# taz.de -- Psychologe über das Vertraute: „Heimat wird gar nicht geschätzt… | |
> Der Begriff „Heimat“ wirkt in der Krise wie ein Kuschelbär fürs Kind. | |
> Diesen stabilisierenden Effekt nutzen Politik und Werbung gleichermaßen. | |
Bild: Mit Kuscheltier wird alles gut. Mit „Heimatliebe“ angeblich auch | |
taz: Herr Maul, bezeichnet Heimat einen Ort oder eine Zeit? | |
Torsten Maul: Sowohl als auch – und noch viel mehr: Heimat ist ein Gefühl, | |
es sind Geräusche und Gerüche, es ist das Vertraute. Andererseits, wie es | |
der Autor Bernhard Schlink formuliert, ist Heimat eine Illusion. Denn die | |
[1][Heimat,] wie wir sie kennengelernt haben, gibt es nicht mehr. Die | |
Eltern sind alt geworden, Freunde weggezogen, die Landschaft hat sich | |
vielleicht verändert. Auch ich wurde älter, meine körperliche Heimat hat | |
sich verändert. Heimatgefühl ist ein komplexes Phänomen, das eine seelische | |
und eine gesellschaftliche Funktion erfüllt. Es ist ja kein Zufall, dass | |
Politik und Werbung so erfolgreich mit Begriffen wie „Heimat“ und „Region… | |
arbeiten. | |
Wie entsteht Heimatgefühl überhaupt? | |
Maul: Die Urheimat ist der Körper der Mutter. Mit der Geburt geht dieses | |
Paradies verloren: Wir müssen selbst essen, ausscheiden, atmen. Dann | |
entdecken wir die Umwelt, lernen Gerüche, Geschmack, Rituale der Familie | |
kennen. Je nach Herkunftsfamilie fühlen sich Menschen später mehr oder | |
weniger beheimatet, zugehörig. Die seelische Funktion des Heimatgefühls ist | |
vergleichbar mit den Kuscheltieren der Kinder. Wenn die Mutter nicht da | |
ist, schützt stellvertretend das Kuscheltier. Ähnlich ist es mit der | |
Heimat. Sie ist eine seelische Konstruktion, ein Ort, dem ich | |
identitätsmäßig verbunden bin. Andererseits ist Heimat außen: ein | |
Landstrich, eine Gruppe, eine Nation. Der Heimatbegriff symbolisiert die | |
Ambivalenz, sich einerseits zugehörig fühlen zu wollen und sich | |
andererseits loszureißen. | |
taz: Warum verfängt der Heimat-Begriff auch bei Menschen ohne „schöne“ | |
Kindheit? | |
Maul: Weil sie ein [2][idealisiertes Bild] von Heimat und Geborgenheit | |
entwickeln, als Gegengewicht zu den Überforderungen des Alltags. So wie das | |
Kind in der Krise sein Kuscheltier holt, greifen Erwachsene nach einem | |
Heimat-Ideal. Die [3][gefährlichste Vorstellung] ist, dass es nur eine | |
„gute“ Heimat gibt, die mit einer definierten Gruppe gleichgesetzt wird und | |
von allem Fremden befreit werden muss, wie es etwa rechtspopulistische | |
Parteien suggerieren. | |
taz: Dabei könnte man ja auch die Heimat pflegen, statt sich in Illusionen | |
zu verlieren. | |
Maul: Allerdings. Aber die Heimat wird gar nicht so geschätzt oder | |
liebevoll behandelt, wie es die „Heimatliebe“ vermuten ließe. Wenn man sich | |
öffentliche Toiletten, Bushaltestellen, die Landschaft, das Miteinander | |
ansieht, zeigen sich ganz andere Impulse: die Lust an Verschmutzung, | |
Zerstörung, Rücksichtslosigkeit, Ausgrenzung. | |
12 Oct 2024 | |
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## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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