| # taz.de -- Wählerwanderung in den USA: So viele Schwarze Stimmen | |
| > Mehr Schwarze Männer als je zuvor wählten die Republikaner. Warum? Eine | |
| > Spurensuche in der Schwarzen Hauptstadt der USA. | |
| Bild: Trump-Unterstützer:innen bei einer Wahlkampfveranstaltung am 15. Oktober… | |
| Ich werde dir jetzt etwas sagen, was ich noch nie jemandem erzählt habe.“ | |
| Christopher Strather zögert kurz. Nein, sagt er dann mit fester Stimme, er | |
| könnte niemals einen Schwarzen dafür verurteilen, dass er seine Stimme | |
| nicht Kamala Harris gegeben hat. Er atmet aus, holt tief Luft. „Als 2008 | |
| alle Obama wählten, habe ich den Republikaner John McCain gewählt.“ Jetzt | |
| ist das große Geheimnis gelüftet. Strather traute Barack Obama die | |
| Präsidentschaft damals schlicht nicht zu; ihm fehlte die | |
| Regierungserfahrung, sagt er. Erst als Obama 2015 die „Ehe für alle“ | |
| verabschiedete und das Weiße Haus in Regenbogenfarben aufleuchtete, öffnete | |
| sich Strathers Herz für Obama. Er, Christopher, 51 Jahre alt, ein schwuler | |
| Schwarzer Mann, weinte an diesem Tag wie ein Baby. | |
| Kamala Harris blieb bei der Präsidentschaftswahl am Dienstag in vielen | |
| ländlichen Regionen und Vorstädten hinter den Erwartungen zurück. Mehr als | |
| die Hälfte aller Latino-Männer stimmten für Trump. Und auch mehr Schwarze | |
| als je zuvor gaben Donald Trump ihre Stimme, obwohl sie eigentlich als | |
| loyale demokratische Wähler:innen gelten. Landesweit wählten nur 7 | |
| Prozent der Schwarzen Frauen Trump, doch über 20 Prozent der Männer. Schon | |
| im Vorfeld spekulierten amerikanische Medien monatelang über deren | |
| Beweggründe. | |
| „Ihr kommt mit allen möglichen Gründen und Ausreden daher“, sagte Barack | |
| Obama im Oktober in einem emotionalen Wahlkampfauftritt in Pennsylvania. | |
| „Damit habe ich ein Problem. Ein Teil von mir denkt, dass ihr einfach keine | |
| Lust auf eine Frau als Präsidentin habt und euch andere Gründe dafür | |
| einfallen lasst.“ | |
| Der Bundesstaat Georgia hat einen der größten Bevölkerungsanteile Schwarzer | |
| Bürger:innen in den USA. Im Gespräch mit einem Dutzend Schwarzer Männer | |
| in der Hauptstadt Atlanta, mit jungen und älteren, Akademiker:innen, | |
| Angehörigen der Mittelschicht und der Arbeiterklasse lässt sich nicht | |
| wirklich ein Muster erkennen, kein roter Faden: Die Entscheidung für Harris | |
| oder Trump, oder aber für keinen der beiden, war mal opportunistisch, mal | |
| irrational – oft aus einem Bauchgefühl heraus getroffen. | |
| ## 2016 war der Schmerz enorm gewesen | |
| Der Tag nach der Präsidentschaftswahl ist ein wolkenverhangener grauer | |
| Herbsttag. Christopher Strather ist ein Mensch mit tiefer Stimme und | |
| gutmütigen Augen, die sich zu Schlitzen zusammenziehen, wenn er lächelt. Er | |
| lispelt so stark, dass man ihn manchmal kaum versteht. Strather sitzt auf | |
| einer Holzbank in seinem Stammlokal NoMas, ein beliebtes mexikanisches | |
| Restaurant im Viertel Castleberry Hill im Zentrum Atlantas. Castleberry | |
| Hill ist ein ehemaliges Industriegebiet mit alten Lagerhäusern, politischen | |
| Graffitti und schicken Loftwohnungen. Hinter Strather stehen bunte Tonvasen | |
| und Statuen von rauchenden Mexikanern mit Sombreros, an der Decke leuchten | |
| Lampenschirme aus Stroh. Strather wirkt gehetzt, unruhig, trinkt nichts, | |
| isst nichts. Gleich müsse er zurück zur Arbeit, man warte auf ihn. Er | |
| managt eine Immobilienfirma. | |
| Strather schlief selig durch in der Wahlnacht, sagt er. Am Morgen wachte er | |
| auf und wunderte sich über seinen Gleichmut, die gute Laune. Der Kampf war | |
| vorüber. Auf den Ausgang hatte er sich vorbereitet. Er freute ihn nicht, | |
| störte ihn aber auch nicht allzu sehr. Spätestens seit Trumps Team in einem | |
| Werbeclip gezeigt hatte, wie Harris in einem Interview 2019 sagte, sie | |
| würde Geschlechtsumwandlungen für trans Menschen in kalifornischen | |
| Gefängnissen unterstützen, wusste er, sie würde es schwer haben. | |
| Steuergelder in solche Extravaganzen fließen zu lassen – so etwas wollten | |
| selbst demokratisch gesinnte Wähler:innen nicht, schon gar nicht die | |
| Schwarzen, die in gesellschaftspolitischen Fragen oft konservativ tickten. | |
| Wie passt diese gleichmütige Reaktion zu einem Menschen wie Strather, der | |
| noch am Vortag, dem Wahltag, gesagt hatte, die Ungewissheit fühle sich an | |
| wie „Warten auf die Resultate eines Tests auf Geschlechtskrankheiten“? Seit | |
| Monaten hatte Strather jeden Nachrichtenfetzen, jeden Werbeclip gesichtet, | |
| den ihm das Internet zuspülte. | |
| Zu viele Steine hätten Kamala Harris den Weg zur Präsidentschaft versperrt. | |
| Der größte von allen: Sie sei eine Frau in einem sexistischen und | |
| rassistischen Land, noch dazu eine Schwarze. Joe Biden war unbeliebt, | |
| Harris konnte sich trotzdem nicht gegen ihn stellen. Jetzt aber ist | |
| Christopher Strather nur noch stolz darauf, dass Harris einen „damn good“, | |
| einen makellosen Wahlkampf ausgefochten habe. | |
| 2016, erinnert Strather sich, war der Schmerz enorm gewesen. Nichts davon | |
| empfindet er heute. Trump sei ein Monster, das ja. „Aber mir persönlich | |
| kann das Monster nichts anhaben“, sagt Strather. „Sie sperren | |
| Migrantenkinder in Käfige. Das sind nicht meine Kinder. Sie verbieten | |
| Abtreibungen. Ich brauche keine Abtreibung.“ Strathers große und einzige | |
| Befürchtung, sagt er, seien der Oberste Gerichtshof und die Bundesgerichte. | |
| Was, wenn Trump weitere konservative Richter einsetzt und so die wichtigste | |
| Kontrollinstanz der Regierung auf Jahrzehnte hinaus mit einer | |
| stockkonservativen Auslegung des geltenden Rechts prägt? | |
| ## Südliche Bundesstaaten als „Testgelände“ für das rechtsextreme „Pro… | |
| 2025“ | |
| Schon während seiner letzten Amtszeit hatte Trump 200 konservative, | |
| vorwiegend junge, weiße Männer auf Lebenszeit an die Bundesgerichte | |
| Amerikas berufen und damit sein Erbe gefestigt. In seinem Kopf versteht | |
| Strather, wie gefährdet die Demokratie ist. Aber er fühlt es nicht, | |
| zumindest nicht heute und auch nicht in den Tagen danach. | |
| Spricht man auf den Straßen Atlantas in den Tagen nach der Wahl davon, dass | |
| Trumps Sieg in Deutschland ein regelrechtes Beben ausgelöst hat, reagieren | |
| die Leute nicht selten mit großem Erstaunen. Von Bestürzung ist hier wenig | |
| zu spüren. Nur eine Frau, eine Ärztin und Lobbyistin für | |
| Reproduktionsrechte, sagt, sie hätte sich dazu entschieden, ihre Tochter | |
| zum Studium nach Europa zu schicken. Die USA sei für junge Frauen im | |
| gebärfähigen Alter kein sicherer Ort mehr, es fehle die Versorgung. | |
| Immer weniger Studierende wollten wegen der restriktiven Abtreibungsgesetze | |
| an den Universitäten der südlichen Bundesstaaten studieren, immer weniger | |
| junge Ärzt:innen ihre medizinische Ausbildung hier angehen. Viele | |
| Kliniken hätten bereits geschlossen. Was die Republikaner bald auf | |
| nationaler Ebene durchsetzen wollten, spiele sich heute schon in einzelnen | |
| Bundesstaaten wie Florida, Tennessee und auch Georgia ab. Diese Staaten | |
| dienten als „Testgelände“ für das rechtsextreme „Project 2025“ der | |
| Republikaner. | |
| Alles wie immer, zucken andere mit den Schultern. Viele haben gar nicht | |
| gewählt, es würde sowieso nichts bringen. Dass möglicherweise ihre eigene | |
| Zukunft an diesem vermaledeiten Dienstag besiegelt wurde – sie glauben | |
| einfach nicht daran. Auch hier in Atlanta gibt es natürlich die | |
| Verzweifelten, die politisch Trauernden, die sogenannte Elite, zu der auch | |
| Journalist:innen, Kunst- und Kulturschaffende gehören. Nur muss man die | |
| erst einmal finden. | |
| ## Die Armen und der Milliardär | |
| Die Obdachlosigkeit muss in Atlanta, Geburtsstadt von Martin Luther King, | |
| Heimat von Coca-Cola und CNN, niemand suchen. Die Gegend um Downtown ist | |
| heruntergekommen, Drogenabhängige, Sexarbeiterinnen und andere vom Leben | |
| gebeutelte Gestalten wanken durch die Straßen, kauern auf dem Asphalt, | |
| fristen ihr Dasein in Decken eingewickelt in ihren Rollstühlen. Frühmorgens | |
| schläft eine vermummte Person auf dem Fensterplatz in der U-Bahn, neben ihr | |
| ein Kleinkind, sein Kopf ruht auf dem nackten Plastiksitz. Die winzigen | |
| roten Stiefelchen passen nicht auf den Sitz, die Beine hängen herunter und | |
| baumeln. Hinter den beiden haben sich zwei weitere Kinder wie Kätzchen in | |
| ihre Jacken zusammengerollt und schlafen. | |
| Atlanta ist eine überwiegend demokratische Stadt. Aber im Rest Georgias | |
| wählt man seit 1992 republikanisch. Es war eine Ausnahme, dass Joe Biden | |
| hier 2020 mit nur 12.000 Stimmen über Trump siegte, so knapp wie sonst | |
| nirgendwo in den Vereinigten Staaten. Weil rechte Republikaner:innen | |
| sich weigerten, dieses Ergebnis zu akzeptieren, wurde Georgia plötzlich zum | |
| Schauplatz von Trumps Versuch, die Wahl zu manipulieren. | |
| [1][„Georgia was stolen“, log Trump damals und forderte vom obersten | |
| Wahlbeamten, einem Republikaner, in einem Telefonat die fehlenden Stimmen | |
| „irgendwie zu finden“]. Doch niemand konnte einen Betrug nachweisen, Biden | |
| blieb Präsident. Am Dienstag war die Atmosphäre in den Wahllokalen | |
| aufgeheizt. Tausende Demokraten berichteten im Vorfeld von | |
| Einschüchterungsversuchen durch Rechtsextreme, Anwälte arbeiteten Tag und | |
| Nacht an gegen republikanische Versuche, Menschen von den Wahllokalen | |
| fernzuhalten. | |
| Bevor Christopher Strather von seiner Holzbank aufsteht und zu seinem Job | |
| zurückeilt, spricht er die Kellnerin an. „Entschuldigen Sie, ich suche nach | |
| einem Kellner. Jung, Schwarz und recht aggressiv, ein Trump-Verfechter. | |
| Wissen Sie, wen ich meine?“ Die junge Kellnerin lacht und nickt wissend. | |
| „Torrence!“ | |
| Strather erzählt, wie der Kellner Torrence sich vor einigen Wochen in sein | |
| Tischgespräch im NoMas einmischte. Wie er laut verkündete, niemals für | |
| Harris zu stimmen, ohne dass ihn jemand gefragt hätte. Torrence solle man | |
| befragen. | |
| ## „Illegale Migrant:innen“ in Hotelunterkünften | |
| Am nächsten Mittag taucht Torrence Davis, 42, der keine drei Gehminuten vom | |
| Restaurant entfernt wohnt, eine halbe Stunde zu spät auf. Ohne | |
| Entschuldigung. Davis ist ein charismatischer, direkter Typ, der nie | |
| innehält und kaum zuhört. Davis ist weder dumm noch besonders rechts, er | |
| hört den liberalen öffentlichen Radiosender NPR und hat trotzdem Donald | |
| Trump seine Stimme gegeben. Die Argumente, die er dafür vorbringt, sind | |
| eine Mischung aus populistischem Halbwissen, Verharmlosung, aber auch | |
| legitimer Kritik an der demokratischen Politik. | |
| Davis sagt Dinge wie: „Die Entscheidung war eine wie zwischen zwei Tellern, | |
| von denen auf dem einen Kotze, auf dem anderen Scheiße lag.“ Oder: „[2][Ob | |
| Russland die Ukraine einnimmt, ist mir egal.] Auf meinem Weg von zu Hause | |
| zum Restaurant leben 17 Obdachlose, einer schläft jede Nacht im Gebüsch, | |
| wer kümmert sich um die?“ | |
| Aber wie kommt Davis auf den Gedanken, dass sich Donald Trump, ein | |
| Milliardär und notorischer Lügner, für diese Obdachlosen interessiert? | |
| Sein Leben lang, antwortet Davis, hätte er die Demokraten gewählt. Hillary | |
| Clinton sei eine furchtbare Kandidatin gewesen, trotzdem habe er für sie | |
| gestimmt. Trump lag damals jenseits von dem, was Davis als „normale | |
| Unerträglichkeit eines Politikers“ befand. Als sein Onkel 2016 als Erster | |
| in der Familie Trump wählte, stritten sich die beiden monatelang. Auch vor | |
| vier Jahren unterstützte Torrence Davis noch Joe Biden. | |
| Was muss passieren im Leben eines Kellners, der sieben Tage die Woche acht | |
| Stunden am Tag arbeitet und im Monat zwischen 4.000 und 6.000 Dollar | |
| verdient, damit er Donald Trump unterstützt? | |
| Nichts Weltbewegendes. Dass Sexismus im Spiel sei, leugnet Davis, zumindest | |
| sei das bei ihm nicht der Fall. Sein Schlüsselmoment sei gewesen, als er | |
| von den Hotelzimmern erfuhr. Davon, dass „illegale Migrant:innen“ in von | |
| Steuergeldern finanzierten Hotelunterkünften lebten. | |
| Tatsächlich kamen in New York Neuankömmlinge zwischenzeitlich auch in | |
| Hotels unter, weil die Notunterkünfte voll waren – eine Situation, auf der | |
| die Republikaner gern herumreiten. | |
| ## Die letzte Brücke zur Arbeiterklasse verloren? | |
| Torrence Davis sagt, er habe weder etwas gegen Einwanderer, noch gegen | |
| Schwule oder trans Menschen, im NoMas arbeiteten sie alle friedlich | |
| zusammen. Aber es gebe Dinge, die zu weit gingen. Die Demokraten | |
| versuchten, Menschen gegeneinander auszuspielen. | |
| Harris, die mantrahaft einen „neuen Weg nach vorn“ ankündigte und | |
| versprach, dass „wir gewinnen, wenn wir kämpfen“, glaubte er kein Wort. | |
| Wohin dieser Weg führen sollte und was wirklich in ihrem Kopf vorging, | |
| blieb für Davis unklar. Mit Bernie Sanders, sagt er, hätten die Demokraten | |
| ihre letzte Brücke zur Arbeiterklasse verloren. | |
| Die Mutter von Torrence Davis war Zahnarzthelferin, der Vater bei der | |
| Airforce. Er selbst machte eine Ausbildung zum Computerfachmann, heiratete | |
| jung, ließ sich nach der Geburt von zwei Kindern scheiden, fiel in ein | |
| psychisches Loch und wurde obdachlos. Dabei hatte er immer einen Job. Eines | |
| Tages saß er nachts in seinem Auto, bibberte vor Kälte und fragte sich: | |
| „Wie konnte ich so tief fallen?“ | |
| Heute sind Davis’ drei Kinder 17 und 16, die jüngste Tochter ist 11. Er hat | |
| ein stabiles Familienleben. Ob die Kinder studieren wollen, sollten sie | |
| selbst entscheiden, sagt er. Davis weigert sich, ein Opfer Schwarzer | |
| Geschichte zu sein. Er glaubt nicht an systemischen Rassismus, hält nichts | |
| von Identitätspolitik und Reparationszahlungen, lehnt die | |
| Black-Lives-Matter-Bewegung ab. „Jeder Weiße, der dich zur Verantwortung | |
| ziehen will, weil du Scheiße baust, soll Rassist sein?“ Vielleicht ist | |
| diese Perspektive selbst Ausdruck eines Privilegs – in Atlanta zu leben, | |
| der Schwarzen Hauptstadt der USA. | |
| Die Wahlnacht verbrachte Torrence Davis im NoMas, mit Mitarbeiter:innen, | |
| Freund:innen, Nachbar:innen. Einer war mit einer roten Käppi gekommen, dem | |
| Markenzeichen der „Make America great again“-Bewegung von Donald Trump. | |
| Davis verzieht das Gesicht, als er davon spricht. Er selbst hatte | |
| zähneknirschend getan, was er aus seiner Sicht tun musste. Ein guter Tag | |
| sei der Wahltag deshalb noch lange nicht gewesen. | |
| 10 Nov 2024 | |
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| Marina Klimchuk | |
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