# taz.de -- Kultfilm feiert Jubiläum: „Be cool, Honey Bunny!“ | |
> Quentin Tarantinos „Pulp Fiction“ feiert 30. Geburtstag. Wie konnte der | |
> Film mit seinen aberwitzigen Dialogen und coolen Figuren so groß werden? | |
Bild: Tanzszene des Jahrhunderts: Vincent Vega (John Travolta) und Mia Wallace … | |
Toiletten scheinen für [1][Quentin Tarantino] transformative Orte zu sein. | |
Man tritt sorglos hinein und beim Verlassen ist die Welt nicht mehr so, wie | |
sie war. Etwa als Vincent Vega (John Travolta) austritt, während Mia | |
Wallace (Uma Thurman) zu Urge Overkills „Girl You’ll be a Woman Soon“ sta… | |
Kokain Heroin schnupft und überdosiert – er wird sie nasenblutend und | |
bewusstlos im eigenen Erbrochenen auffinden. | |
Oder im Diner, als Vega [2][auf die Toilette] geht, nur um bei seiner | |
Rückkehr in ein Gefecht zwischen seinem Kollegen Jules Winfield (Samuel L. | |
Jackson) und den kosenamigen Räubern Pumpkin (Tim Roth) und Honey Bunny | |
(Amanda Plummer) zu geraten. Und natürlich als Vega dem Boxer Butch | |
Coolidge (Bruce Willis) in seiner Wohnung auflauert, weil Butch einen | |
Vertrag mit seinem Boss Marsellus Wallace (Ving Rhames) gebrochen hatte. | |
Beim Warten benutzt Vega Butchs Toilette und als der kurz darauf die | |
Wohnung betritt, erschießt er Vega beim Öffnen der Badezimmertür. Wer | |
Toiletten verlässt, tritt in eine Welt des Chaos und der Gewalt. | |
Allen, die im Mai 1994 die Premiere von „Pulp Fiction“ beim | |
[3][Filmfestival in Cannes] besuchten und den Kinosaal für eine kurze | |
Toilettenpause verließen, wird es ähnlich ergangen sein: von einer Welt | |
ohne „Pulp Fiction“ zu einer, in der es den zukünftigen Klassiker geben | |
wird. | |
Tarantinos zweiter Film sollte wenige Tage später die Goldene Palme | |
gewinnen und den Auteur-Regisseur endgültig zur Hollywoodgröße machen. Nach | |
„Reservoir Dogs“ ist „Pulp Fiction“ der zweite von neun Tarantino-Filme… | |
einen hat er noch vorzudrehen, bevor er angeblich seine Tätigkeit | |
niederlegen will. Auf deutschen Leinwänden konnte man „Pulp Fiction“ vor | |
fast genau 30 Jahren, am 3. November 1994, erstmals sehen. | |
## Ein, wenn auch ästhetischer, Brei | |
100-fach interpretiert – Was leuchtet denn nun in diesem Koffer und was hat | |
es mit dem Pflaster auf Marsellus Wallaces Nacken auf sich? – ist der Film | |
bis heute ein Phänomen. Er hat mindestens drei Protagonisten, eine recht | |
banale Handlung, ist nicht chronologisch erzählt, folgt keinem richtigen | |
Handlungsbogen. Es gibt keine Helden, kein Ziel, keine Moral. Ein, wenn | |
auch ästhetischer, Brei. | |
Bevor der Film beginnt, wird der Zuschauer vorgewarnt. Die Definition von | |
„pulp“ wird eingeblendet und liest: „Eine weiche, feuchte, formlose Masse… | |
Und als zweite Definition: „Eine Zeitschrift oder ein Buch, das reißerische | |
Inhalte enthält und typischerweise auf grobem, unfertigem Papier gedruckt | |
ist.“ Reißerisch und formlos. Offenbar ein Erfolgsrezept. | |
Nach diesem 3. November würde man keinen cineastischen Teenager mehr | |
finden, der Tarantino nicht als sein Idol und „Pulp Fiction“ nicht als den | |
coolsten Film aller Zeiten bezeichnen würde. Die letzten Zeilen der | |
Bibelstelle Ezekiel 25:17, „My name is the Lord when I lay my vengeance | |
upon thee“, werden selbst einige der strengsten Atheisten kennen. | |
Und den Tanz, den Mia Wallace und Vega im Restaurant Jack Rabbit Slims beim | |
Twist Contest aufführen, während die Doppelgänger von Marilyn Monroe, Buddy | |
Holly und James Dean die Tische um sie bedienen, würden von da an alle | |
gerne imitieren, wenn irgendwo Chuck Berrys Gitarrenriffs aus „You Never | |
Can Tell“ klingen. | |
„Pulp Fiction“ sprüht nur so von Popkultur und ist mit seiner | |
mega-ultra-hyper-stilisierten Sprache derart zitierbar, dass auch die | |
wenigen, die den Film aus irgendeinem Grund nicht gesehen haben, einige | |
Sätze daraus kennen werden. Winfields „English, motherfucker, do you speak | |
it?“ oder „I dare you, I double dare you“ hallen nicht nur nach. | |
Sie sind zu regelrechten Memes geworden, wie so viele Szenen aus dem | |
Kultfilm. Etwa Vegas Erklärung dafür, dass der „Quarter Pounder“ wegen des | |
metrischen Systems in Europa „Royale with Cheese“ heiße. | |
Auch der Soundtrack ist legendär: Gleich mit den Eröffnungscredits brettert | |
einem das Surf-Rock-Tremolo aus „Miserlou“ – später von den Black Eyes P… | |
gesampelt, manche würden sagen verhunzt – entgegen. Unvergessen sind auch | |
Uma Thurmans elegante Schritte zu „Son of a Preacher Man“, Tarantinos | |
erster von vielen Nahaufnahmen von Schauspielerinnenfüßen – heute sein | |
seltsames Markenzeichen, zuletzt gesehen mit Margot Robbie als Sharon Tate | |
in „Once Upon a Time in Hollywood“. | |
## Vega als das Es, Butch das Ich, Winfield das Über-Ich | |
1996 gönnt sich Tarantino als Schauspieler im Film „From Dusk Til Dawn“– | |
schließlich steht es so im eigens verfassten Skript – eine Kussszene mit | |
Salma Hayaks Füßen. Er schreibt sie sich in den Mund, während Schnaps an | |
ihrem Bein herunterläuft. | |
Ein weiser Twitter-User sagte über den Regisseur mal: „Quentin Tarantino | |
ist der perfekte Name für diesen Freak.“ Tarantinos Cameo-Auftritte waren | |
immer fragwürdig, am fragwürdigsten bleibt jedoch der in „Pulp Fiction“. | |
Etwas zu eifrig schreibt er sich für seine Rolle als Jimmie Dimmick gleich | |
siebenmal [4][das N-Wort] in den eigenen Text. | |
Abgesehen davon, dass nicht alles ideal gealtert ist, ist „Pulp Fiction“ zu | |
mögen fast schon zu einem Witz geworden, so populär, überspielt und auf zu | |
vielen Merchandiseartikeln abgebildet ist der Film. Dass er weiterhin | |
profitabel bleibt, zeigt der Re-Release nach 30 Jahren. | |
Wer „Pulp Fiction“ heute als einen seiner Lieblingsfilme bezeichnet, dem | |
kann man eigentlich nur mit einem Stirnrunzeln begegnen. Zu generisch wirkt | |
diese Antwort, fast wie eine leere Floskel, die nichts und irgendwie doch | |
alles über den Geschmack einer Person verrät. Irgendwie erinnert man sich | |
trotzdem nostalgisch zurück an sein erstes Mal, sein erstes Screening von | |
„Pulp Fiction“. | |
Um den Film kursieren abenteuerliche Theorien, so sehen einige darin eine | |
Manifestation des freudschen Instanzenmodells: Vega als das Es, Butch das | |
Ich, Winfield das Über-Ich – doch im Grunde alle als Teile einer einzigen | |
Person. | |
Andere nehmen „Pulp Fiction“ als das, was es ist: meisterhaft geschrieben | |
und inszeniert mit starken Performances. Und dazu das verdammt Coolste, was | |
du je gesehen hast. | |
2 Nov 2024 | |
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## AUTOREN | |
Valérie Catil | |
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