# taz.de -- NS-Archiv in den Niederlanden: Datenschutz bremst Digitalisierung | |
> Die Niederlande wollen eine umfangreiche Dokumentensammlung über | |
> NS-Kollaborateure digital zugänglich machen. Daraus wird erst mal nichts. | |
Bild: Historie, etikettiert und verwahrt: Mitarbeiterin im niederländischen Na… | |
Den Haag taz | Das neue Jahr beginnt in den Niederlanden für zahlreiche | |
Menschen mit einer Enttäuschung: Eigentlich hatte das Nationalarchiv in Den | |
Haag am 2. Januar eine besondere und außerordentlich heikle | |
Dokumentensammlung online öffentlich zugänglich machen wollen: 425.000 | |
Akten über Personen, die in der Zeit der Deutschen Besatzung zwischen 1940 | |
und 1945 der Kollaboration verdächtigt wurden. Die Öffnung nach 80 Jahren | |
geht auf die Archivgesetzgebung zurück, die Online-Verfügbarkeit des | |
digitalisierten Materials wiederum auf ein besonderes Projekt namens Oorlog | |
voor de Rechter („Krieg vor dem Richter“). | |
Doch daraus wird vorläufig nichts. Grund dafür sind Bedenken bezüglich der | |
Privatsphäre von Personen, die in dem 3,8 Kilometer langen Centraal Archief | |
Bijzondere rechtspleging (CABR) Erwähnung finden. Vorgebracht werden sie | |
von der unabhängigen Datenschutzbehörde Autoriteit Persoonsgegevens (AP). | |
Diese findet, die Öffnung verstoße gegen gesetzliche Bestimmungen. Auf | |
ihrer Website heißt es, das betreffende Material enthalte strafrechtlich | |
relevante Details womöglich noch lebender Personen – sowohl von | |
Verdächtigen wie von deren Opfern – und persönliche Dokumente wie | |
Tagebücher, Briefe oder Fotos. Die könne man nicht einfach digital | |
zugänglich machen. | |
„Dieses Archiv ist von großer gesellschaftlicher Bedeutung und bietet neue | |
Möglichkeiten, um dahinter zu kommen, was in der Vergangenheit geschehen | |
ist. Aber die Art, wie das Nationalarchiv das CABR online zugänglich machen | |
will, verstößt gegen das Archivgesetz und die Datenschutzverordnung“, | |
begründet die Behörde ihre Entscheidung. Empfindliche Informationen könnten | |
dabei öffentlich Verbreitung finden, etwa über soziale Medien. „Diese | |
unbegrenzte Zugänglichkeit bringt alles in allem unnötig große | |
Privatsphärenrisiken mit sich.“ | |
Immerhin: Persönlich vor Ort eingesehen werden können die betreffenden | |
Akten beim Zentralarchiv dagegen von nun an wie geplant. Auch das eine | |
Neuerung ab diesem Jahr, denn bisher konnten nur Wissenschaftler*innen, | |
Betroffene oder deren Familien einen Antrag auf Akteneinsicht stellen. Nun | |
kann das jede*r tun. Entsprechend großes Medieninteresse herrschte im | |
Foyer des Archivs am ersten Arbeitstag nach Neujahr. Afelonne Doek, die als | |
Allgemeine Reichsarchivarin auch mit an der Spitze des Archivs steht, ging | |
in einer kurzen Ansprache auf die ambivalente Situation ein und betonte, | |
früher oder später werde das größte Kriegsarchiv des Landes wie geplant | |
auch allgemein online zugänglich sein. | |
„Öffentlichkeit von Informationen ist ein wichtiger Aspekt in einer | |
demokratischen Gesellschaft und trägt zur Transparenz bei, damit | |
Bürger*innen das Handeln des Staats nachvollziehen können. Archive sind | |
dabei äußerst bedeutsam um die Vergangenheit zu verstehen“, so Doek. Dass | |
die vollständige Öffnung vorerst „aufgeschoben“ sei, bedauert sie. „Ich | |
hätte es uns allen gegönnt, als Gesellschaft und individuell, diese | |
schwierige Vergangenheit zu verarbeiten und auch heiklen Fragen ins Gesicht | |
zu sehen.“ | |
Wie eine Sprecherin des Archivs der taz sagte, begrüße man die Initiative | |
des zuständigen Ministers für Bildung, Kultur und Wissenschaft, Eppo | |
Bruins. Dieser hatte im Dezember eine Änderung des Archivgesetzes in | |
Aussicht gestellt, um im Zweifelsfall entscheiden zu können, ob | |
Privatsphäre oder der öffentliche Zugang zu Archiven schwerer wiegen. | |
„Dieses Kriegsarchiv ist von unschätzbarem Wert für historische Forschung, | |
das Lebendighalten der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und für | |
Angehörige, die auf der Suche nach Informationen sind“, kommentierte der | |
Minister. | |
Bei der Abwägung, die Bruins hier erwähnt, handelt es sich freilich nicht | |
nur um einen prinzipiellen, technischen Zielkonflikt. Das Thema | |
Kollaboration hat auch 80 Jahre nach der Befreiung noch gehöriges | |
Sprengpotenzial – in einer Gesellschaft, die sich die Mär der kollektiven | |
Tätigkeit im Widerstand gegen die nazideutsche Besatzung allzu lange selber | |
glauben wollte. Dabei war Kollaboration und der Verrat von Jüdinnen und | |
Juden gegen Kopfgeld weit verbreitet. Mit rund 102.000 Ermordeten, drei | |
Viertel der jüdischen Bevölkerung, hatten die Niederlande die relativ | |
höchste Opferzahl im besetzten Westeuropa. | |
Die verzögerte Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld wiederum führte | |
dazu, dass die Frage, wer während des Kriegs „fout“ war, also auf der | |
falschen, nämlich der deutschen Seite stand, nach wie vor heikel ist. | |
Gerade in kleinen, ländlichen Gemeinschaften, in denen die Öffnung des | |
Archivs durchaus für Anspannung sorgt. Die Bezeichnung „NSBler“ – | |
verweisend auf die damalige Nationaal-Socialistische Beweging – wird bis | |
heute als Schimpfwort verwendet. | |
## Öffentliche Diskussion als heilsam | |
Gerade vor diesem Hintergrund, so die besagte Archiv-Sprecherin, könne die | |
völlige Öffnung der Akten dafür sorgen, dass eine gesellschaftliche | |
Diskussion in Gang käme, die einen heilsamen Charakter habe. Helfen soll | |
dies zudem auch Angehörigen von Opfern, die zu alt sind, um persönlich nach | |
Den Haag zu fahren oder sich eine Reise nicht leisten könnten. | |
Margo Weerts, Direktorin der jüdischen Wohlfahrtsstelle Joods | |
Maatschappelijk Werk (JMW) und Mitglied im Ethikbeirat des | |
Digitalisierungsprojekts, erklärte unlängst in der jüdischen Zeitschrift | |
Nieuw Israëlitisch Weekblad: „Die Leute wollen nicht nur wissen, wer ihre | |
Familie verraten hat, sondern sie suchen auch nach jedem bisschen | |
Information über das Schicksal ihrer Familie in der Schoah.“ | |
2 Jan 2025 | |
## AUTOREN | |
Tobias Müller | |
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