| # taz.de -- Prozess von Gisèle Pelicot: Wie umgehen mit Opfern sexualisierter … | |
| > Gisèle Pelicot hat ihre mutmaßlichen Peiniger vor Gericht gebracht. Für | |
| > Betroffene wie sie muss sich aber nicht nur in Frankreich noch viel | |
| > verbessern. | |
| Bild: Gisèle Pelicot umgeben von Journalist*innen nach dem Prozess am 27. Nove… | |
| Dieses Opfer ist zugleich [1][Heldin]: Gisèle Pelicot. Die heute 71-jährige | |
| Französin war von ihrem Ehemann und anderen Männern narkotisiert und | |
| vergewaltigt worden – über Jahre. Sie wehrte sich, zog vor Gericht. Diese | |
| Woche wurden in Avignon die Schlussplädoyers gehalten. | |
| [2][Pelicot wird weltweit Respekt gezollt] für ihren Mut. Auch für das | |
| Thematisieren ihrer Verletztheit, für ihre Solidarität mit anderen Opfern | |
| und ihre Aufforderung: „Die Scham muss die Seiten wechseln“. | |
| Es ist und bleibt das Patriarchat mit all seinen Verästelungen, in dem | |
| derartige Verbrechen stattfinden. Und es ist nicht das erste Mal, dass die | |
| Öffentlichkeit Details grausamer Sexualstraftaten diskutiert. Umso | |
| befremdlicher, dass sich so wenig ändert. | |
| Darüber, was genau ihr angetan wurde, konnte Pelicot nichts berichten, weil | |
| sie währenddessen sediert war. Andere könnten darüber sprechen, tun es aber | |
| nicht. Zudem gab es Videos. Das ist in Sexualstrafprozessen nicht immer der | |
| Fall, oft fehlen Beweise wie Videos, oft gibt es keine Zeug*innen. Dann | |
| steht Aussage gegen Aussage. Manche Opferanwältin und mancher psychosoziale | |
| Berater sagen: Wenn mein Kind Opfer einer Vergewaltigung wird, zeige ich | |
| nicht an. Denn was dann kommt, ist zu schlimm und die Chance einer | |
| Verurteilung gering. | |
| ## Zu oft bleibt sexualisierte Gewalt straffrei | |
| Was bedeutet das? Es führt dazu, dass [3][sexualisierte Gewalt] oft | |
| straffrei bleibt. Und das ausgerechnet in einem Feld der tiefen Verletzung | |
| der körperlichen Unversehrtheit, der sexuellen Selbstbestimmung. Den einen | |
| Hebel, um das zu ändern, gibt es nicht. Aber es gibt viele kleine | |
| Stellschrauben, die zusammen etwas Großes bewirken könnten. | |
| Da ist die Möglichkeit, opfersensibel zu vernehmen. So kann die Polizei | |
| darauf achten, dass Tatverdächtige und Geschädigte sich bei der Vernehmung | |
| nicht im Flur begegnen. Oder man kann einfach weitermachen, wie ‚man es | |
| immer gemacht hat‘. | |
| Da ist die Notwendigkeit, Opfer endlich besser zu unterstützen. | |
| Frauenhäuser und Beratungsstellen helfen Betroffenen, sich zu stabilisieren | |
| und durch Verfahren zu kommen. Es gibt nur leider viel zu wenige, eine | |
| flächendeckende Finanzierung fehlt. Das Gewalthilfegesetz sollte die | |
| Unterstützung gesetzlich absichern. Ein Entwurf liegt vor, er sollte | |
| dringend verabschiedet werden. Ob dies noch in dieser Legislaturperiode | |
| gelingt, ist fraglich. | |
| Da ist die Position von Richter*innen, dass Opfer vor oder während eines | |
| Verfahrens keine Therapie machen sollten – dies würde die Aussage | |
| verfälschen. Dabei kann man sich in einer Therapie (zunächst) auf die | |
| Stabilisierung konzentrieren, das tangiert die Erinnerung an die Tat nicht. | |
| Dennoch hält sich dieses Gerücht hartnäckig und hat abschreckende Wirkung | |
| auf Betroffene. Wenn sich Eltern entscheiden müssen, ob sie für ihr Kind | |
| wegen Schlafstörungen einen Therapieplatz suchen oder warten, bis das | |
| Strafverfahren abgeschlossen ist, entscheiden sich vermutlich viele für die | |
| Therapie, statt ihr Kind ein Jahr lang leiden zu sehen. | |
| ## Wem glaubt das Gericht? | |
| Da ist die Rechtsprechung zur Nullhypothese des Bundesgerichtshofs. Bei | |
| Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen beauftragen Gerichte häufig ein | |
| aussagepsychologisches Glaubhaftigkeitsgutachten. An dieses hat der | |
| Bundesgerichtshof 1998 konkrete Anforderungen formuliert. So habe die | |
| sachverständige Person zunächst anzunehmen, dass die Aussage unwahr sei. | |
| Um diese Hypothese zu prüfen, hat sie eine Strategie zu entwickeln. Wenn | |
| sich die Annahme der Unwahrheit nicht bestätigt, ist von einer wahren | |
| Aussage auszugehen. Diese Gutachten spielen für strafrechtliche Prozesse | |
| eine große Rolle. Wenn es nur die Aussagen der mutmaßlichen Opfer und Täter | |
| gibt, ist entscheidend, welche das Gericht als glaubhaft ansieht. | |
| Die Kritik an den Strafprozessen und der Rechtsprechung ist massiv. Für | |
| viele Betroffene ist der Eindruck, dass die sachverständige Person ihnen | |
| nicht glaubt, retraumatisierend – eben, weil sie genau diese Erfahrung | |
| schon früher gemacht haben. Betroffene beschreiben, dass sie sich bei der | |
| Begutachtung hilflos und ausgeliefert gefühlt hätten – Gefühlszustände, d… | |
| sie bei der Gewalt selbst bereits hatten. | |
| Insbesondere bei Opfern, die stark belastet von den Taten sind und/oder von | |
| fortgesetzten Taten traumatisiert sind, etwa jahrelanger Missbrauch im | |
| Kindesalter, wird die Methode der Begutachtung als unangemessen angesehen. | |
| Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass traumatisierende Erlebnisse | |
| Auswirkungen auf die Gedächtnisleistung, aber auch auf die emotionale | |
| Verarbeitung und auf kognitive Fähigkeiten haben können. Für besonders | |
| vulnerable Gruppen stellt dieses Verfahren eine Benachteiligung dar. | |
| Angesichts der Relevanz von Glaubhaftigkeitsgutachten im Strafprozess kann | |
| es nur verwundern, dass eine Rechtsprechung von 1998 bis heute nicht mit | |
| den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Gedächtnisforschung und anderen | |
| Disziplinen abgeglichen wurde. | |
| ## Nachholbedarf bei der opfersensiblen Behandlung | |
| Bei aller Kritik darf nicht außen vor bleiben, dass Nebenklage und | |
| psychosoziale Prozessbegleitung die Situation für Betroffene erheblich | |
| verbessern können. Auch bei der Polizei, in Staatsanwaltschaften und | |
| Gerichten gibt es durchaus opfersensibel geschulte Engagierte, aber es sind | |
| noch zu wenige. | |
| Die Französin Gisèle Pelicot hat eine wichtige öffentliche Diskussion | |
| angestoßen. Auch in Deutschland sollte der Fall zum Anlass genommen werden, | |
| endlich die lang bekannten und dringend notwendigen Verbesserungen für | |
| Betroffene umzusetzen. | |
| Dabei müssen Opfer sexualisierter Gewalt selbst entscheiden können, ob eine | |
| Anzeige für sie das Richtige ist, statt diesen Weg zu verwerfen, weil sie | |
| Angst haben müssen, dass sie auf dem Rechtsweg nicht ausreichend geschützt | |
| sind. | |
| 9 Dec 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Franziska Drohsel | |
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