Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Venezuela vor der Wahl: Wohin, Venezuela?
> Vor der Präsidentschaftswahl haben viele die Nase voll von Machthaber
> Maduro – doch der klebt an seinem Amt. Eine Reise in ein nervöses Land.
Caracas taz | Die Tunnel vom Flughafen nach Caracas hinein haben jetzt noch
schnell Beleuchtung und frisch gestrichene Markierungen bekommen. Techniker
des staatlichen Stromanbieters klettern am Autobahnrand in den Masten.
Arbeitstrupps hacken in sengender Hitze am Tunneleingang den Boden auf,
setzen Blümchen und Büsche ins neue Beet. Die Bewässerungsanlage liegt
schon in der Erde bereit.
Willkommen in Venezuela, dem Land, wo für Blumen Wasser und Elektrizität
vorhanden ist, aber für Menschen nicht unbedingt. Am Sonntag wählt die
bolivarische Republik. In der Anfahrt auf Caracas scheint es allerdings so,
als ob es eigentlich nur einen Kandidaten zur Auswahl gebe. Da hängt
zwischen Werbung für Shampoo, Schinken und Energydrinks nur ein Gesicht:
das von Nicolás Maduro.
Der autoritäre Präsident Maduro ist im elften Jahr an der Macht, und er
will eine dritte Amtszeit. Seine Vereinigte Sozialistische Partei (PSUV)
hat ihn aufgestellt. Doch zum ersten Mal in 25 Jahren liegt die bürgerliche
Opposition in Umfragen klar vorne. Der Erdölsozialismus, der von Venezuela
ausgehend Anfang des Jahrhunderts Lateinamerika eroberte, könnte am Sonntag
zu Ende gehen.
Das Öl machte das Land und seine Bevölkerung in den 70ern reich. Das sieht
man den in die Jahre gekommenen Hochhäusern an, und man merkt es an den
eisgekühlten Bürogebäuden, wo der hochsubventionierte Strom historische
Klimaanlagen speist, als ob es keine Klimakrise gäbe.
Nach dem Boom kamen: Verfall, Mangel und Exodus von fast acht Millionen
Venezolaner:innen. Wegen fallender Ölpreise, aber vor allem wegen
Korruption und Misswirtschaft, die sich durch den Staat fraßen.
Die Opposition ist bei dieser Wahl so geeint wie lange nicht. Ihr Kandidat
heißt Edmundo González Urrutia von der Demokratischen Einheitsplattform
(PUD). Der pensionierte Diplomat hat laut den glaubwürdigsten Umfragen rund
30 Prozent Vorsprung. Die Regierung hält sich an andere Umfragen, und gibt
sich siegessicher.
Carmen Arraque hofft auf einen Wechsel. Die zierliche Frau ist gelernte
Betriebswirtin und Dozentin, zwei Töchter. Arraque, 55 Jahre alt, wohnt in
einem der riesigen, in die Jahre gekommenen ehemaligen Sozialwohntürme in
La Vega. Heute wohnt hier die Mittelschicht. Etwas weiter oberhalb am Hang
beginnen die Armenviertel von La Vega, denen Maduros sozialistischer
Vorgänger Hugo Chávez vor 25 Jahren eine goldene Zukunft versprochen hatte.
In La Vega glaubte man seinen Versprechen: D[1][ie Sozialist:innen
gewannen hier jahrelang] haushoch alle Wahlen. Doch damit ist es vorbei,
nach allem, was man so hört.
La Vega zieht sich mitsamt der Straße auf und ab über Berg und Tal. Neben
den Siedlungen aus Wohntürmen und den Hütten der Ärmsten, haben viele
Gegenden Dorfcharakter – nur, das in diesen verstreuten Dörfern insgesamt
um die 200.000 Menschen wohnen. Die Häuser sind zweistöckig, farbig
gestrichen oder unverputzt, mit Läden und Geschäften im Erdgeschoss und
darüber Wohnungen. An den Fenstergittern trocknet die Wäsche. Zwischen den
Häusern spannt sich ein Chaos aus Stromleitungen. Motorräder flitzen an
Ständen unter Sonnenschirmen vorbei, Eier und andere Lebensmittel werden
hier von Anwohner:innen verkauft.
Von Arraques Wohnturm, der in ein Senke steht, bekommt man von dem Trubel
nichts mit. Sie blickt auf die grünen Berge. Unter Maduro schrumpfte das
Bruttoinlandsprodukt um 75 Prozent, Nahrungsmittel und Medikamente wurden
knapp. Voriges Jahr begann eine leichte wirtschaftliche Erholung, nachdem
die USA einige der gegen das autoritäre Regime verhängten Sanktionen
lockerten. Maduro dollarisierte die Wirtschaft und stoppte so die
Hyperinflation. Inzwischen sind die Supermärkte wieder voll. Doch der Preis
ist das Problem. Der ist oft ähnlich hoch wie in Deutschland – bei einem
Durchschnittsgehalt von weniger als 150 US-Dollar im Monat.
Wenn Arraque ihr Gehalt bekommt, fragt sie sich, was sie davon bezahlem
soll: Strom oder Telefon, Medikamente oder Eier? Ihr Gehalt im öffentlichen
Dienst beträgt 230 Bolivares, das sind um die 6 Dollar. Dazu kommen noch
Wertgutscheine etwa für Essen, die aber auch nicht viel ändern an der
Frage: Wovon leben?
Arraque arbeitet von zu Hause. Als Dozentin unterstützt sie Studierende bei
ihren Abschlussarbeiten. Und sie hat ein kleines Unternehmen für
Kunsthandwerk: Sie fertigt aus Kunstharz Schmuck, Schlüsselanhänger und
andere Objekte.
Krank darf sie nicht werden, denn selbst wenn die Behandlung in staatlichen
Krankenhäusern theoretisch gratis ist, müssen die Patient:innen vieles
selbst bezahlen, weil es schlicht nicht vorhanden ist. Als Arraque an der
Hüfte operiert wurde, trug sie die Kosten für Tupfer, Kittel, Medikamente,
Handschuhe, Spritze, für die Laken fürs Bett und für den Prothesenzement.
Nachsorge war nicht vorgesehen. Jetzt humpelt sie durch die Wohnung, das
eine Bein zieht sie nach, ihr Körper schmerzt. Es fehlen noch: eine
Hüft-OP, Eingriffe an Knie und Schulter.
Als Chávez 1998 Präsident wurde, war das ihr politisches
Erweckungserlebnis, erzählt sie. Sie war begeistert, dass die Einnahmen aus
dem Öl endlich Krankenhäuser und Schulen brachten; dass Programme Kinder
und Obdachlose von der Straße holten.
Doch die Liebe zum Chávismus verflog bei ihr schnell: „2000 verliebte sich
Chávez in Fidel Castro“, drückt sie es aus. Da sei das losgegangen mit „W…
nicht für mich ist, ist gegen mich“, mit Chávez’ Idee von der
Einheitspartei. Mit der Bereicherung im Staatsapparat und mit den
motorisierten Schlägertrupps auf den Straßen.
Arraque engagierte sich in politischen Organisationen der Opposition, die
nach und nach alle geschluckt wurden. Chávez’ Nachfolger Maduro sei noch
nie ihr Fall gewesen. Die Kumpeleien, die Männerwitze. „Ich habe für
Uniabschlüsse hart gearbeitet und die haben sie gekauft.“
Deshalb macht sie jetzt nebenher freiwillig politische Bildung in ihrem
Viertel. Sie erklärt ihren Nachbar:innen, welche Rechte sie bei der Wahl
haben, wie das alles abläuft und wie sie sich gegen Manipulationen und
Einschüchterungen wehren können. „Sie manipulieren uns“, ist sich Arraque
sicher. „Da legt dir in der Warteschlange auf einmal die Person die Hand
auf die Schulter, die die subventionierten Lebensmittelpakete der Regierung
verkauft, und fragt: Weißt schon, wen du wählst?“ Arraque will, dass die
Leute nicht nach Bauch oder Geldbeutel entscheiden, wen sie wählen, sondern
nach ihrem freien Willen. Sie zieht [2][ein Modell des Wahlzettels] hervor:
„Fünf nach rechts und eins nach unten.“ Da will sie das Kreuzchen machen.
Auf dem Kopf von Edmundo González Urrutia.
Wenn die Amtierenden an der Macht bleiben wollen, appellierten sie in
Lateinamerika an ein positives Lebensgefühl, sagt Wahl-Expertin Eglée
Gonzalez Lobato. Dass es in der Krise wenig zu bejubeln gebe, habe aber
auch die Maduro-Regierung begriffen, sagt Lobato. Bleiben noch Vaterland,
Friede, Stabilität, die man ins Feld führen kann. Tja.
Die Opposition kann hingegen voll auf die Gegenemotion setzen: Trauer. Vor
allem der Schmerz über die Familien, die die Wirtschaftskrise
auseinandergerissen hat. Edmundo González hat mehrfach erwähnt, dass es die
auf der Suche nach Arbeit abgewanderten Menschen brauche, um das Land nach
der Krise wieder aufzubauen. Macht Millionen zerrissene Herzen, die auf ein
Wiedersehen hoffen.
„Unsere Kinder, unsere Familie sind weg, unsere Freund:innen. Wir müssen
sie durch ein Mobiltelefon sehen, können sie nicht umarmen. Wir sind es so
leid“, sagt Arraque, ihre Stimme bricht. Eine ihrer Töchter ging vor Jahren
nach Ecuador, als es an der hiesigen Uni keine Dozent:innen für ihr Fach
mehr gab. Dann sagt sie einen Satz, den man hier ständig hört: „Wir sind
müde.“
Arraque ist tatsächlich nicht alleine mit diesem Gefühl: Da ist die
Lehrerin, die die Schnauze voll hat von den katastrophalen
Arbeitsbedingungen und der Frage, wie sie sich Monatsbinden leisten soll,
geschweige denn die neue Brille. Da ist der Justizangestellte, der der taz
erzählt, wie alle in seiner Abteilung für die Opposition stimmen wollen,
und sich aus Angst vor Repressionen nach außen als regierungstreu geben.
Dabei gelten die geschätzt 5,5 Millionen Staatsangestellten – davon 4,4
Millionen Militärangehörige – neben den neureichen Eliten als Bastion des
Chávismus.
13-mal ist Maduros Kopf auf dem Wahlzettel zu sehen. So viele Parteien
haben ihn als Kandidaten übernommen. Dreimal ist González abgebildet, dazu
acht weitere Köpfe. Das Regime hat ein paar alteingesessene
Oppositionsparteien gekapert, deren Kandidaten durch Regierungstreue
getauscht, aber das Logo der Parteien belassen. Darauf könne man leicht
hereinfallen, sagt Arraque.
Freitagabend im Barrio Petare im Osten von Caracas. Die Musik dröhnt bis
weit auf den Parkplatz, auf dem viele Jeeps stehen. Ein neues Restaurant
mit Musik aus den Llanos, dem weiten Weideland Südamerikas, eröffnet heute.
In den großen Ebenen schlägt das venezolanische Herz besonders stark, hier
sind die Cowboys daheim, die sich als die wahren Männer sehen. Am Eingang
röstet bergeweise Fleisch auf Holzkohle. Es ist ein ehemaliger
Vizeminister, der hier heute sein Restaurant eröffnet. Er schüttelt Hände.
Auf den Toiletten gibt es drei Flüssigseifen für Damen, aber weder
Toilettenpapier noch einen Halter dafür. Die Wandfarbe schaut schon nach
wenigen Stunden mitgenommen aus. Der Salat ist nichts Besonderes, die
frittierte Maniok innen roh und schlaff statt knusprig, das Fleisch
trocken, die Rechnung saftig. „In einem Jahr wird es diesen Ort nicht mehr
geben“, sagt ein Gast. Muss es auch nicht.
Das Lokal ist ein Beispiel für die Geschäfte der „Enchufados“. Die
„Eingestöpselten“, die sich an das Regime angedockt haben und sich am Staat
hemmungslos bereichern. Sie sind die Gewinner der Krise. Sie sind die, die
kein Nummernschild am Auto brauchen, weil sie für einflussreiche Politiker
ergaunerte Gelder waschen. Dank ihnen sprießen in Caracas unter anderem
überteuerte Restaurants mit luxuriöser Fassade. Vom klassischen
Unternehmertum brauchen die Besitzer:innen wenig Ahnung zu haben: Geld
muss nicht gemacht werden, sondern gewaschen. Bevorzugt aus Korruption und
Drogenhandel.
„Korruption wird es immer geben“, sagt Anwalt Juan Hernández (Name
geändert). „Das Problem ist die Ineffizienz. Dieser Staat ist langsam und
korrupt, er reagiert spät und falsch.“ Außerdem missfällt ihm Maduros
Außenpolitik, er will eine klare Linie. Hernández wählt, seit er 18 ist.
Zuletzt die Sozialisten. Heute ist er Mitte fünfzig und fühlt sich zum
ersten Mal verloren, sagt er. Er will einen leeren Stimmzettel abgeben, um
seine Ablehnung auszudrücken.
Die Politik von Maduros Vorgänger Hugo Chávez fand er gut, weil er mit den
Einnahmen aus dem Öl die Lebensbedingungen verbessert habe – ohne sich
selbst als Chavisten bezeichnen zu wollen. Maduro sei eine schlechte Kopie
von Chávez. So viel Geld aus dem Öl und so viel Armut, das gehe nicht
zusammen.
Doch die Opposition kommt für ihn „niemals“ infrage. „Diese Leute vertre…
nicht die Interessen meines Landes, sondern die der USA. Das sind alles
Personen, die Privilegien verloren haben und sie wiedergewinnen wollen.“ Da
klingt er fast wie Maduro. Die Opposition sieht er in einer Linie mit dem
selbsternannten Interimspräsidenten Juan Guaidó von 2019 bis 2023 und mit
der Politik vor Hugo Chávez, als von den Einnahmen aus dem Öl auch nur eine
Minderheit profitiert habe.
Die Wahl am Sonntag entscheidet für ihn zwischen „Krieg und Frieden“. „W…
der Chavismus nicht mit sehr großer Mehrheit gewinnt, wird es Konflikte
geben.“ Dass er gewinnt, daran hat er keine Zweifel. „Viele Menschen in
Venezuela glauben trotz allem immer noch, dass der Chavismus der einzige
Weg ist, um Dinge zu verbessern.“
Die Opposition hat nicht nur keine Wahlplakate, sondern ihre wichtigste
Figur darf nicht einmal antreten, nach dem man sie wegen fadenscheiniger
Korruptionsvorwürfen verurteilt hatte: María Corina Machado. Sie hatte
vorigen Herbst die parteiinternen Vorwahlen mit über 90 Prozent gewonnen.
Machado reist dennoch gemeinsam mit González Urrutia, dem Ersatzkandidaten,
durchs Land. Wo sie ist, bejubeln Menschenmassen sie wie eine Volksheilige.
Auch Carmen Arraque imponiert sie. „Sie ist rebellisch und macht, was sie
will.“ Gegen die Machos in der Politik, die Arraque nur zu gut kennt. Als
die ausbremsen wollten, gründete sie ihre eigene Bewegung. „Ihre Familie
hat viel Geld und sie hat trotzdem hart gearbeitet, studiert.“
Das Regime legt ihr Steine in den Weg, wo es nur geht: Die Nationalgarde
blockiert Straßen und Brücken. Wo Machado war, werden Lokale geschlossen,
Hoteliers festgenommen, Schiffern die Boote weggenommen. Wer ihr und
Gonzalez eine Dienstleistung oder [3][eine Empanada verkauft], riskiert
Repressionen. Mehrere Mitarbeiter:innen des Wahlteams wurden
verhaftet. Letzte Woche klagte Machado über ein „Attentat“ an ihrem Wagen,
mit Schmierereien und durchgeschnittenen Bremsschläuchen. Die
Ermittlungsbehörde befand sofort: Alles Fake. Mehr als 100
Wahlkampfhelfer:innen der Opposition sind in Haft, laut der
Nichtregierungsorganisation Foro Penal. Sie verlängern die Liste der
politischen Gefangenen, die schon vor dem [4][Wahlkampf bei rund 300 lag].
Einer davon ist Andrés, der Sohn von Rosalia Román (Namen geändert). Andrés
habe nur einen gefüllten Maisfladen an der Ecke kaufen wollen, erzählt
Román. Die Polizei nahm ihren Sohn fest und behauptete später, sie hätten
ihn ganz woanders bei einer Operation gegen eine Terrororganisation
aufgegriffen. Maduro sieht allenthalben Verschwörungen und Mordkomplotte am
Werk. Die Staatsanwaltschaft wirft Andrés Terrorismus, kriminelle
Vereinigung, illegalen Waffenhandel und Verleitung eines Jugendlichen zur
Begehung einer Straftat vor. Beweise dafür hat bislang niemand zu Gesicht
bekommen.
Jetzt steht Román vor der Ermittlungsbehörde, in der Hand ein
Protestplakat, auf dem sie die Freilassung ihres 39-jährigen Sohnes
fordert. Sie wird begleitet von zwei Dutzend weiteren Protestierenden in
weißen T-Shirts mit der Aufschrift: „Freiheit für die politischen
Gefangenen“. Sie halten Tafeln mit Namen und Fotos hoch, haben Bilder auf
den Gehsteig gelegt, halten eine weiße Rose in der Hand. „Folter ist
Staatspolitik in Venezuela“, steht auf einem Plakat. Das Mikrofon versagt
gegen den Straßenverkehr. Immerhin, ein paar Medienvertreter:innen
sind gekommen.
Seit drei Jahren sitzt Andés bereits in Untersuchungshaft. Drei Wünsche hat
Rosalia Román: Gerechtigkeit und Freiheit für ihren Sohn und dass „die alle
verschwinden“. Und deshalb wird sie am Sonntag für Gonzalez Urrutia
stimmen.
Am Sonntag schlägt die Stunde der Wahrheit. Bis dahin liegen die Nerven
blank. Die Opposition fürchtet groß angelegten Wahlbetrug. Denn Maduro
kontrolliert den Wahlrat, die Armee, die Justiz und das Parlament.
Maduro drohte mit einem Blutbad, sollte er verlieren – und verschreckte
damit ehemalige Verbündete wie den linken brasilianischen Präsidenten Luiz
Inácio Lula da Silva. Der sagte ihm diese Woche klipp und klar, in der
Demokratie entschieden die Urnen, und wer verliere, der gehe nach Hause.
Die Regierung fährt derweil noch ihre letzten Trümpfe auf:
Blutdruckmessungen und Gratispillen für Alte, Schlaglöcher werden
zubetoniert, die einheimische Währung wird mit Dollars der Zentralbank
künstlich stabil gehalten.
Kurz vor den Wahlen verschärfte die Regierung die Zensur und ließ noch ein
paar weiteren Onlinemedien die Seiten abstellen. Das Unternehmen Proton hat
für die Wahlen extra seinen VPN-Server kostenlos für Venezuela
freigeschaltet. Die EU-Wahlbeobachter:innen sind ausgeladen, das
US-amerikanische Carter-Center und die UNO durften mit verkleinertem
Expertenteam ins Land, können aber nur eingeschränkt arbeiten.
Die Wahlautomaten gelten unter Expert:innen hingegen als zuverlässig,
vor allem, weil sich die Stimmabgabe mithilfe der Papierbelege
nachvollziehen lasse, sagt González Lobato, die wahlpolitische Beraterin
und Dozentin an der Universidad Central de Venezuela.
„Statt von Wahlbetrug spricht sie deshalb von „betrügerischen Wahlen“:
viele Vorteile fürs Regime, viel Behinderung der Gegenseite. Auch wenn die
Opposition davon spricht, für über 90 Prozent der Wahltische Zeug:innen
organisiert zu haben: Sie könnten daran gehindert werden, an ihren
Arbeitsplatz zu kommen, die Wähler:innen nicht bis zu den Urnen – und
sei es, indem man ihnen weismacht, dass diese manipuliert seien, und sie
daher daheim blieben. Es wurden auch mehr Wahltische eingerichtet: Verkauft
als bürgernah, erschwert das die Kontrolle – weil es mehr Zeugen braucht
und weil die neuen Orte sich herumsprechen müssen.
„Egu“ hat versprochen, einen Wandel einzuleiten, „ohne jemanden
auszuschließen“, wie der Oppositionsführer selbst sagt. Ganz der
pensionierte Diplomat, der er ist. Wo Maduro derb flucht und schimpft und
droht, ist Egu besonnen und leise.
Maduro flimmert in der Innenstadt als Comicheld „Superschnurrbart“ über die
Fassade und veröffentlicht noch schnell einen Spielfilm über sein Leben.
Von González ging ein Foto viral, auf dem er die Papageien auf seinem
Balkon füttert – wie so viele Caraqueños in den Abendstunden.
Experten sehen „Egu“ als moderaten Vermittler – anders als María Corina
Machado. Die steht klar im rechten ideologischen Lager und hat mit ihrem
Team als Einzige ein Wahlprogramm verschriftlicht. Es ist liberal, setzt
auf Privatisierungen und die Privatwirtschaft statt auf einen allmächtigen
Staat.
Doch das schreckt Carmen Arraque nicht. Das wird besprochen, wenn die Wahl
gewonnen ist. „Wir brauchen jemanden, der verhandeln kann, damit es nicht
das Blutvergießen gibt, von dem Maduro spricht.“ González war unter Chávez
Diplomat, er wisse, wie der Chavismus ticke. Und er wisse, wie man Lösungen
sucht. Sie traut ihm zu, die Machtübergabe zu organisieren,
Parlamentswahlen anzusetzen, die staatlichen Gewalten wieder zu trennen.
Und dann die wirtschaftlichen Probleme anzupacken.
Was wird am Montag nach der Wahl passieren? Ungewissheit, auch darüber „Sie
werden die Macht niemals freiwillig übergeben“, sagen die, die sich für
alle Fälle mit Lebensmitteln eindecken. Wird es Proteste geben? Was wird
die Armee tun? Und was, wenn Maduro gewinnt?
Der 28. Juli, der Wahlsonntag, er könnte erst der Anfang sein von
wechselvollen Tagen für Venezuela.
27 Jul 2024
## LINKS
[1] https://www.caracaschronicles.com/2019/03/27/how-chavismo-lost-la-vega/
[2] http://www.cne.gob.ve/web/normativa_electoral/elecciones/2024/eleccion_pres…
[3] https://www.nytimes.com/2024/0r6/16/world/americas/venezuela-election-coroz…
[4] https://foropenal.com/
## AUTOREN
Sarah Himmel
## TAGS
Recherchefonds Ausland
Venezuela
Caracas
Nicolás Maduro
Hugo Chavez
Lesestück Recherche und Reportage
GNS
Venezuela
Ecuador
Venezuela
Venezuela
Venezuela
Venezuela
Venezuela
USA
Venezuela
## ARTIKEL ZUM THEMA
Vor Vereidigung von Maduro in Venezuela: Mehr als 120 ausländische Staatsangeh…
Trotz Betrugsvorwürfen soll Venezuelas Staatschef Maduro bald vereidigt
werden. Nun wurden ausländische Bürger wegen „destabilisierender Aktionen“
festgenommen.
Kriminalität in Ecuador: In den Händen der Banden
Ecuador galt in Lateinamerika einst als „Insel des Friedens“. Doch
angetrieben vom Drogenhandel eskaliert dort die Gewalt. Wohin steuert das
Land?
Präsidentschaftswahl Venezuela: Hauptsache Machterhalt
Die Maduro-Regierung wollte sich endlich international legitimieren – das
hat nicht geklappt. Welche geopolitischen Folgen hat die Wahl?
Möglicher Wahlbetrug in Venezuela: Demokratie-Anstrich misslungen
Amtsinhaber Nicolás Maduro wird nach einer chaotischen Wahl rasch zum
Sieger erklärt. Sein Regime tat alles dafür, dass es nicht anders kommt.
Wahlen in Venezuela: Maduro sieht sich als Sieger
Venezuelas Wahlrat erklärt Präsident Maduro zum Sieger der
Präsidentschaftswahl. Die Opposition reklamiert 70 Prozent der Stimmen für
sich.
Wahlen in Venezuela: Venezuela am Wahltag
Am Tag der Wahl haben viele Venezolaner:innen Angst vor Wahlbetrug.
Der Herausforderer González könnte sich gegen Amtsinhaber Maduro
durchsetzen.
Publizist über Wahlen in Venezuela: „Der Chavismus ist sehr geschwächt“
Bei den Präsidentschaftswahlen in Venezuela im Juli könnte die Opposition
gewinnen, wenn die Wahl fair läuft, meint der Publizist Andrés Cañizález.
Migration in die USA: Biden verschärft Asylregeln
US-Präsident Joe Biden führt eine neue Grenzregelung gegen die Einwanderung
aus Mexiko ein. Menschenrechtler kritisieren die Aushöhlung des Asylrechts.
Spannungen Venezuela und Argentinien: Asyl in Argentiniens Botschaft
Sechs Oppositionelle suchen Schutz vor Verhaftung in Argentiniens Botschaft
in Caracas. Argentinien gewährt Asyl und verhandelt über ihre Ausreise.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.