| # taz.de -- Kriminalität in Ecuador: In den Händen der Banden | |
| > Ecuador galt in Lateinamerika einst als „Insel des Friedens“. Doch | |
| > angetrieben vom Drogenhandel eskaliert dort die Gewalt. Wohin steuert das | |
| > Land? | |
| Guayaquil taz | Auf den ersten Blick wirkt die Calle 18 wie viele andere | |
| Straßen im dichten Großstadtgewirr von Guayaquil. Frühmorgens kräht aus | |
| einem Hinterhof der Hahn, Kramläden reihen sich aneinander, Restaurants | |
| bieten Mittagsmenüs für drei US-Dollar, und in den vulcanizadoras, den | |
| unzähligen Motorwerkstätten, werden Autos und Roller repariert, bis es | |
| nicht mehr geht. | |
| Doch entlang der Straße im Nordwesten der größten Stadt Ecuadors verläuft | |
| die Grenze zwischen zwei Stadtbezirken – und zugleich jene zwischen den | |
| Territorien zweier rivalisierender Banden, Los Tiguerones („die Tiger“) und | |
| Los Lobos („die Wölfe“). Ihre Präsenz macht sich vor allem abends | |
| bemerkbar. Die Sonne geht in der Äquatorregion früh unter, und die Calle 18 | |
| leert sich merklich. Nur wenige trauen sich in der Dunkelheit noch länger | |
| auf die Straße, zu groß ist die Sorge, überfallen zu werden oder zufällig | |
| in eine Schießerei zwischen Banden zu geraten. Das Leben zieht sich eilig | |
| hinter die schweren Eisenjalousien und Fenstergitter der Häuser und | |
| Geschäfte zurück. | |
| Marías Augen weiten sich, als sie auf die Sicherheitslage angesprochen | |
| wird. Sie schaut alarmiert. „Man muss vorsichtig sein, was man sagt.“ María | |
| betreibt einen Kiosk auf der Calle 18. Wie viele andere Ladeninhaber | |
| bezahle sie Schutzgeld, erzählt sie. Vacunas, wörtlich übersetzt Impfungen, | |
| werden solche Erpressungen in den Ländern der Region umgangssprachlich | |
| genannt. In einigen Vierteln Guayaquils und anderer Küstenorte zahlt | |
| praktisch jeder Haushalt an eine der Banden, allein, um sich zeitweise ein | |
| wenig Ruhe zu erkaufen. | |
| Es ist noch nicht lange her, da sprachen viele von Ecuador als einer isla | |
| de paz, einer sprichwörtlichen Insel des Friedens zwischen den | |
| Nachbarstaaten Kolumbien und Peru, den weltgrößten Kokainanbauländern. 2017 | |
| lag die Rate gewaltsamer Tode im Land bei 5,81 pro 100.000 Einwohner*innen, | |
| ein historischer Tiefstand. Das Land galt als eines der sichersten in | |
| Lateinamerika – heute ist es eines der gefährlichsten. Rund 20 gewaltsame | |
| Tode verzeichnet Ecuador im Juni pro Tag, etwa zehnmal mehr als in | |
| Deutschland, bei einer Bevölkerung von knapp 18 Millionen. | |
| Wie es zu dieser Eskalation der Gewalt kam und wer dafür die Verantwortung | |
| trägt, ist wohl die wichtigste Frage in Ecuadors Politik, und jedes Lager | |
| hat dazu seine eigene Erzählung. Präsident Daniel Noboa rief [1][erst im | |
| Januar] einen internen bewaffneten Konflikt aus – und erklärte den Banden | |
| damit den Krieg. Polizei und Militär gehen nun mit Razzien und Festnahmen | |
| gezielt gegen die Strukturen der Drogenbanden vor. Doch die Verbreitung der | |
| vacunas konnten die Behörden bislang nicht aufhalten – auch weil oft auf | |
| lokaler Ebene die Ressourcen fehlen. Im kommenden Februar stehen wieder | |
| Präsidentschaftswahlen an, und die Sicherheitskrise dominiert schon jetzt | |
| alle politischen Debatten. | |
| Zurück in der Calle 18 beugt sich Eva aus einem kleinen Fenster im | |
| Gitternetz am Eingang ihres Waschsalons. Sie kommt aus Venezuela, vor neun | |
| Jahren ist sie nach Ecuador gezogen. Mehr als 400.000 | |
| Venezolaner*innen kamen in den vergangenen Jahren auf der Suche nach | |
| einem besseren Leben ins Land. | |
| Nein, sie zahle kein Schutzgeld, sagt Eva, „zu uns sind sie noch nicht | |
| gekommen, gracias a diós“. Aber einige andere Geschäfte in der Straße | |
| hätten schon zugemacht, weil sie den Erpressungen nicht nachgeben konnten | |
| oder wollten. Ihre Strategie sei: nicht auffallen, abends nicht ausgehen, | |
| hoffen, in Ruhe gelassen zu werden. Bisher scheint das zu funktionieren, | |
| doch man sieht ihr an, dass ihr die ständige Sorge zusetzt. | |
| Dass sie überhaupt über ihre Situation spricht, ist nicht | |
| selbstverständlich. Manche Viertel Guayaquils sind für Journalist*innen | |
| nicht mehr gefahrlos zugänglich. Wenn es im ecuadorianischen Fernsehen um | |
| die Bedrohungen durch Banden geht, werden zum Schutz vor Racheaktionen | |
| meist nur die Stimmen von Betroffenen eingespielt. In gedruckten Beiträgen, | |
| wie auch in diesem, werden zur Sicherheit die Namen von Anwohner*innen | |
| geändert. | |
| ## Die Demontage des Staates | |
| International operieren Banden wie Los Lobos und Los Tiguerones vor allem | |
| im Kokainhandel. Zu Luft und zu Wasser gelangt es, oftmals in | |
| Containerladungen geschmuggelt, nach Europa oder über Mexiko in die USA. | |
| Doch in Ecuador sind die vacunas für sie nach Einschätzungen von Fachleuten | |
| mittlerweile eine ähnlich große Einkommensquelle. In der Küstenregion, dem | |
| Brennpunkt des Kokainschmuggels, nahmen in den vergangenen Jahren auch die | |
| Schutzgelderpressungen immer mehr zu. | |
| Die bandas criminales rekrutieren die meisten ihrer Mitglieder lokal, vor | |
| allem unter Jugendlichen. 50.000 Menschen gehören ihnen Schätzungen nach | |
| landesweit an. Die Gewalt, die von ihnen ausgeht, erreicht die Menschen | |
| über ihre Fernsehbildschirme auch in den eigenen vier Wänden, täglich. Wie | |
| konnte es so weit kommen? | |
| Für Billy Navarrete, Direktor der Menschenrechtsorganisation Comité | |
| Permanente por la Defensa de los Derechos Humanos (CDH) in Guayaquil, liegt | |
| die Antwort vor allem in der Demontage des Staates. Einen Anfangspunkt | |
| bilden für ihn die landesweiten Proteste gegen das neoliberale Sparprogramm | |
| des ehemaligen Präsidenten Lenín Moreno. 2019 versuchte Moreno, | |
| Subventionen auf Kraftstoffe zu streichen, auch aufgrund von Kreditauflagen | |
| des Internationalen Währungsfonds. Die Reaktion, ein knapp zweiwöchiger | |
| Generalstreik, legte weite Teile des Landes lahm. | |
| Dann kam die Pandemie, auch in Ecuador mit monatelangen Lockdowns und vor | |
| allem wirtschaftlichen Verheerungen. „Der Staat hat sich in dieser Zeit | |
| zurückgezogen und ist nie wieder zurückgekommen“, sagt Navarrete. Im | |
| Gegenteil: Die Regierungen Morenos und seines Nachfolgers Guillermo Lassos | |
| trieben den Abbau staatlicher Institutionen voran. Im Zeichen des Estado | |
| mínimo, des Minimalstaats, wurde unter anderem das Justizministerium | |
| abgeschafft. Auch in Gesundheit, Bildung und Verwaltung baute der Staat | |
| Mittel ab. Die Folge war ein Kontrollverlust, der den Banden den Weg | |
| ebnete. | |
| Einer der folgenreichsten Kontrollverluste spielte sich in den Gefängnissen | |
| ab. Auch dort übernahmen die Banden. Die Verwaltung in einer der | |
| gefährlichsten Haftanstalten, der Penitenciaría del Litoral in Guayaquil, | |
| entschied gar, Gefangene nicht mehr nach ihren Delikten und | |
| Gefährlichkeitsgraden zu verteilen, sondern nach der Zugehörigkeit zu einer | |
| der Banden. So sollten die Auseinandersetzungen zwischen | |
| [2][rivalisierenden Banden im Gefängnis] entschärft werden. Ausgehend davon | |
| teilten sich die Banden die Kontrolle nach Trakten auf. | |
| In der Penitenciaría del Litoral saß auch der Sohn von Ana Morales seine | |
| Strafe ab. Im CDH erzählt sie ihre Geschichte. Sie beginnt mit Geldsorgen, | |
| ihrem Sohn und dessen schwangerer Freundin, und dem Moment, der ihn ins | |
| Gefängnis brachte: „Él robó un celular“ – „Er hat ein Smartphone | |
| gestohlen.“ | |
| In dem Moment, in dem Ana Morales’ Sohn das Gefängnis betrat, war er den | |
| Banden ausgeliefert. Zu der Zeit hätten sie alles in den Gefängnissen | |
| kontrolliert, von der Lebensmittelversorgung bis hin zu | |
| Besuchsmöglichkeiten. Zugleich nutzten die Banden das Gefängnis als | |
| Rekrutierungsstation. Und ihr Sohn habe Schutzgeld zahlen müssen, etwa 200 | |
| US-Dollar pro Woche. | |
| ## Ana Morales spricht gefasst, trotz allem | |
| 2021 starb Morales' Sohn bei Bandenauseinandersetzungen in der | |
| Penitenciaría del Litoral. In dem Jahr wurden bei [3][Ausschreitungen] in | |
| verschiedenen Gefängnissen Ecuadors mehr als 300 Gefangene getötet. Es | |
| waren die schwersten Gefängnismassaker in der Geschichte Ecuadors. | |
| Ana Morales ist Mitte Vierzig, die lockigen Haare trägt sie zu einem Zopf | |
| verflochten. In der Hitze Guayaquils tupft sie sich den Schweiß von der | |
| Stirn, doch sie spricht gefasst, fast abgeklärt. Sie hat ihre Geschichte | |
| mittlerweile oft erzählt. Nach dem Tod ihres Sohnes gründete sie das Comité | |
| de Familiares por la Justicia en Cárceles, das Komitee der Angehörigen von | |
| Strafgefangenen für die Gerechtigkeit in den Gefängnissen. Es dient als | |
| Plattform zur gegenseitigen Unterstützung und als Sprachrohr für politische | |
| Forderungen. Ana Morales teilt sich mittlerweile ein Büro mit dem CDH. | |
| Das Komitee sieht sich einem Staat gegenüber, der die Rechte von | |
| Strafgefangenen teils nicht schützen will und teils auch nicht kann. Zum | |
| Interview kommt Ana Morales um einiges später als geplant – mit anderen | |
| Mitgliedern des Komitees war sie zuvor noch auf einem Friedhof im Süden | |
| Guayaquils. Dort wurden einigen von ihnen die sterblichen Überreste ihrer | |
| im Gefängnis getöteten Angehörigen überreicht, manche mit Monaten | |
| Verspätung. | |
| Der Zusammenbruch von Teilen der öffentlichen Ordnung unter der Regierungen | |
| Lenín Morenos und Guillermo Lassos ließ weite Teile der Bevölkerung | |
| politisch desillusioniert zurück. Lassos Schwager wurden zudem persönliche | |
| Verwicklungen mit der albanischen Mafia, den Albanéses, nachgewiesen. Im | |
| Zuge der Aufarbeitung trat Lasso zurück und löste das Parlament auf. | |
| ## Ein Wahlsieg aus Wut | |
| Die vorgezogenen Neuwahlen im September 2023 wurden zu den gewalttätigsten | |
| Wahlen in der Geschichte Ecuadors. Der ehemalige Investigativjournalist und | |
| Präsidentschaftskandidat [4][Fernando Villavicencio] wurde im Wahlkampf | |
| getötet, wohl durch Angehörige der Lobos. Zugleich begünstigte die | |
| Enttäuschung über die etablierten politischen Kräfte den Aufstieg eines | |
| Polit-Neulings. [5][Daniel Noboa], Sohn eines der reichsten | |
| Bananenunternehmer des Landes, gewann die Stichwahlen knapp und | |
| überraschend gegen Luisa González von der linkspopulistischen Partei | |
| Revolución Ciudadana. | |
| Noboa ist erst 36 und hat große Teile seines Lebens nicht in Ecuador, | |
| sondern an US-Eliteuniversitäten verbracht. Seinen Wahlsieg, sagen ihm | |
| viele nach, hat er vor allem der Wut auf die etablierten Parteien und | |
| seinem Erfolg auf Social Media zu verdanken. Noboas Ehefrau ist | |
| Top-Influencerin, seine eigenen Konten auf Tiktok und Facebook haben in | |
| Ecuador mit Abstand die meisten Follower. | |
| Die Gewalt im Land eskalierte zum Start von Noboas Regierung weiter. Am 9. | |
| Januar dieses Jahres, gut einen Monat nach Noboas Amtsantritt, stürmten | |
| bewaffnete Mitglieder einer der kriminellen Banden [6][ein TV-Sudio in | |
| Guayaquil]. Die Aktion wurde teils live übertragen. Minuten später rief | |
| Noboa den internen bewaffneten Konflikt aus. Zudem bot er im Landesinneren | |
| das Militär auf. Soldaten stürmten auch Haftanstalten und beendeten die | |
| Herrschaft der Banden dort weitestgehend. | |
| Wie hat sich die Situation dort in den vergangenen Monaten entwickelt? Ana | |
| Morales sieht Anlass zur Hoffnung. „Es gibt weniger Schutzgelderpressungen. | |
| Der Staat hat wieder mehr Kontrolle.“ Doch sie höre auch von Folter und | |
| Misshandlungen gegenüber Gefangenen durch das Militär. Arbeitsmöglichkeiten | |
| und Resozialisierungsmaßnahmen fehlten weiterhin. | |
| Zu Gewaltexzessen in Gefängnissen kommt es jedoch weitaus seltener. Und die | |
| Zahl gewaltsamer Tode im Land insgesamt ging in den ersten Monaten dieses | |
| Jahres zurück, im Februar bis auf durchschnittlich zwölf pro Tag. Seitdem | |
| sind die Todesfälle zwar wieder mehr geworden, doch es sind immer noch | |
| weniger als im Vorjahr. | |
| Die Politik der mano dura, der harten Hand, ist für Daniel Noboa auch ein | |
| willkommenes Mittel, um zu Beginn des Wahlkampfs Stimmung zu machen. Denn | |
| nach den vorgezogenen Neuwahlen von 2023 bleibt Noboa nur bis zum | |
| vorgesehenen Ende der Regierungszeit von Guillermo Lasso im Amt. Für die | |
| nächsten anstehenden Wahlen im Februar 2025 haben sich mittlerweile mehr | |
| als 20 Kandidaten aufgestellt, doch es scheint erneut auf ein Duell | |
| zwischen Noboa und Luisa González hinauszulaufen. | |
| González und ihre Partei stehen in der Tradition des weiter einflussreichen | |
| Expräsidenten Rafael Correa, der von 2007 bis 2017 in Ecuador regierte. Um | |
| den Absturz des Landes zu erklären, arbeiten sich bis heute alle | |
| politischen Lager an seiner Regierungszeit ab. Für seine Anhänger war die | |
| Regierungszeit Correas die friedlichste und hoffnungsvollste Ära der | |
| vergangenen Jahrzehnte. Für alle anderen Lager nahmen staatlicher | |
| Kontrollverlust und Korruption mit Correa ihren Anfang. | |
| Auch in der Calle 18 gehen die Meinungen auseinander. Gabriela, die gerade | |
| ihre Familie in Guayaquil besucht und mittlerweile im Hochland wohnt, sieht | |
| die Schuld stärker bei seinen Nachfolgern. Sie hätten den Staat demontiert, | |
| die Bevölkerung schutzlos gelassen. Correa sei nicht perfekt gewesen, doch | |
| zumindest bedeuteten Solidarität und soziale Gerechtigkeit für ihn noch | |
| etwas. Die Kioskbetreiberin María dagegen verortet die Verantwortung für | |
| die Lage nicht eindeutig. „Ich weiß nicht, wie es zu all dem gekommen ist. | |
| Uns bleibt nur, mit der Situation zu leben“, sagt sie und schüttelt den | |
| Kopf. Für sie zähle allein, wie es besser werden könne. Ob oder wen sie | |
| wählen gehen wolle, wisse sie noch nicht. | |
| ## 9/11 als Ausgangspunkt | |
| Fernando Carrión, Professor an der Facultad Latinoamericana de Ciencias | |
| Sociales, verfolgt den Wahlkampf mit einigem Abstand aus seinem Büro über | |
| den Dächern der Hauptstadt Quito. Auch Carrión erzählt eine Geschichte | |
| staatlichen Versagens, und keine der vergangenen Regierungen kommt dabei | |
| sonderlich gut weg. Doch der Wissenschaftler sieht Ecuadors Geschicke | |
| eingebettet in eine sehr viel größere Geschichte, jene des transnationalen | |
| Verbrechens. | |
| Carrións Anfangspunkt ist der [7][11. September 2001]. „Nach den | |
| Terroranschlägen auf das World Trade Center führten die USA strengere | |
| Kontrollen an ihren Grenzen ein – das traf auch den Drogenhandel und dessen | |
| primären Zugang zu den USA – Florida.“ Der Weg des Kokains gen Norden | |
| verschob sich zunehmend auf die weniger stark kontrollierte Landroute durch | |
| Mexiko. Das begünstigte den Aufstieg der mexikanischen Kartelle, die in den | |
| vergangenen Jahren auch den Kokainhandel in Ecuador am stärksten | |
| vorantrieben. | |
| Zugleich, sagt Carrión, gingen die Kartelle immer weiter arbeitsteilig vor. | |
| Während das ehemals berüchtigte Cartel de Medellín um den kolumbianischen | |
| Drogenbaron Pablo Escobar zu seinen Hochzeiten praktisch die gesamte | |
| Wertschöpfungskette des Kokains kontrolliert habe, suchten die großen | |
| Kartelle heute stärker lokale Allianzen. | |
| In den vergangenen Jahren sei Ecuador so zunehmend in das „transnationale | |
| Netz des Verbrechens“, wie es Carrión nennt, integriert worden. Zugleich | |
| bilde sich wie in anderen Ländern Lateinamerikas erstmals ein eigener Markt | |
| für den Kokainkonsum heraus. „In Ecuador werden jährlich rund 800 Tonnen | |
| Kokain geschmuggelt und rund 80 Tonnen konsumiert.“ Auch die Gründe hierfür | |
| lägen in der Logik der Kartelle. Nachdem die Marktpreise für Kokain vor | |
| einigen Jahren aufgrund von Überangebot gefallen waren, fingen die großen | |
| Kartelle an, ihre lokalen Verbündeten nicht mehr mit Geld, sondern mit | |
| Drogen zu entlohnen – und diese verkauften das Kokain weiter. Unter anderem | |
| deswegen wurde Brasilien zum zweitgrößten Kokainkonsumland der Welt, nach | |
| den USA. | |
| Für die kommenden Wahlen in Ecuador attestiert Carrión Präsident Noboa gute | |
| Chancen – so lange er den Wählern weiter glaubhaft machen kann, dass er für | |
| die Sicherheit des Landes einsteht. Er scheint damit viele | |
| Ecuadorianer*innen hinter sich zu einen. Als zuletzt die Gewaltrate | |
| wieder anstieg, litten zwar auch seine Beliebtheitswerte. Doch das werde | |
| nicht als Scheitern der Politik der harten Hand ausgelegt, meint Carrión. | |
| Stattdessen stritten die Parteien im Wahlkampf nur darüber, wer von ihnen | |
| den Banden gegenüber die härtere Hand zeigen könne. Ein wenig unheimlich | |
| ist es Carrión ob der Beliebtheit dieser Politik: „Die autoritären | |
| Strategien sind die, nach denen die Bevölkerung am meisten verlangt.“ | |
| Im Hochland Ecuadors wird deutlich, wie groß die Wut in der Bevölkerung | |
| gegenüber den Banden mittlerweile ist. Die Gewaltrate in der Andenregion | |
| ist wesentlich niedriger als in Orten wie Guayaquil, Schutzgelderpressungen | |
| bisher die Ausnahme. Gerade darum blicken die Menschen mit Sorge auf die | |
| Eskalation in den Küstengebieten – und nehmen das Gesetz zuweilen in die | |
| eigene Hand. | |
| ## Keine Zeit für Hoffnungslosigkeit | |
| Gabriela erzählt von zwei vacunadores, die in der Nachbargemeinde ihres | |
| neuen Zuhauses Chunchi im Hochland versucht hatten, Schutzgeld zu | |
| erpressen. Einige aus der Bevölkerung beschlossen, an ihnen ein Exempel zu | |
| statuieren: „Sie haben sie gefangen genommen und verbrannt.“ Sie könne nur | |
| schwer fassen, wie ihr Land an diesen Punkt gekommen sei. | |
| Derlei Akte der Selbstjustiz sind in Ecuador bei Weitem kein Einzelfall, | |
| und sie zeigen auch den rasanten Verlust von Vertrauen in das Rechtssystem | |
| des Landes. Fernando Carrión glaubt, nur eine nachhaltige Stärkung der | |
| staatlichen Institutionen könne Ecuador aus der Krise führen. Zudem brauche | |
| es einen breiten politischen Konsens im Kampf gegen das organisierte | |
| Verbrechen. Doch kurzfristig wirke dem vieles entgegen. Politische | |
| Polarisierung, schlechte ökonomische Vorzeichen, der Einfluss der Banden in | |
| weiten Teilen von Politik und Gesellschaft – man sucht lange nach ein | |
| bisschen Hoffnung in Carrións Worten. | |
| Ana Morales hat dagegen keine Zeit für Hoffnungslosigkeit. Sie erzählt | |
| stattdessen von ihrer Präventionsarbeit, mit der sie gefährdete Jugendliche | |
| in den Nachbarschaften Guayaquils erreichen will. Es sind NGOs und | |
| kirchliche Einrichtungen, mit denen sie zusammenarbeitet. In staatliche | |
| Institutionen hat sie kein Vertrauen. Doch sie blickt trotzdem nach vorne. | |
| Nun müsse sie aber nach Hause, der morgige Tag beginne für sie früh. Ana | |
| Morales ist auch bei einer Pfadfinder-Gruppe aktiv, am nächsten Tag steht | |
| der Festumzug für die fiestas de Guayaquil an, die jährlichen Feiern zum | |
| Gründungstag der Stadt. Ihre Gruppe wird dabei sein, in festlicher Kleidung | |
| und mit Trommeln. | |
| Der Tourismus in Ecuador ist in den vergangenen Jahren eingebrochen. Selbst | |
| an Feiertagen blieben die Ausgeh-Orte zuletzt weitgehend leer, aus Angst | |
| vor Gewalt und Diebstählen. Doch am Abend nach dem Festumzug flaniert die | |
| Stadtbevölkerung auf der Flusspromenade Guayaquils. | |
| Die Straßenverkäufer*innen wuseln durch die Menge und bieten in einem | |
| eigentümlichen Singsang lauthals gebratene Bananen, Fischsuppen und Säfte | |
| an. Eine Besucherin schaut sich ungläubig um: „Es ist so belebt wie lange | |
| nicht mehr.“ Der Bürgermeister Guayaquils spricht von den fiestas als einem | |
| „Wiedererwachen“. Man mag es als Zeichen der Hoffnung sehen. Es bleibt | |
| ruhig – zumindest unter den Augen der Soldaten mit ihren Maschinengewehren. | |
| 21 Aug 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Gewalteskalation-in-Ecuador/!5984156 | |
| [2] /Ausnahmezustand-in-Ecuador/!5950623 | |
| [3] /Brutale-Kaempfe-in-Gefaengnis-in-Ecuador/!5804960 | |
| [4] /Praesidentschaftskandidat-getoetet/!5949603 | |
| [5] /Wahlergebnis-in-Ecuador/!5966469 | |
| [6] /Eskalation-in-Ecuador/!5984869 | |
| [7] /Schwerpunkt-9/11/!t5112232 | |
| ## AUTOREN | |
| Leonardo Pape | |
| ## TAGS | |
| Ecuador | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Daniel Noboa | |
| Kokain | |
| Drogenhandel | |
| GNS | |
| Drogenkartell | |
| Drogenhandel | |
| Recherchefonds Ausland | |
| wochentaz | |
| Ecuador | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Rekord-Kokainfund im Hamburger Hafen: Verhafteter Staatsanwalt bringt Ministeri… | |
| In Hannover wurde ein Staatsanwalt verhaftet, der Informationen an ein | |
| Kokain-Kartell verkauft haben soll. Er war für spektakuläre Prozesse | |
| zuständig. | |
| Organisierte Kriminalität in Deutschland: Kokain und Cybercrime | |
| Der Schaden durch Organisierte Kriminalität steigt laut BKA auf 2,7 | |
| Milliarden Euro. Was die Ampel-Regierung dagegen unternimmt und woran es | |
| hakt. | |
| Venezuela vor der Wahl: Wohin, Venezuela? | |
| Vor der Präsidentschaftswahl haben viele die Nase voll von Machthaber | |
| Maduro – doch der klebt an seinem Amt. Eine Reise in ein nervöses Land. | |
| Ecuador-Reise mit Risiken: Sauerbananen im Land der Vulkane | |
| Ecuador war wegen der Drogenmafia weltweit in den Schlagzeilen. Kann man | |
| dort noch hinreisen, noch dazu mit kleinen Kindern? | |
| Referendum in Ecuador: Freie Hand fürs Militär | |
| Ecuadors Präsident Noboa gewinnt ein Referendum, das es ihm erlaubt, | |
| künftig auch ohne Ausnahmezustand das Militär im Innern einzusetzen. |