz: Wie würden Sie den Kern des italienischen Differenzfeminismus | |
| beschreiben? | |
| Schrupp: Am Anfang steht eine Unzufriedenheit mit der Gleichstellungsidee, | |
| also mit der Vorstellung, dass die Gleichstellung der Geschlechter das | |
| Problem löst, dass Frauen nicht frei sind. Die Gleichstellungspolitik hat | |
| unter anderem dazu geführt, dass Frauen ebenso erwerbstätig wie Männer | |
| werden und Machtpositionen erreichen. Die Italienerinnen kritisieren, dass | |
| diese Art von Feminismus sich zu sehr an der männlichen Norm orientiert und | |
| Frauen dadurch wie Männer werden, aber nicht andersherum. Stattdessen | |
| fordern die italienischen Feministinnen einen Feminismus, der die männliche | |
| Norm hinterfragt und die Frage stellt: Was wollen Frauen? Denn die Antwort | |
| lautet nicht automatisch: das Gleiche wie Männer. Und sie ist übrigens auch | |
| nicht so leicht zu finden, denn auch Frauen sind in einem Patriarchat | |
| aufgewachsen. Der erste Schritt ist demnach die Befreiung des weiblichen | |
| Begehrens und eine Reflexion über eigene Wünsche und Rollenerwartungen. | |
| taz: Carla Lonzi, eine Vordenkerin des italienischen Differenzfeminismus, | |
| hat 1970 geschrieben: „Die Gleichheit der Geschlechter ist die Hülle, mit | |
| der heute die Unterlegenheit der Frau getarnt wird.“ Ist das noch aktuell? | |
| Schrupp: Ja. Die Gleichstellung hat bewirkt, dass sich Frauen in ein System | |
| hineinassimiliert haben, umgekehrt aber nicht. Männer übernehmen nach wie | |
| vor nicht wesentlich mehr Care-Arbeit, und Frauen sind unzufrieden, weil | |
| die Probleme weiterhin bestehen. Was zu kurz gekommen ist, sind | |
| Neuverhandlungen zwischen Männern und Frauen darüber, wie Welt und | |
| Gesellschaft aussehen sollen. | |
| taz: Kritiker sagen, der Differenzfeminismus mit seinem Kult der | |
| Weiblichkeit zementiere die Rollenzuschreibungen. | |
| Schrupp: Ich verstehe dieses Argument einfach nicht. Denn es geht eben | |
| darum, durch die Befreiung des weiblichen Begehrens einen Weg aus den | |
| Stereotypen herauszufinden. Die Differenzfeministinnen haben sich übrigens | |
| immer gegen ein „Wir“ der Frauen, also gegen die Idee einer Gruppe, die | |
| gemeinsame Interessen vertritt, ausgesprochen. Sie haben stets Wert auf | |
| Unterschiede gelegt, auch unter Frauen, und versucht, eine Praxis zu | |
| finden, die gegen weiblichen Konformismus vorgeht. | |
| taz: Welche Rolle spielt die intersektionale Dimension dabei, wenn also | |
| andere Formen der Diskriminierung dazukommen? | |
| Schrupp: Wenn man die Differenz unter Frauen in den Mittelpunkt stellt, | |
| dann ist es naheliegend, dass man für Intersektionalität offen ist. Denn | |
| aus dieser Perspektive sind Frauen, die anders sind, keine Bedrohung, | |
| sondern interessante Beziehungspartnerinnen, mit denen man diskutieren und | |
| sich austauschen kann. Dennoch gibt es Unterschiede: Der intersektionale | |
| Ansatz stellt das „Was man ist“ in den Mittelpunkt, der differenzdenkende | |
| Ansatz hingegen das „Wer man ist“. Zum „Was man ist“ gehören etwa die | |
| Herkunft, die Hautfarbe und die soziale Position, aber das eigentlich | |
| Interessante ist doch, was eine dann daraus macht. Die Italienerinnen | |
| nennen es „Politik in erster Person“, sie sind gegen eine Politik der | |
| Repräsentation. | |
| taz: Dennoch ist nicht nur die eigene Selbstdefinition wichtig, sondern | |
| auch, wie man von anderen wahrgenommen wird und welche | |
| Diskriminierungserfahrungen man deshalb macht. | |
| Schrupp: Auch eine Erfahrung von Diskriminierung oder Gewalt determiniert | |
| nicht, wer man danach ist. Die Idee der Italienerinnen ist, dass weibliche | |
| Freiheit dort entsteht, wo Frauen sich in einem freien Austausch | |
| miteinander eigene Urteile bilden, ohne sich zu fragen, welche Reaktion die | |
| Gesellschaft von ihnen erwartet. Zum Beispiel [1][das Thema | |
| Vergewaltigung]: Früher wurde das als Scham empfunden. Heute tritt | |
| [2][Gisèle Pelicot] in Frankreich öffentlich auf und sagt, dass die Scham | |
| die Seite wechseln muss. | |
| taz: Sie haben ein Buch über das „Schwangerwerdenkönnen“ geschrieben. Kom… | |
| das Thema Schwangerschaft im Gleichstellungsfeminismus zu kurz? | |
| Schrupp: Ja, und wenn es vorkommt, dann vor allem als Problem. Das hat sich | |
| leider auch im Queerfeminismus fortgesetzt, der das Thema Reproduktion | |
| lange ausgeklammert hat. In den letzten Jahren hat sich das im | |
| Queerfeminismus zwar geändert, dem Thema wurde mehr Aufmerksamkeit | |
| geschenkt. Aber es ist immer noch so, dass die Erfahrung der | |
| Schwangerschaft kleingeredet wird. Es stimmt, dass nicht alle Menschen | |
| schwanger werden können oder wollen, ich selbst habe keine Kinder. Aber | |
| alle Menschen kommen nur durch eine Schwangerschaft zur Welt. Wir müssen | |
| unsere Gesellschaft so gestalten, dass das Schwangerwerden ganz normal ist | |
| und selbstverständlich in unsere Abläufe integriert wird. | |
| taz: Reden wir über den Queerfeminismus: Da geht es darum, Rechte zu | |
| erweitern und somit alle Geschlechter und Identitäten zu schützen. Wie | |
| stehen Sie dazu? | |
| Schrupp: Ich stehe als Differenzfeministin und Anarchistin dem Einklagen | |
| von Rechten grundsätzlich skeptisch gegenüber. Ich bin der Meinung, dass | |
| der Staat nicht die Instanz ist, von der man sich die Freiheit erhoffen | |
| soll. Ich sehe ein, dass es sinnvoll ist, Errungenschaften in einen | |
| gesetzlichen Rahmen zu überführen, aber man darf sich davon nicht zu viel | |
| versprechen. Außerdem bedeutet jedes Recht eine Grenzziehung, die wiederum | |
| den Ausschluss anderer bedeutet, da zum Beispiel nicht alle Menschen | |
| Staatsbürger sind. Das gleiche Problem sehe ich übrigens auch bei der | |
| Finanzierung von feministischen Projekten. | |
| taz: Inwiefern? | |
| Schrupp: In Italien sind feministische Projekte fast immer selbstfinanziert | |
| und können deshalb nicht von der Regierung weggespart werden. In | |
| Deutschland hängen sehr viele Projekte vom Staat ab. Ihnen würde ich raten, | |
| eine gewisse politische Resilienz zu entwickeln. | |
| taz: Zuletzt wurde viel über ein [3][Urteil des obersten Gerichtshofs in | |
| Großbritannien] gesprochen. Demnach sind trans Frauen rechtlich keine | |
| Frauen. Wie sehen Sie das? | |
| Schrupp: Es ist natürlich eine falsche Entscheidung. Aber es ist wieder ein | |
| Beispiel dafür, dass einem Menschen ein Recht gegeben und wieder genommen | |
| werden kann, je nach Mehrheitsverhältnissen. | |
| taz: Aber was ist denn die Alternative? | |
| Schrupp: Die Alternative ist, die symbolische Ordnung – also das, was in | |
| den Köpfen der Menschen ist – zu ändern. Wie es die Frauenbewegung | |
| geschafft hat. Als politische Strategie finde ich es besser, Gesetze, die | |
| Rechte von Menschen schützen sollen, erst einzuführen, wenn diese Ideen | |
| bereits in der Bevölkerung verankert sind. Ein banales Beispiel: Es wäre | |
| besser, erst in den eigenen Kneipen und Orten genderneutrale Toiletten | |
| einzuführen, als dies per Gesetz vorzuschreiben. Denn Menschen, die diese | |
| Diskussion nicht kennen, könnten dies als Affront empfinden. Dadurch | |
| besteht die Gefahr, dass am Ende binäre Toiletten gesetzlich geschützt | |
| werden. | |
| taz: Nochmal zu den Rechten von trans Personen. Gibt es im italienischen | |
| Differenzfeminismus transphobe Positionen? | |
| Schrupp: Ja, die gibt es. Ich glaube aber, dass sowohl [4][aggressive TERFs | |
| (Das Akronym steht für „Trans-Exclusionary Radical Feminist“, also radikale | |
| Feminist*innen, die trans Personen ausschließen; Anm. d. Red.)] à la J. K. | |
| Rowling, als auch trans Aktivistinnen, die sich intensiv mit dem Thema | |
| auseinandergesetzt haben, eine Minderheit sind. Ich persönlich habe eine | |
| klare Meinung dazu: Ich bin pro trans. Soweit ich es sehe, befürworten auch | |
| die meisten Feministinnen emotional die Rechte für trans Personen. Aber | |
| viele scheuen sich, ihre Meinung zu artikulieren, weil sie sich nicht gut | |
| mit der Materie auskennen, oder Angst haben, überhaupt darüber zu sprechen, | |
| weil das Thema so aufgeladen ist. Das ist schlecht. Ich wünsche mir im | |
| Feminismus eine größere Streitkultur, die ermutigt, über Differenzen und | |
| Unsicherheiten zu diskutieren. | |
| taz: In Italien ist die Leihmutterschaft wie auch in Deutschland verboten, | |
| in Italien ist auch deren Nutzung im Ausland unter Strafe gestellt. Auch | |
| einige Feministinnen sind dagegen, wie stehen Sie dazu? | |
| Schrupp: Ich finde, dass es eine Möglichkeit geben sollte, dass Menschen, | |
| die Kinder geboren haben, nicht die Eltern dieser Kinder sind. Aber anstatt | |
| darüber zu streiten, ob man für oder gegen die Leihmutterschaft im Status | |
| quo ist, sollten wir lieber darüber diskutieren, unter welchen Bedingungen | |
| Elternschaft unabhängig vom Gebären organisiert werden könnte. Meiner | |
| Meinung nach darf die Übertragung der Elternschaft erst nach der Geburt | |
| stattfinden. Und jeder Versuch, in die Schwangerschaft einzugreifen, sollte | |
| ausgeschlossen sein – eine Schwangere ist ein freier Mensch und kann leben, | |
| wie sie will. | |
| 24 Jul 2025 | |
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