Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Sollte Kunst wirklich nützlich sein?: Über allen Zweifel erhaben
> Multiple Krisen fördern den Trend zu einer gesellschaftlich engagierten
> Kunst. Das ZKM in Karlsruhe zeigt, auf welcher Tonlage sich der Diskurs
> bewegt.
Bild: Das Kollektiv CATPC verkauft mit „Balot NFT #140“ das digitale Zertif…
Darf die Kunst noch Rätsel, kunstimmanenter Diskurs oder zum Niederknien
schön sein? Sie darf schon, aber die große Bühne gehört derzeit den
Engagierten. Schon vor zwei Jahren verkündete der Kunstwissenschaftler
Wolfgang Ullrich, dass die Zeit der autonomen Kunst vorbei sei.
In seiner kürzlich erschienenen Publikation analysiert er nüchtern eine
zeitgenössische Kunst, die der Identifikation und dem Empowerment dient,
wie es schon zu Zeiten feudaler Herrschaftsverhältnisse üblich war. Heute
jedoch soll die Kunst der Aufklärung, dem Kampf für eine bessere Welt
gelten.
Wie die Geschichte des 2016 gegründeten Kollektivs CATPC (Cercle d’Art des
Travailleurs de Plantation Congolaise). Sie könnte das Zeug zu einem
modernen Märchen haben. Sie kehrt die koloniale Logik der Ausbeutung um,
indem die Aktivisten sich den Mechanismen des westlichen Kunstbetriebs
bedienen.
Mit dem Verkauf von NFTs (Non-Fungible Token, ein Kryptowert) bringt CATPC
sich wieder in den Besitz des Landes ihrer Vorfahren, das die Firma
Unilever vor mehr als hundert Jahren für eine Plantage zur Gewinnung von
Palmöl in Besitz nahm. Nach ihrer Stilllegung in den 1990er Jahren ist das
Land ausgelaugt und muss rekultiviert werden.
CATPC bei der Biennale von Venedig
Die Idee zu dem Bitcoin-Deal stammt von dem niederländischen
Konzeptkünstler Renzo Martens, der jetzt auch auf der Kunstbiennale von
Venedig gemeinsam mit CATPC den Niederländischen Pavillon bespielt – das
heute britische Unilever war bis 2020 zu großen Anteilen ein
niederländisches Unternehmen.
Renzo Martens und CATPC verbinden eine emanzipatorische Bewegung mit
historischen Bezügen. Zum Symbol machen sie eine zeremonielle Skulptur der
auf dem Plantagengebiet ansässigen Volksgruppe der Pende. Sie wird heute im
Virginia Museum of Fine Arts aufbewahrt. Die Pende-Figur zeigt den
Kolonialoffizier Maximilian Balot.
Der Legende nach soll Balot 1931 versucht haben, die Männer der Region des
heutigen Lusanga zur Arbeit auf der Plantage zu zwingen, in dem er eine
ihrer Frauen vergewaltigte. Diese archaische Machtdemonstration bezahlte
der belgische Offizier mit seinem Leben. Widerstand und Aufruhr waren die
Folge. [1][Martens und CATPC bieten 306 Versionen] der an den Vorfall
erinnernden Figur als NFT an.
Ausstellung im ZKM in Karlsruhe
Das Projekt wird rund um den Globus gefeiert. Und es ist eine von sechs
„künstlerischen Schlüsselpositionen“ der Ausstellung „Fellow Travellers.
Kunst als Werkzeug, die Welt zu verändern“ im Zentrum für Kunst und Medien
(ZKM).
Das ZKM in Karlsruhe hat seit seiner Gründung 1989 mit seinen prominenten
Direktoren – dem Kunsthistoriker Heinrich Klotz und dem
[2][Medientheoretiker und Künstler Peter Weibel] – im Kunstdiskurs wichtige
Akzente gesetzt. Man schaut also hin, was im ZKM passiert. Dessen neuer
Direktor, der britische Kurator Alistair Hudson, zeigt nach mehr als einem
Jahr Aufwärmphase eine programmatische Schau. Sie steht für die Abkehr vom
bisherigen Schwerpunkt Medienkunst: Kunst soll nicht länger Selbstzweck
sein, sondern useful, gesellschaftlich nützlich.
Dafür hat er sich mit der kubanischen Künstlerin Tania Bruguera
zusammengetan, Ideengeberin für das Archiv Arte Útil. Bruguera verfolgt
dezidiert eine politische Agenda. Vor einigen Jahren [3][protestierte sie
auf Kuba mit einer tagelangen Hannah-Arendt-Lesung gegen] das repressive
kommunistische Regime des Inselstaats, eine Wiederaufführung der
Performance Anfang dieses [4][Jahres in Berlin musste allerdings abrupt
beendet] werden, nachdem sie von einer propalästinensischen Protestgruppe
gestürmt wurde.
In einem Video, das in der ZKM-Schau zu sehen ist, konkretisieren Bruguera
und der von den Sozialutopien John Ruskins inspirierte ZKM-Chef ihren
Kunstbegriff. Im spanischen útil stecke nicht nur der Aspekt des
Nützlichen, auch das Wort Werkzeug. Gemeint ist also Kunst als Tool, um
verhärtete Strukturen aufzulösen, Missstände zu beheben. „Ethisch und
ästhetisch“ solle sie sein, sind sich Hudson und Bruguera einig. Knapp
dreihundert Beispiele sind bisher auf der Website Arte Útil gelistet.
Großangelegte Projekte
Alistair Hudson setzt im ZKM auf großangelegte, nachhaltig konzipierte
Projekte. Wie der Bitcoin-Deal von CATPC, der bereits in der Kunstwelt
international Akzeptanz gefunden hat. Oder das von dem polnischen Kurator
Kuba Szreder verantwortete Projekt „Matters of Evidence“.
Es versammelt Initiativen, die faktisch aufklären und mit forensischen
Methoden politische oder historische Narrative umkehren wollen. Im Zentrum
steht Natalia Romiks Recherche, die Fluchtorte von Juden in Polen nach dem
Einmarsch der Deutschen 1939 sichtbar macht.
Ihr Projekt, das schon in Warschau, Szczecin und Frankfurt am Main als
Kunst ausgestellt wurde, vereint Archivrecherchen mit Oral History und
technologischen Methoden wie 3D-Scanning. Teil der Präsentation sind
versilberte Abdrücke von Teilen der authentischen Verstecke. Sie stehen wie
bizarre Wächterfiguren vor den Vitrinen, doch eine eigene Präsenz, wie sie
eine l’art pour l’art erreichen kann, haben Romiks Objekte nicht.
Auch der brasilianische Architekt Paulo Tavares ist in der Kunstszene kein
Unbekannter. Tavares arbeitet seit Jahren an der Dekolonisierung des
Architekturbegriffs. Im ZKM sind 3D-Scanning-Visualisierungen zu sehen, die
nachweisen, dass das Amazonasgebiet keineswegs unberührte Natur darstellt,
sondern durch Indigene kultiviert wurde. Er macht etwa auf seinen Bildern
historische Siedlungen sichtbar, die das Volk der Xavante als
architektonisches Erbe durch die Unesco anerkennen lassen möchte.
Schwer nachprüfbare Recherchen
Das ist alles ungeheuer spannend und interessant, aber manchmal schwer
nachprüfbar. Anfang des Jahres war eine Recherche der in der Kunstszene
viel Vertrauen genießenden [5][Gruppe Forensic Architecture zu einem
israelischen Angriff in Gaza in die Kritik geraten]. Die sich als Künstler
verstehenden Mitglieder widmen sich der Aufdeckung von
Menschenrechtsverletzungen. Forensic Architecture ist dafür kürzlich sogar
mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet worden.
Auch Tavares gehört zu der Organisation. Wenn es um politische Krisen oder
sogar den Vorwurf des Völkermords geht, wünscht man sich dann doch eine
klare Trennung von Fakten und Kunst zurück.
Dass viele Künstler gesellschaftlich Einfluss nehmen möchten, ist nicht
überraschend. Die Avantgarden des 20. Jahrhunderts hatten die konkrete
Einmischung in Politik und Gesellschaft bereits erprobt. Zudem besteht
heute in einer internationalen Kunstwelt der Wunsch, sich auf einen
globalen Kunstbegriff zu einigen, der jenseits ästhetischer Traditionen
steht.
Da irritiert es nicht, wenn Förderer des Netzwerks Arte Útil bereits 2016
in Warschau über ein gemeinsames postartistisches Zeitalter diskutierten.
Man fragt sich aber, ob die Idee einer nützlichen Kunst eigentlich bis zu
Ende gedacht worden ist. Und ob es nicht einen Missbrauch darstellen kann,
wenn sie als Werkzeug für eine mutmaßlich bessere Welt eingesetzt werden
soll. Der Bereich der Kunst sollte letztlich ein autonomer Raum bleiben, in
dem Themen aller Art verhandelt werden können. Nur so kann die Kunst
einigermaßen frei sein.
Gute Absichten reichen nicht
Zumindest darf man gesellschaftlich motivierter Kunst nicht unkritisch
begegnen, auch wenn die vielen engagierten Projekte aufgrund ihrer guten
Absichten über jeden Zweifel erhaben scheinen. [6][Das hat auch die letzte
documenta gezeigt, als unbemerkt antisemitische Bilder] ihren Weg in die
Ausstellung gefunden haben.
Politischer Aktivismus von Kunstschaffenden, etwa die Forderung von der
Gruppe Art Not Genocide Alliance (ANGA), Israel aufgrund des Kriegs in
Nahost von der diesjährigen Biennale von Venedig auszuschließen, bedient
sich ausschließlich der Mittel des Protests. Das kann man machen, ist aber
keine Kunst. Hier zumindest lässt sich eine rote Linie ziehen, um sich in
dem unübersichtlich gewordenen Feld künstlerischer Einmischungen noch ein
paar letzte Elemente autonomer, freier Kunst zu bewahren.
1 Nov 2024
## LINKS
[1] /Die-Kunst-der-Woche-fuer-Berlin/!5834340
[2] /Nachruf-auf-Peter-Weibel/!5919647
[3] /Kubanische-Kuenstlerin-zu-Hannah-Arendt/!5989599
[4] /Palaestina-Protest-bei-Kunstaktion/!5991553
[5] /Kritik-an-Forensic-Architecture/!5983353
[6] /Antisemitische-Filme-auf-der-documenta/!5873374
## AUTOREN
Carmela Thiele
## TAGS
wochentaz
Kunst
zeitgenössische Kunst
ZKM
Politische Kunst
Kunstausstellung
Ausstellung
Antisemitismus
Graz
## ARTIKEL ZUM THEMA
95-jährige Künstlerin aus Rumänien: Die in splendider Isolation an der Bombe…
Ihre Bildsprache fand Marion Baruch erst 2012. Ihren Hang zu Design zeigt
ihr nomadisches Werk mit Stoffresten, ausgestellt in Krefeld und Aachen.
Ars Viva für Helena Uambembe: Im Ornament das Verbrechen
Die Kunsthalle Bremen stellt die Künstlerin Helena Uambembe vor. Sie weckt
die Geister der Geschichte aus einer verblüffenden Perspektive.
Antisemitismus im Kulturbetrieb: Was ist Kunst, was Propaganda?
Eine Tagung in Stuttgart fragt nach Antisemitismus im Kulturbetrieb. Unter
anderem wird mehr Aufklärung über islamistische Ideologie gefordert.
Kunstfestival „Steirischer Herbst“ Graz: Kultur, Polizei und alte Geister
Der „Steirische Herbst“ beginnt kurz vor den österreichischen
Parlamentswahlen. Sein Motto „Horror Patriae“ wendet sich gegen
Volkstümelei.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.