| # taz.de -- Graphic Novel von Craig Thompson: Unkraut jäten, Steine sammeln, C… | |
| > In „Ginsengwurzeln“ kehrt Comic-Autor Craig Thompson an den Ort seiner | |
| > Kindheit zurück. In Marathon, Wisconsin, beginnt seine fulminante | |
| > Welterzählung. | |
| Bild: Szene aus Craig Thompson, „Ginsengwurzeln“ | |
| Ginsengwurzeln werden traditionell in der chinesischen Medizin eingesetzt | |
| und vor allem in Asien vielfältig konsumiert. Doch geografisch wählt Craig | |
| Thompsons in seiner jüngsten Graphic Novel mit dem gleichnamigen Titel | |
| einen ganz anderen Ausgangspunkt. „Ginsengwurzeln“, die 450-seitige | |
| Erzählung des US-amerikanischen Zeichners, führt zunächst nach Marathon im | |
| Bundesstaat Wisconsin. | |
| Denn Panax quinquefolius, so der botanische Name für den amerikanischen | |
| Ginseng, wird in der ländlichen Gemeinde, wo Thompson aufwächst, schon seit | |
| über hundert Jahren von den Farmern für den asiatischen Markt lukrativ und | |
| in großem Maßstab angebaut. | |
| Als Erntehelfer verbrachten der 1975 geborene Autor und sein jüngerer | |
| Bruder Phil dort in Wisconsin die Sommerferien kniend in den vielen | |
| Ginsenggärten. Das verdiente Taschengeld investierten die beiden | |
| anschließend wiederum in Comics. | |
| Die bunten Hefte vom Drehständer der Drogerie waren für die Jungs eine | |
| willkommene Abwechslung und zugleich die rettende Inspiration in dem | |
| kulturfernen Alltag ihrer Kindheit. | |
| ## Coming of Age in der Provinz | |
| In der Graphic Novel „Ginsengwurzeln“ kehrt Thompson nun zurück an den | |
| Schauplatz von „Blankets“, seiner vielfach ausgezeichneten Graphic Novel | |
| aus dem Jahre 2003. Der autobiografische Comic erzählt vom Coming of Age in | |
| einem autoritär repressiven Elternhaus in einem fundamentalistisch | |
| evangelikalen Umfeld und von der Tyrannei seiner Mitschüler. | |
| Von diesem Punkt auf der Landkarte, der in den USA abschätzig als „Flyover | |
| Country“ bezeichnet wird, beginnt Craig Thompson seine vielschichtige und | |
| weit verzweigte Welterzählung. | |
| Ursprünglich als Serie aus Einzelheften in den USA ab 2019 veröffentlicht, | |
| entwickelt Craig Thompson sein episches Werk in zwölf Kapiteln. Virtuos | |
| verknüpft er dabei die Entwicklung der Landwirtschaft in den Vereinigten | |
| Staaten mit ihrer dreihundertjährigen Handelsbeziehung zu China mit dem | |
| Schicksal der aus Laos geflüchteten Hmong sowie der eigenen | |
| Familiengeschichte. | |
| Eine anthropomorph dargestellte Ginsengwurzel tritt als die | |
| Hauptdarstellerin der Graphic Novel auf. Sie führt durch Thompsons | |
| zeichnerisches Labyrinth aus Erzählungen, die auf vielfältige Weise in | |
| Beziehungen zu dieser besonderen Heilpflanze stehen. | |
| ## Ginseng in Nordamerika | |
| Deren Kultivierung ist anspruchsvoll und verlangt viel Handarbeit. Eine | |
| Arbeit, die inzwischen fast ausschließlich Migranten erledigen. | |
| Ursprünglich als Wildpflanze in den Wäldern Kanadas zu Hause wird | |
| amerikanischer Ginseng heute von Agrarbetrieben unter Einsatz großer Mengen | |
| von Fungiziden und Pestiziden industriell angebaut. | |
| So leidet Autor Thompson selbst unter einer aggressiven Fibromatose der | |
| Hände. Die Autoimmunerkrankung scheint in engem Zusammenhang mit der von | |
| Pestiziden kontaminierten Landschaft seiner Kindheit zu stehen. | |
| Unter großem Leidensdruck griff er zur Behandlung bald auch auf die | |
| chinesische Medizin zurück, unter anderem mit Ginsengrezepturen. Neben | |
| vielen anderen Ereignissen und enzyklopädischen Exkursen fließen diese | |
| Erfahrungen ebenfalls in die Graphic Novel mit ein. | |
| Über Jahre hat Craig Thompson akribisch recherchiert, ist mit seinem Bruder | |
| nach China und alleine nach Taiwan gereist. In Marathon, in der | |
| Nachbarschaft seiner Eltern, führte er Interviews mit Bekannten, ehemaligen | |
| Arbeitgebern und neuen Ginsengproduzenten. | |
| ## Hmong Community in Wisconsin | |
| In „Kein Zeichentrick mehr“ und den anschließenden Kapiteln erzählt | |
| Thompson von der kurzen Kindheit des fast gleich alten Chua Vang, einem | |
| Ginsengfarmer aus der Hmong Community von Marathon. Dessen Vater sowie | |
| viele andere Heranwachsende dieser Minderheit aus den Bergen von Laos waren | |
| während des Vietnamkrieges von der US-Army rekrutiert und in | |
| Guerillaeinheiten gegen den Vietcong eingesetzt worden. | |
| Nach dem überstürzten Abzug der USA aus Vietnam gelang ihm über Umwege die | |
| halsbrecherische Flucht nach Wisconsin, wo er zusammen mit vielen | |
| vertriebenen Hmong-Familien als Erntehelfer in den Ginsenggärten zu | |
| arbeiten begann. | |
| Craig Thompson hatte als Kind ihre Ankunft auf den Feldern erlebt und auch | |
| die vielen abschätzigen Kommentare über die Fremden gehört. Chua Vang wird | |
| 1977 in Marathon geboren, wo er bis heute mit seiner Familie lebt. Auch | |
| davon erzählt „Ginsengwurzeln“. | |
| Die Menschen, denen er dort nach langer Abwesenheit wiederbegegnet, | |
| zeichnet Thompson nicht als einfältige Hinterwäldler. Auch seine | |
| Protagonisten im ländlichen Wisconsin haben eine Vergangenheit, pflegen | |
| Gemeinsinn und sind durch ihre körperliche Arbeit mit dem Land verbunden. | |
| ## Farmer in globalisierter Welt | |
| Doch es sind auch Leute wie seine Eltern, die den Klimawandel und die | |
| Evolutionstheorie leugnen, Einschränkungen weder bei Schusswaffen noch | |
| Pestiziden akzeptieren und Fremden misstrauen. | |
| Fast beiläufig skizziert er damit das höchst aktuelle und differenzierte | |
| Porträt einer politischen Schicht, deren ländliche Existenz mit dem | |
| technologischen Fortschritt und der zunehmenden Globalisierung längst nicht | |
| mehr Schritt halten kann. | |
| Vor diesem Hintergrund erscheint der Erfolg Donald Trumps | |
| protektionistischer Rhetorik in den agrarindustriell geprägten Regionen der | |
| USA sehr plausibel. In szenischen Rückblenden verfolgt der Ausnahmeautor | |
| gleichzeitig seinen eigenen biografischen Weg zurück zu seiner Herkunft, in | |
| ein familiäres Ambiente, das ihm und seinen Geschwistern weder Bildung noch | |
| persönliche Freiheiten bot. | |
| Abwechslungsreich und detailliert gestaltet der 49-jährige Zeichner die | |
| Seitenabfolge in Rot und Schwarz. Klassische Bildfolgen werden durch | |
| Schautafeln ergänzt, ganzseitige Formate oder historischen Darstellungen | |
| hinzugefügt. | |
| ## Chinesische Schriftzeichen und Ornamentik | |
| Vereinzelt stößt man nebenbei auf Zitate oder Anleihen der | |
| Comic-Geschichte. Als zusätzliche Ebene setzt Thompson chinesische | |
| Schriftzeichen und Ornamentik ein, deren Bedeutung er intensiv nachspürt. | |
| Bereits mit [1][„Habibi“, seiner 2011 veröffentlichten Graphic Novel], die | |
| er als fiktive Erzählung aus einem orientalischen Setting zwischen | |
| Vergangenheit und Gegenwart entwickelte, tauchte der Zeichner tief ein in | |
| arabische Mythen und Zeichensysteme – in Kalligrafie und Numerologie. | |
| Das opulente Epos [2][wurde bei seinem Erscheinen von der Kritik begeistert | |
| gefeiert.] In den USA erlebte der Autor für seine Auseinandersetzung mit | |
| der orientalischen Welt jedoch auch Anfeindungen wegen des Vorwurfs | |
| kultureller Aneignung. Als sein „Ginseng“-Projekt bekannt wurde, tauchten | |
| in Bezug auf China wieder ähnliche Stimmen auf. | |
| In einem Interview mit der spanischen Tageszeitung El Mundo sagt Craig | |
| Thompson dazu: „Sie erkannten nicht, dass es sich um das persönlichste | |
| meiner Werke handelt und dass ich nicht über meine Kindheit sprechen kann, | |
| ohne über die chinesische Kultur zu sprechen.“ | |
| Meisterhaft erkundet der Comic-Autor in „Ginsengwurzeln“ das Potenzial | |
| seines Mediums und verfolgt konsequent eine Erzählmethode, die alles mit | |
| allem verknüpft. Das ist genauso erstaunlich wie folgerichtig. | |
| 26 Oct 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Eva-Christina Meier | |
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