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# taz.de -- Forscherin über seltenen Fund aus KZ: „Es wurden verbotene polit…
> Die Musikwissenschaftlerin Christine Oeser hat erstmals Liedsammlungen
> aus dem KZ Buchenwald untersucht. Das waren oft aufwendige Hefte.
Bild: Blatt aus der musikalischen Szene „Sen południowych wód“ („Ein S�…
taz: Frau Oeser, wann wurde im KZ Buchenwald und anderen Lagern gesungen?
Christine Oeser: Da gab es einmal das verordnete Singen – auf dem
Appellplatz, beim Ein- und Ausmarsch der Arbeitskolonnen, aber auch,
während Mitgefangene gefoltert und hingerichtet wurden. Dann mussten die
Häftlinge Lieder singen wie das „[1][Buchenwaldlied]“, das diffamierende
„Judenlied“ oder „Liegt ein Dörflein mitten im Walde“, ein Schlager von
Arno Holz aus den 1930er-Jahren. Wobei es zwischen dem verordnetem und dem
selbstbestimmtem [2][Musizieren] viele Graustufen gab: Vieles wurde von den
SS-Wachmannschaften toleriert, wenn sie die Lieder zum Beispiel für
unbedenklich hielten. Das Singen konnte aber jederzeit auch Strafen nach
sich ziehen – eine Sicherheit gab es also nie. Daneben wurde im Geheimen
gesungen, zum Beispiel Widerstands- und Arbeiterlieder.
taz: Welche Lieder haben Sie nun in den Sammlungen aus Buchenwald gefunden?
Oeser: Die Sammlungen enthalten nur zu einem Drittel KZ-Lieder. Der
Großteil der dort aufgezeichneten Lieder entstand also nicht im
Konzentrationslager. Wir finden vielmehr alles, was damals populär war:
Volkslieder, Operettenschlager, Nationalhymnen, Lieder der deutschen
Jugendbewegung, des Wandervogels, Arbeiter-, Soldaten- und Partisanenlieder
und Schlager aus sowjetischen Propagandafilmen der 1930er Jahre.
taz: Und wovon handeln speziell die KZ-Lieder?
Oeser: Die Gefangenen setzen sich darin mit Belastungssituationen des
Lageralltags auseinander, wie Hunger, Tod oder der Trennung von ihren
Familien. Kazimierz Tymiński zum Beispiel wurde während seiner
Gefangenschaft Vater, bekam ein Foto ins Lager geschickt und sah so
erstmals seine Tochter. Ein Mitgefangener verfasste daraufhin für ihn ein
Gedicht, das Tymiński als Wiegenlied vertonte. Der polnische Komponist
Józef Kropiński dagegen verarbeitete in einem Lied seine Verzweiflung
angesichts der Lagerhaft. Das Lied mit dem Titel „Rezygnacja“
(Resignation)endet mit dem Tod des Häftlings, der beschließt, in den
elektrisch geladenen Stacheldraht zu gehen. Es gibt aber auch aufbauende
Lieder. Insgesamt zeichnen sich unterschiedliche Formen der Bewältigung des
[3][Lageralltags] ab, die von Selbstbehauptung und Selbstbehauptung bis zu
Hoffnung, Gemeinschaftsbildung und sogar Humor reichen.
taz: Wie äußerte sich der Humor?
Oeser: Zum Beispiel in Form von Kontrafakturen, also der Unterlegung
bekannter Melodien mit humorvollen Texten. Die Bewacher hörten dann ein
bekanntes Volkslied und bemerkten aus der Entfernung nicht, dass die
Melodie nur Tarnung war.
taz: Wie viele Liedsammlungen aus Buchenwald sind erhalten?
Oeser: Untersucht habe ich sieben Sammlungen. Es gibt aber Hinweise darauf,
dass noch weitere existierten. Drei der untersuchten Liedsammlungen haben
deutsche Gefangene zwischen 1938 und 1945 angefertigt. Vier weitere
entstanden als „Kollektivschöpfungen“ in den späten Kriegsjahren zwischen
1943 und 1945. Federführend waren hier polnische Gefangene. Auch diese
Sammlungen enthalten überwiegend Liedtexte, außerdem Gedichte, Widmungen,
Tagebucheinträge, Aquarelle, Zeichnungen, Unterschriften und Fotografien.
Zudem überliefern sie die – im Zuge meines Projekts erstmals vollständig
rekonstruierte – musikalische Szene „Ein Südseetraum“, arrangiert von J�…
Kopiński, der in Buchenwald viele Lieder und eine Oper komponierte.
taz: Diente der Gesang auch der Selbstvergewisserung?
Oeser: Durchaus. Gleich bei der Ankunft im Konzentrationslager wurden den
Gefangenen alle Kennzeichnen ihrer Identität genommen – durch das Entfernen
der Haare und der eigenen Kleidung. Was man den Gefangenen aber nicht
nehmen konnte, war ihre Bildung, ihre Erfahrungen und Werte. Durch das
Singen ihrer Lieder vergewisserten sie sich ihrer kulturellen Identität.
taz: Aber warum wurden so aufwendige Hefte angelegt?
Oeser: Die Liedsammlungen erfüllten viele Funktionen. Sie wurden als
Gesangbücher und Kompositionshefte genutzt, um eigene Schöpfungen
festzuhalten. Für die Verfasser waren sie „Tagebücher in Liedern“, die
halten, das Erlebte zu verarbeiten. Eine Besonderheit stellen die
„Kollektivschöpfungen“ dar, die einerseits eine Nähe zum Erinnerungsalbum
aufweisen und andererseits als Lagerchroniken das künstlerische Leben für
die Nachwelt dokumentieren.
taz: Wer waren die Liedsammler?
Oeser: Bei den hier untersuchten Liedsammlern handelte es sich um deutsche
und polnische politische Gefangene. Zu den deutschen gehörten die
Magdeburger Buchbinder Max Göhrmann, Willy Settner und Willly Jentsch. Bei
den polnischen Liedsammlern handelte es sich um den Autor Edmund Polak, den
Journalisten Wacław Czarnecki, den Schlosser Józef Pribula und den
Bergbauingenieur Kazimierz Tymiński. Tymiński war leidenschaftlicher
Pianist, der in seiner Autobiografie beschreibt, wie ihm die Musik half,
das Lager zu überstehen: Für sein Akkordeonspiel verschaffte ihm ein
Blockführer Lebensmittel und eine bessere Unterkunft. Außerdem war Tymiński
in der Widerstandsorganisation der Gefangenen aktiv, was Hilfeleistungen
durch die Mitgefangenen begünstigte.
taz: Welche Rolle spielten die Liedsammler im Lager?
Oeser: Meine Recherchen legen nahe, dass es sich um einen Kreis
[4][privilegierter Häftlinge] handelt. So sind zum Beispiel keine
Liedsammlungen jüdischer Häftlinge aus Buchenwald überliefert. Die
Liedsammler hatten einen politischen Hintergrund, etwa im [5][polnischen
Widerstand] gegen die deutschen Besatzer oder in der SPD und KPD. In
Buchenwald fanden sie Kontakt zur Widerstandsorganisation der Gefangenen –
dem illegalen Lagerkomitee.
taz: Wo konnte man im KZ gefahrlos singen?
Oeser: „Harmlose“ Lieder sangen die Häftlinge – so sie noch Kraft und Mu…
fanden – in ihren Unterkünften. Und dann gab es Orte, die sowohl den
Gefangenen als auch der SS nur begrenzt zugänglich waren, wie den
Häftlingskrankenbau, das Krematorium und die Pathologie. An diesen vor
Entdeckung relativ sicheren Orten wurden verbotene „politische“ Lieder
gesungen.
taz: Und Sie haben die Buchenwalder Liedsammlungen erstmals erforscht?
Oeser: Es gab immer wieder Forscher:innen, die die Bedeutung dieser
Sammlungen erkannt haben. So etwa die Berliner Volksliedforscherin Inge
Lammel, die etliche Liedsammlungen aus Sachsenhausen zusammentrug und
Anthologien herausgab. Im Zuge der Geschichtsschreibung der DDR wurden sie
jedoch recht einseitig dargestellt und vor allem der politische Charakter
in den Blick genommen. Daneben wurden KZ-Liedsammlungen in einigen
[6][musikgeschichtlichen Untersuchungen] erwähnt. Mein Ziel war es nun, die
Sammlungen einmal als eigenständige Quellenform zu betrachten und
einzuordnen. Diese Betrachtungsweise ist in der Tat neu. Dafür habe ich
einen [7][innovativen Ansatz] gewählt, um die gesamte Bandbreite der
Aussagemöglichkeiten zu erschließen.
taz: Welchen?
Oeser: Ausgehend von einem quellenkritischen Ansatz, habe ich mich aus
verschiedenen Perspektiven mit den Sammlungen befasst. Ein Schwerpunkt lag
auf der Analyse aller Liedtexte mittels computergestützter qualitativ
strukturierender Inhaltsanalyse. Vers für Vers habe ich geschaut, von
welchen Themen die Lieder handelten. Die so gefundenen Kategorien habe ich
in ein Programm eingespeist, das einen Überblick bot über die
unterschiedliche Darstellung der Themen und inhaltliche Schwerpunkte der
Sammlungen. Diese Themen habe ich dann auf Bezüge zum Lageralltag
überprüft. Oft handelten die Lieder von Gefangenschaft, Krieg, harter
Arbeit, Krankheit, Hunger und Tod oder von Sehnsucht, Liebe, Freundschaft.
taz: Wie gut sind die Liedsammlungen jetzt zugänglich?
Oeser: Bisher wurden nur wenige Seiten der Liedsammlungen aus Buchenwald in
Monografien veröffentlicht. Die vollständigen Sammlungen sind also in
Archiven zugänglich. Im Zuge meiner Forschung habe ich die in sieben
Sprachen verfassten Liedtexte übersetzen lassen und die Melodien der
KZ-Lieder herausgegeben. Aktuell plane ich die Herausgabe eines
Liederheftes, das begleitend zu meiner Dissertation erscheinen soll.
20 Dec 2024
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[7] https://www.stiftung-gedenkstaetten.de/en/reflexionen/reflexionen-2024/musi…
## AUTOREN
Petra Schellen
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