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# taz.de -- Influencer entdecken Affogato: Ertrinken in Lebensfreude
> Der Affogato ist Getränk und Nachtisch zugleich. Jetzt wurde er von
> Influencern entdeckt – und wird dennoch jeden Trend überdauern.
Bild: Der Affogato hat simple Zutaten und kennt viele Variationen
Wer seinen Affogato im „Bostich“ nahe dem Berliner Ludwigkirchplatz trinkt,
wird Zeuge einer beglückenden Zeremonie. Zunächst bringt die Bedienung
einen gläsernen Kelch mit einer perfekt abgerundeten Kugel Vanilleeis an
den Tisch. Die zweite Komponente, der Espresso, wird aus einem schmucken
silbernen Kännchen vor dem Gast aufgegossen.
„Affogare“, das ist Italienisch und bedeutet ertrinken. Das Bostich ist
eigentlich ein französisches Bistro. Erst im letzten Jahr entschied man
sich, den kleinen Italiener auf die Karte zu nehmen. Ein kulinarischer
Querschläger, der nicht nur gut in das Lokal passt, sondern auch in die
Zeit.
In die Speisekarte fügt sich der Affogato so geschmeidig ein, weil er der
Philosophie eines klassischen Bistros folgt. Er ist einfach, aber
schmackhaft; im Prinzip besitzt er schlichtweg die Qualität der verwendeten
Zutaten. „Ein gutes, selbstgemachtes Vanilleeis und ein doppelter Espresso.
Mehr braucht man nicht“, sagt Assanee Meguid vom Bostich, der jedoch auf
eines hinweist: Der Espresso müsse aus einer dunklen Arabica-Röstung
gezogen werden, die fruchtigeren Trendvarianten kämen nicht gegen die Süße
des Vanilleeises an.
In unsere Zeit passt der Affogato, weil er wie gemacht ist für die sozialen
Netzwerke: Egal, ob der Espresso direkt aus der Siebträgermaschine kommt
oder den Umweg durch ein Kännchen nimmt, die Produktionsdauer übersteigt
nie die [1][Aufmerksamkeitsspanne durchschnittlicher Tiktok- oder
Instagram-User:innen].
Dabei gibt es eine Vielzahl verschiedener Zubereitungsvarianten. Die wohl
prominenteste stammt aus Florenz. In der Traditionseisdiele Vivoli wird das
Eis in die Tasse gespachtelt, sodass in der Mitte eine Aussparung bleibt.
Diese besitzt die Form eines Spielkarten-Karos und fängt den Kaffee auf.
Der US-Fotograf und Filmemacher Sam Youkilis trank dort 2023 einen Affogato
und schrieb danach an seine 600.000 Follower, einen besseren habe er noch
nie gehabt. Die Folge: Das Vivoli wurde zu einem Influencer-Hotspot, über
5.000 Bewertungen und beinahe ebenso viele Fotos finden sich heute bei
Google. 350 Portionen wandern hier pro Tag über den Tresen, heißt es. Im
Bostich, so Meguid, sind es etwa 15.
## Funktioniert nicht nur im gepflegten Ambiente eines Abendlokals
Womöglich passt der Affogato auch deshalb so gut zur Gegenwart, weil er
angenehm unverbindlich ist: Er dient als Getränk und Nachtisch
gleichermaßen, beschließt den Abend, ohne so schwer im Magen zu liegen wie
eine kapitale Süßspeise. Gleichzeitig strahlt er mehr Lebensfreude aus als
ein nackter Kaffee. Und: Der Affogato funktioniert nicht nur im gepflegten
Ambiente eines Abendlokals. Auch auf den Kunststoffstühlen einer Eisdiele,
an der der Verkehr dreispurig vorbeirauscht, schmeckt er ganz hervorragend.
Nur sollte man zur Sicherheit schauen, ob die Eisdiele über eine
[2][ordentliche Kaffeemaschine] verfügt.
Wärme trifft auf Kälte. Süße trifft auf Bitterkeit. Flüssiges trifft
Festes, das schließlich ebenfalls flüssig wird. Ein schlüssiges Spiel der
Kontraste und der Viskositäten, dessen Wurzeln im Dunkeln liegen und das im
Übrigen auch im Winter Sinn ergibt; seinen Ruf der Sommerspeise hat der
Affogato wohl, weil viele Eisdielen im Winter geschlossen haben. Das
„Italien der 1950er Jahre“ wird allgemein als Ursprung genannt.
Dokumentiert wurde er selten, erst ab den nuller Jahren findet er seinen
Weg in italienische Kochbücher.
Das Internet kennt mittlerweile die unterschiedlichsten Varianten, etwa den
Magnum-Affogato, bei dem ein Miniatur-Stileis gleicher Marke als
Umrührinstrument und Geschmacksgeber zugleich dient, oder den von der
Trendschokolade abgeleiteten und latent protzigen Dubai Affogato mit,
genau, einem ordentlichen Schlag Pistazienmus und einem dekorativen
Nussrand, sowie den White Russian Affogato, bei dem der Kaffee durch
Kaffeelikör und einen doppelten Wodka ersetzt wird.
Als typischer Gastro-Trend wird der Affogato auch gern an die Jahreszeiten
angepasst: Im Herbst kommt er in der [3][Pumpkin-Spice-Variante], im Winter
trägt er ein Spekulatius-Mützchen. Nun gehört eine geringe Halbwertszeit
zum Wesenszug von Trends, derlei Abwandlungen werden in spätestens zwei
Jahren niemanden mehr interessieren. Der Affogato wird das aushalten.
Einfach, aber schmackhaft: Das funktioniert immer, im Bostich, im Vivoli
und anderswo.
25 Nov 2024
## LINKS
[1] /Wie-TikTok-das-Musikverhalten-aendert/!5747674
[2] /Suendhaft-teure-Espresso-Maschine/!5807218
[3] /Pumpkin-Spice-Latte-als-Trend/!6044514
## AUTOREN
Jochen Overbeck
## TAGS
italienische Küche
Vanille
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