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# taz.de -- Der dreckigste Ort Berlins: Die Zumutung der Großstadt
> Wo Berlin denn am dreckigsten sei, wird gern gefragt. Die Antwort auf
> diese Frage ist einfach. Ein Besuch im Aufzug des U-Bahnhofs Hallesches
> Tor.
Bild: Aufzugfahren mit strengem Geruch
Berlin taz | Es stimmt ja schon, was einer von diesen französischen
Soziologen mal sagte: Kinderkriegen ist und bleibt ein Kampfsport. Eine
Erkenntnis, die einen Typus junger Eltern heftiger ergreift, auf die nun
eine weitere Sentenz zutrifft: Du kriegst den Jungen aus dem Dorf, aber
nicht das Dorf aus dem Jungen. Aber genug mit den Weisheiten.
Denn denkt man sich als kinderloses Subjekt vielleicht noch, dass eine
Stadt wie Berlin schon in Ordnung sei, so wie sie eben ist, merkt man mit
einem Zweieinhalbjährigen im Kinderwagen vor sich oder auf der Schaukel
neben sich oder irgendwo im Sand, dass man als Dorfkind nicht wirklich
darauf vorbereitet war, die magischen Worte auszusprechen: „Bitte spiel
nicht da vorne. Da scheißen immer die Leute in den Busch.“
Dass Stadt irgendwie Zentralität und damit Verdichtung von Gesellschaft
bedeutet, kann man in einem beliebigen Proseminar aufschnappen. Dass mit
dieser Verdichtung aber auch Verdichtung menschlicher Ausscheidungen in
verschiedenen Aggregatzuständen gemeint ist, erfährt man gerade dort, wo
man ein Kind hindurchschieben muss.
## Halt der Geruch von Urbanität
Besonders eindrücklich wird diese Erfahrung, wo es nicht mehr nur um den
Geruch geht. Und noch einmal schwieriger wird der Umgang mit diesem Aspekt
von, na ja, nennen wir es mal Urbanität in den Räumen des Alltags, denen
man nur schwer ausweichen kann.
Wie zum Beispiel dem wohl dreckigsten Ort Berlins: dem Aufzug an der
U-Bahn-Haltestelle Hallesches Tor.
Es handelt sich hierbei um einen Ort, den wirklich nur derjenige betritt,
der überhaupt keine andere Wahl hat. Wer den Kinderwagen also nicht mit
krummem Rücken und entwürdigendem Watschelgang die Treppen
hinunterbugsieren möchte, der steht, um zur U1 oder von ihr wegzukommen,
nun vor jener Glastür, hinter der ihn auf geschätzten drei Quadratmetern
der konzentrierte Dreck der Stadt erwartet. Neben sich hat man hier nur
Einkaufstouristen, die es einfach nicht besser wissen. Hey, ich glaube, wir
sind nicht mehr in Kansas.
## Immer wieder die Hoffnung
Es muss ja irgendwann eine Reinigung stattfinden, denkt man sich jedes Mal
aufs Neue. Doch keine Reinigungsleistung dieser Welt kommt gegen den
Ammoniakgeruch an, der diesen Raum einfach jedes Mal beherrscht und
regelmäßigen Fahrstuhlnutzerinnen die Frage aufnötigt, wie viele Menschen
in der letzten Nacht wohl in diese Kabine uriniert haben.
Zu den weiteren Fragen, die sich aus einer Fahrstuhlfahrt an dieser
Haltestelle der Berliner Verkehrsbetriebe ergeben, zählen unter anderem:
Wäre man, so mentalitätsmäßig, nicht doch besser vielleicht in
Völksen-Eldagsen aufgehoben, wenn einem schon ein wenig Pissedunst
offenkundig zu viel ist? Hatten die Situationisten nicht damals was Kluges
über spontane Akte des Vandalismus geschrieben? Und wie halte ich mein Kind
nun davon ab, die Tasten für „Tür schließen“ und „Nach unten“ zu dr�…
Denn so stark der Wunsch, das Kind möge sich eigenständig und selbstwirksam
mit den Technologien des Alltags auseinandersetzen, auch sein mag – er
verblasst angesichts des Wunschs, das Kind möge vielleicht nicht genau
jetzt in getrockneten Urin greifen und sich anschließend an der Nase
kratzen.
## Ein Abenteuer des Alltags
So wird jeder Besuch dieses Raums zu einem Abenteuer, zu der Sorte
Abenteuer, über die es wirklich zu schreiben lohnt: einem Abenteuer des
Alltags. Und jedes Abenteuer beinhaltet seine eigene Lektion.
Ja, wie gerne würde man zu den Eltern gehören, die sich ganz carefree durch
die Stadt bewegen, ihre Nachkommen ohne Rüge die Haltegriffe auch in der
Ringbahn ablecken lassen. Doch an diesem dreckigsten Ort Berlins erfährt
man im Aufzugfahren eben auch, wer man ist, woher man kommt. Das kann
ernüchternd sein oder auch befreiend. Das eigene Verhältnis zu den
Ausscheidungen der Nachbarn im weitesten Sinne neu zu bestimmen, kann auch
etwas Therapeutisches haben.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat doch ein paar Seiten über den Ekel
geschrieben und warum wir uns eben gerade vor den Fäkalien besonders ekeln.
Es ist halt etwas Totes, beziehungsweise etwas beinahe Totes, das wir da
riechen. Jedenfalls zeitigt das Stehen im Dunst der letzten Nacht nicht nur
diese Erkenntnis, sondern auch die eine oder andere über die Stadt, in der
sich dieser Fahrstuhl befindet. Oder über Städte im Allgemeinen.
Wie wäre es denn zum Beispiel mit dieser Arbeitsdefinition: Stadt ist dort,
wo man sich mit der Scheiße der anderen auseinandersetzen muss.
20 Aug 2024
## AUTOREN
Philipp Böhm
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