| # taz.de -- Daniel Burghardt, Elend und Emanzipation: Eine andere Geschichte de… | |
| > Der Erziehungswissenschaftler Daniel Burghardt analysiert eindringlich, | |
| > warum das bloße Beharren auf Leiderfahrungen nicht zur Emanzipation | |
| > führt. | |
| Bild: Binnenvertriebe in einer Schule in Niger | |
| Kein Hunger mehr, keine Ungerechtigkeit, kein unnötiges Leid, stattdessen | |
| bessere Lebensbedingungen für alle: Seit dem 18. Jahrhundert motivierten | |
| diese Utopien progressive Politik, auch wenn über die Wege dorthin | |
| bisweilen heftig gestritten wurde. Doch angesichts des Elends der | |
| Gegenwart, das von den Verwerfungen der Pandemie über die Klimakrise bis | |
| hin zu den jüngsten Kriegen reicht, fehlt solche utopische Zuversicht. | |
| Stattdessen verschaffen sich vermehrt diejenigen Gehör, die weniger an der | |
| Beendigung menschlicher Not interessiert sind als vielmehr an ihrer | |
| partikularen Leiderfahrung festhalten, weil sie sich davon | |
| Distinktionsgewinne und politische Legitimation versprechen. Diese | |
| ernüchternde Gegenwartsdiagnose ist der Ausgangspunkt des Innsbrucker | |
| Erziehungswissenschaftlers Daniel Burghardt, denn „die Position des Opfers | |
| verspricht Aufmerksamkeit und Authentizität“. | |
| Allerdings führt das bloße Leiden weder moralisch noch politisch zwingend | |
| zu vernünftigen Positionen. Auf bemerkenswerte Weise liefert Burghardts | |
| Buch mit einem historisch gesättigten Begriff von [1][Emanzipation] ein | |
| Kriterium, zwischen sinnvollen und inhumanen Politisierungen des Leidens zu | |
| unterscheiden. | |
| ## Aufklärungsoptimismus und soziale Verwerfungen | |
| Durch seine essayistische Darstellung der jüngeren Geschichte – vom | |
| erschütterten Aufklärungsoptimismus nach dem [2][Erdbeben von Lissabon] | |
| über die proletarische Armut des 19. Jahrhunderts bis zu den sozialen und | |
| ökologischen Verwerfungen jüngeren Datums – erscheint das Leid unserer | |
| Gegenwart in neuem, beunruhigendem Licht. | |
| Besonders deutlich wird das am [3][Nahostkonflikt] und den Ereignissen um | |
| den 7. Oktober 2023, die Burghardts Buch in Vor- und Nachwort rahmen. So | |
| verfalle etwa Judith Butlers Verteidigung terroristischer Gewalt und ihre | |
| pauschale Israel-Kritik in ein verheerend einseitiges Weltbild: „Ihr | |
| Kompass der Trauer steht neben einem postkolonialen Magneten, der die Sicht | |
| auf den globalen Antisemitismus verzerrt.“ | |
| Diese Stilisierung der vorgeblich schwächeren Position lenkt von einer | |
| unmenschlichen Politik des Elends ab. Hamas und Co instrumentalisieren das | |
| Leiden der Zivilbevölkerung, um ihren antizionistischen „Befreiungskampf“ | |
| zu rechtfertigen. Mit Emanzipation hat das nichts zu tun. | |
| Diese findet Burghardt vielmehr in der Marx’schen Ökonomiekritik, wonach | |
| sich menschgemachtes Unrecht grundsätzlich abschaffen ließe, weil es | |
| maßgeblich durch kapitalistisches Wirtschaften hervorgerufen wird. | |
| Allerdings haben sich die gesellschaftlichen Konflikte verschoben. So führt | |
| heute das Schulsystem zu neuen Formen sozialer Trennung: „Der Klassenkampf | |
| wird zu einem Klassenzimmerkampf.“ | |
| Während aktuelle Forschungen zum Klassismus besonders symbolische | |
| Diskriminierungen beanstanden, lässt sich aus Burghardts Analysen folgern, | |
| dass soziale Segregation erst aufhört, wenn die Gesellschaft auch | |
| ökonomisch gerechter wird. | |
| ## Das Elend in globalen Süden wird mehr | |
| Zwei Formen von Verdrängung erschweren jedoch laut Burghardt den Kampf für | |
| Gerechtigkeit. Zum einen werden die negativen Folgen wirtschaftlichen | |
| Wachstums an die Peripherie geschoben, was das Elend im [4][Globalen Süden] | |
| mehrt. Zum anderen verinnerlichen und verdrängen die Menschen im | |
| Kapitalismus ihr gesellschaftliches Leiden. Anstatt für eine Humanisierung | |
| der Verhältnisse zu streiten, entwickeln sie sich zunehmend zu autoritären | |
| Rebellen. | |
| Mit seinem hellsichtigen Buch erinnert Burghardt daran, dass die | |
| Überwindung des Elends mehr erfordert als nur Mitleid, nämlich | |
| tiefgreifende gesellschaftliche Transformationen. Zwar gelingt Einzelnen | |
| immer wieder die Emanzipation aus der Not, jedoch bleibt dies eine | |
| unfertige Befreiung, solange sie nicht als „kollektive Konstellation“ | |
| geschieht. Wo diese nicht absehbar ist, hilft nichts als Aufklärung | |
| darüber, was fehlt. | |
| 4 Dec 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Martin Mettin | |
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