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# taz.de -- Soziologe über ostdeutschen Plattenbau: „Ein Sechser im Lotto“
> In der DDR waren Wohnungen in der Platte beliebt, sagt Soziologe Matthias
> Bernt. Nach der Wende verarmten viele Bewohner. Jetzt müsse man wieder in
> die Bauten investieren.
Bild: Halle-Neustadt 1976 – die Infotafel zeigt besonders fleißige „Aktivi…
taz: Herr Bernt, wenn heute über ostdeutsche Plattenbaugebiete gesprochen
wird, dann ist es meist das Negativbeispiel deutscher Wohnungspolitik. Wie
finden Sie das?
Matthias Bernt: Plattenbauviertel dienen in der „Tagesschau“ meist nur als
Hintergrundfolie, wenn von neuen Arbeitslosenzahlen berichtet wird. Dabei
sind sie in Ostdeutschland vollkommen normale Wohngebäude. In Leipzig leben
17 Prozent der Bevölkerung im Plattenbau. In Halle sind es um die 40. Es
ist ignorant zu sagen, dass die Platte keine Zukunft habe. Jetzt erleben
diese Viertel einen rasanten Wandel, aber es gibt nicht mal ansatzweise
Diskussionen darüber.
taz: Wie sieht dieser Wandel aus?
Bernt: In der Südlichen Neustadt in Halle gab es bis 2015 einen
einstelligen Prozentsatz von ausländischen Haushalten. Mittlerweile sind es
über 35 Prozent – und das in sehr kurzer Zeit. Das liegt daran, dass viele
Asylbewerber*innen nach der Anerkennung ihres Bleibestatus gezwungen
sind, ein paar Jahre im Bundesland ihrer Erstaufnahme zu bleiben. Viele
ziehen dann aus den Kleinstädten in Großstädte, weil es dort einen größeren
Schutz vor Rassismus, bessere Strukturen zum Ankommen und Jobaussichten
gibt. Sie suchen die günstigen Wohnlagen, und das ist heute die ostdeutsche
Platte. Sie landen also in genau denselben Vierteln, wo schon viele
deutsche Arbeitslose wohnen.
taz: In Ihrem Buch „Segregation in Ostdeutschland“ erklären Sie, dass
ostdeutsche Städte heute viel stärker sozial gespalten sind als
westdeutsche Städte. Woran liegt das?
Bernt: Seit der Wende werden einkommensschwache Haushalte immer stärker in
die Peripherie gedrängt, in dem Fall in die Plattenbausiedlungen. Die
[1][teuer sanierten Altbauwohnungen in den Innenstädten] können sich oft
nur noch Haushalte mit höherem Einkommen leisten. Und die
Sozialgesetzgebung verstärkt diesen Prozess. Denn für Leute, die
Transfergeld beziehen, werden die Wohnungskosten bis zu einer bestimmten
Höhe vom Jobcenter übernommen. Bei stark gespreizten Wohnungsmärkten
reichen diese aber nur noch, um schlechte Lagen zu bezahlen. Diese
Entwicklung hat sich seit der [2][Agenda 2010] rasant verschärft.
taz: Warum?
Bernt: Weil es im Osten mehr Arbeitslose gab als im Westen, ist die Agenda
2010 dort einfach stärker durchgeschlagen. Auch die Zahl der
Aufstocker*innen ist bis heute dort viel höher als im Westen,
insbesondere in den Plattenbaugebieten.
taz: Heute ballt sich die Armut also in den Plattenbaugebieten. Dabei war
das in der DDR noch ganz anders …
Bernt: Absolut. In der DDR waren die Altbauten größtenteils runtergekommen,
hatten schwere bauliche Mängel, Außenklos und keine Zentralheizung. Die
[3][Plattenbauviertel, die in den 1960er bis 1980er Jahren errichtet
wurden], hatten dagegen Zentralheizung und fließend warmes Wasser. Wenn man
dort eine Wohnung bekommen hat, galt das als Sechser im Lotto. Viele
Plattenbaugebiete haben seitdem eine extreme Verarmung erlebt. Selbst wenn
wir sie mit klassischen Armutsgebieten in Berlin vergleichen, ist es noch
schlimmer. In der DDR der frühen 70er Jahre gab es dort kulturelle
Einrichtungen, Gaststätten, Kinos. Wenn man das mit heute vergleicht, ist
es zum Heulen!
taz: Wie genau kam es zu diesem krassen Wandel nach der Wende?
Bernt: Es war alles getragen von einem starken Glauben daran, dass man
möglichst schnell Märkte entfesseln und privatisieren muss. In den
Altbaugebieten kam es zu einer fast vollständigen Privatisierung an
Alteigentümern, aber auch in der Platte wurden die kommunalen und
genossenschaftlichen Unternehmen gezwungen, 15 Prozent zu verkaufen.
taz: Weil man das westdeutsche Modell kopieren wollte?
Bernt: Bei vielen Planer*innen und Politiker*innen gibt es bis
heute eine Fremdheit mit den ostdeutschen Kontextbedingungen. Man hat
einfach gehofft, dass sich die Wohnverhältnisse möglichst schnell
angleichen. Deswegen war zum Beispiel die Förderung des Eigenheimbaus auf
der grünen Wiese am Anfang überhaupt nicht umstritten. Das
Reihenhausmodell, was man auch aus dem Rhein-Main-Gebiet oder aus dem
Umland von Hamburg kennt, wurde einfach nach Ostdeutschland kopiert.
taz: Können Sie das an einem Beispiel erklären?
Bernt: Halle-Neustadt wurde vor allem für Chemiearbeiter*innen
geschaffen. Als die Chemieindustrie dort in den 1990ern zusammenbrach, gab
es einen richtigen Aderlass. Die Bevölkerungszahl ist dort um fast die
Hälfte zurückgegangen: Viele sind arbeitslos geworden, viele junge Menschen
sind weggezogen. In Leipzig-Grünau, im Fritz-Heckert-Gebiet in Chemnitz
oder im Großen Dreesch in Schwerin war das ähnlich. Gleichzeitig – und das
war fatal – gab es dann Subventionen für Neubau auf der grünen Wiese. Man
hat also in einer Situation, wo die Bevölkerung zurückgegangen ist, mit
öffentlichen Mitteln ein massives Überangebot geschaffen. Im Ergebnis wurde
um das Jahr 2000 geschätzt, dass eine Million Wohnungen in Ostdeutschland
leer stehen. Und dann musste man später noch mal öffentliche Mittel in die
Hand nehmen, um dieses Überangebot wieder abzureißen.
taz: Ist der Industrieumbruch in Halle-Neustadt mit dem Ruhrpott
vergleichbar?
Bernt: Eine Krise von Altindustrien gibt es in allen möglichen Regionen. Da
unterscheidet sich der Ruhrpott strukturell nicht von Ostdeutschland,
Nordengland oder vom Rust Belt in den USA. Aber in Ostdeutschland ging die
Krise sehr schnell vonstatten. Innerhalb von einem halben Jahr ist die
Industrieproduktion um 80 Prozent eingebrochen: Wir reden hier nicht über
einen Strukturwandel, sondern einen Strukturabbruch. Durch die
Währungsunion ist im Prinzip die ostdeutsche Industrie pulverisiert worden.
taz: Und wie kam es dazu, dass die eher verkommenen Innenstädte so teuer
wurden?
Bernt: Es ist im Einigungsvertrag festgelegt worden, dass Immobilien in der
DDR, die in der Nazizeit enteignet wurden, an ihre Alteigentümer
zurückgegeben werden müssen. Es hat ein paar Jahre gedauert, bis Ende der
1990er Jahre diese Restitutionsfragen geklärt waren. Aber dieser Prozess
führte dann fast immer zum schnellen Verkauf an profitorientierte
Eigentümer. In der Folge wurde in den Innenstädten schnell, aber auch sehr
umfassend saniert. Das wiederum hat viele einkommensschwache Haushalte
verdrängt. In den Plattenbauten hingegen hat sich ein anderes Modell für
Investoren durchgesetzt.
taz: Welches?
Bernt: Die Kaufpreise waren damals sehr günstig. In Halle wird von 60 Euro
pro Quadratmeter in jedem Plattenbau berichtet. Das ist fast nichts, und
die Zinsen waren historisch niedrig. Das Modell – relativ niedrige Mieten
bei sehr niedrigen Instandsetzungsleistungen und wenig Service – hat so gut
funktioniert, dass große Bestände aufgekauft wurden. Wir sind in unserer
Forschung in Halle sogar auf eine internationale Investmentgesellschaft
gestoßen, die für saudi-arabische Banken schariakonforme Investments
verlegt. Sie versprechen zum Beispiel für fünf Jahre 7 Prozent Rendite –
und die Grundlage dafür sind die Mietzahlungen von einkommensschwachen
Haushalten in Halle.
taz: Welche Rolle spielt die soziale Spaltung in den ostdeutschen Städten
für den Erfolg der AfD?
Bernt: Wenn man in ostdeutsche Städte guckt, spiegelt sich die Segregation
sehr deutlich in Wahlerfolgen oder Misserfolgen unterschiedlicher Parteien
wider. Die Grünen werden höchstens in teuren Innenstadtvierteln gewählt.
Die Großwohnsiedlungen waren früher Hochburgen der PDS, heute wird dort AfD
gewählt.
taz: Was hat das mit Wohnen zu tun?
Bernt: Viele ältere ostdeutsche Haushalte schildern in Forschungsinterviews
die Abwertung des gesamten Viertels nach der Wende und die Erfahrung von
Arbeitslosigkeit als dramatisch. Plötzlich kommt ein Eigentümer, der
einfach die Miete erhöhen kann. Oder sie bekommen eine
Eigenbedarfskündigung. Das ist für Leute, die quasi ein eigentümerähnliches
Verhältnis zu ihrer Wohnung hatten, eine traumatische Erfahrung. Sie
verbuchen das als umfassende Diskriminierung, die nicht gesehen und
verstanden wird. Einige beschweren sich, dass jetzt „auch noch die ganzen
Ausländer herkommen“. Dieses Narrativ, „Die kriegen alles und arbeiten
nicht“, verfängt dort auch stärker, denn dort leben auch viele Geflüchtete,
die nicht arbeiten dürfen. Das ist anders als bei der
„Gastarbeitermigration“ im Westen. Dazu kommt, dass in diesen Vierteln 10
bis 30 Prozent der Leute gar nicht wählen dürfen, also auch kein
politisches Gegengewicht bilden könnten.
taz: Wie können die Plattenbauviertel wieder aufgewertet werden?
Bernt: Der Staat muss in benachteiligte Stadtviertel verstärkt investieren
und für eine bessere soziale und kulturelle Infrastruktur sorgen. Schulen
in Problemgebieten brauchen nicht nur dieselbe Anzahl an Lehrer*innen,
sondern mehr und bessere. Wir nennen das städtischen Nachteilsausgleich.
Wichtig ist: Das sollte kein Sonderprogramm, sondern eine Regelfinanzierung
sein.
28 Aug 2024
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## AUTOREN
Jasmin Kalarickal
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